Glauben ist ein einfaches schwieriges Wort. Dabei geht es nicht allein um den religiösen Glauben im Sinne einer Konfessionszugehörigkeit (katholisch, evangelisch, jüdisch, muslimisch u.v.a.), es geht auch nicht um das große Thema des Verhältnisses von Religion und Politik. Wenn wir hier von Glauben sprechen, so ist damit eine eher stille innere geistige Tätigkeit von Bürgerinnen und Bürgern in ihrer großen Vielzahl angesprochen neben Meinen, Wissen, Urteilen und Entscheiden.
Letztere werden als Meinungsmacher, Experten und Entscheider oft (auffällig auch immer dieselben) thematisiert und diskutiert in der allgegenwärtigen Mediengesellschaft. Unsichtbarer bleibt hingegen der Glaube der Bürger in und für die Politik, und zwar nicht nur der religiöse Glaube im engeren Sinne oder der institutionalisierte Glauben, sondern der Glaube im weiteren Sinne von handlungswirksamen Annahmen neben Meinen und Wissen, die nicht aufdringlich sind. Hier gibt es eine grosse Lücke sozusagen im Hintergrund, die heute durch die inflationäre Rede vom politischen Vertrauen gefüllt wird.
Es wird viel, vielleicht zu viel – geradezu vertrauensselig – vertraut, aber was wird noch geglaubt? Die Demokratie als Institution braucht keinen Glauben wie die Kirche, vielmehr sind es die Bürgerinnen und Bürger als handelnde Subjekte, die einen Glauben haben. Dieser Bürgerglaube ist meist nicht so extravertiert und explizit wie die meinungsfreudige Meinung, die sich heute im Internet schleusenfrei äussern kann. Die moderne ‚doxa‘ übertönt auch das Wissen, beide sind abfragbar, der unsichere und ungesicherte Glaube nicht, der oft zweifelt und mit sich hadert.
Glaube, obwohl er eine starke Stütze sein kann, lässt sich auch nicht voluntaristisch durch den Willen substituieren, der Bürgerglaube ohnehin nicht. Er ist den Voluntaristen, Aktivisten und Fanatikern vielmehr zu bürgerlich und auf eine triviale Weise zu demokratisch. Soviel zum Glauben im Allgemeinen, beginnen wir aber mit dem religiös inspirierten Glauben im besonderen, bevor wir uns zum Schluss noch einmal auf das weite Feld des Bürgerglaubens begeben.
Für den Bertelsmann-Religionsmonitor 2013 wurden 14 000 Personen in 13 Ländern, zwischen denen es grosse Unterschiede gibt, befragt. Die Religion hat eine grössere und wachsende Bedeutung in Nord- und Südamerika sowie in Indien und der Türkei als in Europa, das unser Fokus ist. Zwei verschiedene Paradigmen religionspolitischer Aufklärung (Frankreich und USA) werden ebenfalls eine Rolle spielen. Aufgrund der Studie über „Religiosität und Zusammenhalt“ (Pollack/Müller 2013) kann man für Länder wie Deutschland die Rolle der Religion für den gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht überschätzen. Sie spielt eine Rolle, aber keine konstitutive, vielmehr sind verschiedene Ebenen oder Gesichtspunkte genauer zu spezifizieren:
- religiöser Glaube, Vielfalt und Toleranz
- gesellschaftlicher Zusammenhalt
- Verständigungs- und Konfliktpotentiale
- zivilgesellschaftlicher Beitrag (Sozialkapital).
In Ländern, wo diese Unterscheidungen bedeutsam sind für die genauere Aufschlüsselung der gesellschaftlichen und politischen Funktion der Religion ist die Trennung von Religion und Politik ebenso wie die Demokratie als Regierungsform grundsätzlich akzeptiert, was freilich schon ein historisch umkämpfter Riesenschritt ist, der für viele Länder und politische Systeme der Welt alles andere als selbstverständlich ist. Pollack und Müller konstatieren zugleich in modernen entwickelten Gesellschaften einen deutlichen Wertewandel hin zum Hedonismus der jüngeren Generationen.
Eine Rückkehr zur traditionellen Religiosität sehen die Sozialwissenschaftler nicht. Eine beachtliche Konstante bleibt indessen bei den religiös Geprägten der überragende Wert der Hilfsbereitschaft oder Solidarität bei allem Individualismus, der sich sozial und intergenerationell verbreitert. Auch die universale katholische Solidarität unter globalisierten Bedingungen, die Konflikte auf allen Kontinenten ansprechen kann, ist mit diesem Zugewinn individueller Freiheit vereinbar. Sie kann nicht mehr im Ernst die metaphysische Verbundenheit der Menschen gegen das ‚Virus Individualismus‘ ausspielen wie in der Enzyklika „Fratelli tutti“ (Oktober 2020).
