Das ‚Friedensgutachten‘ 2024 (transcript – Verlag), das seit 1987 von Wissenschaftler/innen deutscher Konflikt- und Friedensforschungsinstitute herausgegeben wird, bezeichnet das Jahr 2023 als ein negatives Jahr. 2023 gab es mehr Gewaltkonflikte als je zuvor. Auch die weltweiten Rüstungsausgaben haben einen Höchststand erreicht. Zudem war es das wärmste Jahr, seitdem es Wetteraufzeichnungen gibt.
In den Medien dominierten seit 2022 der Bezug zu den Kriegen in der Ukraine und im Nahen Ost. Abseits dieses überwältigenden Fokus spielten sich jedoch mehr als die Hälfte der Gewaltkonflikte in Afrika ab. Positiv zu vermeldende Friedensbemühungen gibt es kaum, deshalb spricht das Friedensgutachten von einer „Welt ohne Kompass“.
Die Konferenz auf dem Bürgenstock auf Initiative von Selenski und Jermak sollte ein Anfang werden auf dem Weg zum Frieden. Ein Anfang zumindest dafür, Friedensverhandlungen überhaupt wieder denkbar erscheinen zu lassen in einer Zeit des Krieges, des Vorkrieges und eines neuen weltweiten Kalten Krieges um eine neue Weltordnung, welche die zivilen Kräfte absorbieren.
Die Bürgenstockkonferenz war ein Prüfstein: wer steht (zur Zeit) wo in diesem Kampf um die Weltordnung – auf der real-materiellen Ebene wie auf der Deutungsebene. Wer hält sich welche Optionen offen und wer legt sich fest. Damit ist dann in der Folge realpolitisch zu rechnen.
Es gibt schon Anlass zur Sorge, wenn Länder, die in der Uno sind, völkerrechtliche Minimalstandards der UN-Charta nicht mehr anerkennen. Das abschließende Bürgenstock-Communiqué wurde vom Großteil der 93 Staaten unterschrieben: nämlich von 78 Staaten und 4 internationalen Organisationen. 15 teilnehmende Staaten haben zuletzt nicht unterzeichnet. Das ist aufschlussreich und bedenkenswert.
Communiqué on a Peace Framework
Die Erklärung beginnt mit der Erinnerung an die UN-Charta, an den Verzicht auf Gewalt und deren Androhung. Die Prinzipien der Souveränität, Unabhängigkeit und territorialen Integrität sollen beachtet werden. Das schließt die Ukraine ein, welche diesbezüglich keine Kompromisse eingehen will. Das Einstehen für das Völkerrecht steht im Zentrum.
Des weiteren enthält die Erklärung
– eine Verurteilung von Drohungen mit Atomwaffen,
– den Schutz des AKW Saporischja,
– ungehinderte Getreideexporte aus der Ukraine,
– freie und sichere Handelsschifffahrt,
– Zugang zu den Häfen im Schwarzen und Asowschen Meer,
– den Austausch von Kriegsgefangenen sowie
– die Rückkehr verschleppter Kinder.
Gehen wir die einzelnen Länder, welche das Schlussdokument am 16. Juni nicht unterzeichnet haben, in alphabetischer Reihenfolge durch (ich folge watson.ch/best-of-watson):
Armenien
war lange mit der Schutzmacht Russland verbunden. Seit dem Krieg mit Aserbeidschan distanziert sich das Land zunehmend von Russland. Trotzdem bleibt Armenien distanziert von der Ukraine, weil es selber in einem völkerrechtlichen Konflikt ist.
Bahrain
Das sunnitische Königreich mit schiitischer Bevölkerungsmehrheit scheint sich der
Republik Iran anzunähern, obwohl es einen US-Stützpunkt beherbergt. Iran wiederum gehört zu den engsten Verbündeten Russlands und zählt zur ideologisch schärfsten Achse gegen den Westen/USA zusammen mit China und Nordkorea.
Brasilien
zählt zur Gruppe der BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika), welche die Beziehungen untereinander stärken wollen. Siehe auch den Blog Der Kampf um eine neue Weltordnung 28. August 2023.
‚Heiliger Stuhl’/ Vatikanstaat
Der lateinamerikanische Papst Franziskus setzt auf Neutralität in der Hoffnung, so Einfluss auf Russland nehmen zu können. Der Unterschied zum polnischen Papst Woytila könnte realpolitisch nicht größer sein.
Indien
gehört zu den BRICS-Staaten, die mit Kritik an Russland zurückhalten.
Indonesien
Das Land, das auch russische Waffen kauft, ist offiziell neutral. Es hat einen Friedensplan lanciert, der von der Ukraine und der EU abgelehnt worden ist.
Irak
Jordanien
Kolumbien
Der neue linke Präsident Petro (seit August 2022) war nicht Teilnehmer der Friedenskonferenz und lehnt Waffenlieferungen an die Ukraine ab.
Libyen
Russland unterstützt mit Waffen die Regierung im Osten und will sich militärisch fortan weiter einrichten.
Mexiko
Der linke Präsident Obrador hat die US-Waffenlieferungen an die Ukraine kritisiert. Er will Russland in die Friedensverhandlungen einbeziehen.
Saudi-Arabien
Das sunnitische Königreich sieht sich als neutral und will selber eine Friedenskonferenz ausrichten.
Südafrika
gehört seit 2011 zu den BRICS-Staaten und legt Wert auf seine starken Beziehungen zu Russland.
Thailand
trägt die westlichen Sanktionen gegen Russland nicht mit und ist ein beliebtes Touristenziel für Russen.
Vereinigte Arabische Emirate
gehören seit 2023 zur Gruppe der BRICS Plus.
Was lässt sich daraus ablesen?
Ein Bündnis hielt zusammen, das oft als lose und politisch schwach ( weil nicht einheitlich) eingeschätzte Bündnis der BRICS-Staaten, das von China und Russland dominiert wird. Nur weil man die strategische Partnerschaft zwischen Russland und China unterschätzt beziehungsweise falsch beschreibt mit einem übertrieben schwachen Russland und einem übertrieben starken China sollte man nicht das gezielt aufstrebende Bündnis übersehen.
Es agiert ebenso wirtschaftlich, politisch wie militärisch.
Diesem Block schlossen sich mehrere Schwellenländer an.
Auffällig ist außerdem der Block der arabischen Welt.
Saudi-Arabien verweigerte ebenfalls die Unterschrift wie Irak, Libyen, Jordanien, Bahrain und die Vereinigten Arabischen Emirate. Lediglich Katar unterzeichnete.
Die Türkei wiederum, die sich selbst als Vermittler ins Gespräch bringt, und einen ‚ realistischen‘ Friedensplan vorgelegt hat, siehe dazu den Blog Weltpolitik auf dem Bürgenstock vom 15. April,
hat die Schlussdeklaration unterzeichnet. Ist sie also weiterhin auf dem Weg des Friedens?
Die Türkei ist historisch und aktuell ein Rivale Russlands. Die Unterstützung Aserbaidschans gegen Armenien hat die Ohnmacht der Schutzmacht Russlands offenbart. Herrin des Schwarzen Meeres ist die Türkei und seine Flotte, nicht Russland. Und die Idee einer Union der Turkvölker fördert die Zersetzung der russischen Hegemonie in Zentralasien.
Vor Erdogan als realem Vermittler muss sich Putin fürchten. Die Türkei verfügt über Hebel und Mittel, ähnlich wie China, zumal es von der Schwächung des russischen Imperialismus in Zentralasien und im Kaukasus profitieren würde.
Auffällig wie BRICS, die arabische Welt und die Türkei ist weiterhin das Verhalten der lateinamerikanischen Länder. Sie waren mit ihren Vertretern stark präsent auf dem Bürgenstock.
Interessanterweise gibt es hier aus historischen wie aktuellen Gründen eine Rechts-Links-Spaltung der Präsidenten. Ressentiments gegen die Amerikaner und der Kalte Krieg wirken nach.
Dass der 38-jährige chilenische Präsident Gabriel Boric (seit März 2022 im Amt) einer neuen Generation der Linken angehört, unterstrich er mit dem wahren Satz, dass es bei der Ukraine nicht um Rechts oder Links gehe, sondern um die Respektierung des Völkerrechts.
In Südamerika ist nun Argentinien mit seinem radikallibertären Präsidenten Javier Milei zum Gegenspieler Brasiliens geworden und zum Hauptverbündeten des Westens.
Auch in Südostasien spielt die geographische Entfernung eine große Rolle, dass der Ukraine-Krieg nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht. Indonesien und Thailand sind wieder Fälle für sich. In beiden Ländern ist China ein gewichtiger wirtschaftlicher Faktor, gleichzeitig ist ihnen an guten Beziehungen zu den USA gelegen. Sie sind sozusagen die ‚Blockfreien‘ von heute wie ehemals Jugoslawien und Indien. Der Schatten Chinas ist groß.
Putin, der ebenfalls Verbündete in Asien sucht, reist am 20. Juni von Pjöngjang, wo er einen Beistandspakt mit Kim schließt, nach Hanoi, dessen kommunistische Führung eine neutrale Haltung zum Ukraine-Krieg einnimmt.
Man spricht im widerstandsfähigen Vietnam von einer biegsamen ‚Bambusdiplomatie‘ zwischen China, USA und Russland. Auch hier spielen historische Prägungen und Verpflichtungen immer noch eine Rolle, obwohl ebenso die Gegenwart mit ihren Interessen eine überwältigende pragmatische und opportunistische Dynamik entfaltet. Gegenwart geht nicht in Geschichte auf
Beides ist zu beachten, wenn wir realistisch sein wollen: die Wirtschaftsdaten, Produktionszahlen, Investitionen, Waffen von heute und die historischen Erfahrungen von gestern, welche Vorurteile, Ressentiments und Hass begründen.
Realismus und Illusionen
Auf dem Forum der Bürgenstockkonferenz trafen somit diplomatische Initiativen und geopolitische Realitäten aufeinander. Das ist heilsam für den heutigen Weg zu einem emphatischen Frieden, der in weiter Ferne steht. Realistische Kompromisse, für die es noch weitere vorbereitende Zwischenschritte braucht, und nachhaltiger gerechter Frieden sind nicht dasselbe.
Kompromisse bietet auch Putin an, während mit unverminderter Intensität die Entscheidung auf dem Schlachtfeld gesucht wird. Viele Kriege enden mit Verhandlungen, andere mit Sieg oder Niederlage. Waffenstillstand ist noch kein Friede. Der Ukraine-Krieg kann sich noch lange hinziehen, während das globale Kräftemessen zwischen dem Westen und dem Osten (Russland, China) sich steigert. Beides greift eskalierend ineinander.
Der Begriff der multipolaren Ordnung, der Pluralismus suggeriert, ist ein Euphemismus. In Wirklichkeit kennen Russland und China nur das Recht des Stärkeren. Ihr ‚Frieden‘ wird danach aussehen. Wie kann man Frieden herbeiführen?
Gute Gesetze und Macht sichern den Frieden, der keine politische Utopie ist. So lautet das altrömische Rezept. Die Sowjetunion und Russland haben beides nicht wirklich geschafft. Jedenfalls nicht außerhalb ihres asiatischen Einflussrestes der „asiatischen Despotie“ (Marx/Engels). ‚Eurasien‘ heißt nicht zufällig das neue Herrschaftskonzept (Dugin). Diejenigen, die nach nationaler Unabhängigkeit streben, bekommen die barbarische Macht zu spüren, auch die „ukrainischen Brüder“.
Recht ohne Macht kann sich keine Geltung verschaffen. Die Staaten, die jetzt noch an der Seite Putins warten, müssen glauben, dass dieses Regime am Ende verliert. Nur das wird sie überzeugen.
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