Aber die Botschaft von Jesus Christus soll sich dennoch weiter ausbreiten. Die Osteransprache ‚urbi et orbi‘ des Papstes war zugleich der Welttag der geächteten Land- und Personenminen (4. April 2021). Papst Franziskus sprach von Instrumenten des Todes und nannte die anhaltende Aufrüstung skandalös. Er sieht sich an der Seite der Armen und der Kinder, die Leitvorstellungen seines Pontifikats sind Geschwisterlichkeit und Barmherzigkei. Viele Länder sprach Franziskus wohlinformiert als politische Handlungseinheiten direkt und konkret an. Er dankte beispielsweise Jordanien und dem Libanon für die grosszügige Flüchtlingsaufnahme, er verurteilte den Bürgerkrieg in Syrien, Jemen und Libyen; er wünschte sich Jerusalem als Ort der Begegnung und forderte eindringlich einen „Internationalismus der Impfstoffe“.
Religiöse Erziehung geht in Deutschland zurück, die Jüngeren sind weniger religiös als die Älteren, und die Religionsgemeinschaften spielen eine geringere Rolle als Familie, Schule und Freundeskreis. Die religiöse Wertevermittlung durch die Kirchengemeinde und die Familie bricht intergenerationell vielerorts ab. Generell wird der Beitrag der Religion für die Zivilgesellschaft nicht als gross eingeschätzt. Im Vergleich zu Faktoren wie Bildung und sozioökonomischem Status ist der Beitrag zur Bildung von Sozialkapital, mit dem die Zivilgesellschaft konzeptualisiert wird, eher gering, so der empirische Befund. Gering, aber gewichtig, könnte man jedoch aus der Perspektive politischer Theorie ergänzen, und zwar im Sinne zivilgesellschaftlicher Impulse für eine lernfähige Demokratie. Hier zählt auch der Einzelfall als Ausnahmefall, zum Beispiel beim Asyl in der Kirche oder beim zivilen Widerstand gegen Abschiebungen in die Kriegsgebiete von Afghanistan und Syrien.
Bei ethisch-moralischen Fragen liegen Konfliktpotentiale verborgen, die auch in Zukunft politisch relevant bleiben werden. Bei Homosexualität und Sterbehilfe gibt es grosse Differenzen zwischen Christen und Konfessionslosen einerseits und Muslimen andererseits.
Beim Konfliktthema Schwangerschaftsabbruch liegen oft Welten zwischen Katholiken und Muslimen auf der einen Seite, Protestanten und Konfessionslosen auf der anderen Seite. Aber auch innerhalb katholisch geprägter Länder wie Argentinien (selbst gegen den Papst) und in Polen finden geradezu kulturrrevolutionäre Frauenproteste nicht nur gegen die katholisch-konservative Regierungspartei, sondern gegen die Hegemonie der katholischen Kirche insgesamt statt. Mehr liberale Positionen in diesen Fragen finden sich wiederum bei den Ostdeutschen (im Unterschied zu den Westdeutschen) und bei den Konfessionslosen im Unterschied zu den kirchlich gebundenen Gläubigen.
Die Toleranz gegenüber Muslimen ist in Deutschland und Europa ein Problem. Sie leben ihre Religiosität ausgeprägter, offener und öffentlicher als die anderen Religionen, bei denen deren Bedeutung für das Leben zurückgegangen ist, so dass man von einer Privatisierung der Religion spricht. Sie ist dadurch unsichtbarer und zugleich individueller geworden und ihre Gehalte sind, wenn überhaupt noch vorhanden, dünner geworden. Pollack/Müller sprechen in ihrer Studie von grossen Vorbehalten gegenüber dem Islam, was jedoch nicht gleichbedeutend sei mit Skepsis gegenüber Muslimen. Hier besteht zweifellos eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe der Begegnung, Verständigung und Integration.
Allports Kontakthypothese lässt sich auch für Ostdeutschland belegen, wo ausgerechnet in der Elbmetropole Dresden 2014 die Bewegung der ‚ Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes'(Pegida) entstanden ist, die allerdings in anderen Städten nicht Fuss fassen konnte. Auch international fällt zusehends auf, dass der Islam als Bedrohung wahrgenommen wird (z.B. 60% der Spanier, 42% der Amerikaner). Das Problem der religiösen Toleranz ist historisch mithin noch lange nicht erledigt, vielmehr in Europa wieder virulent geworden wie seit dem 17. und 18. Jahrhundert nicht mehr. Die existentiell und politisch aufwühlenden Diskussionen über Möglichkeiten und Grenzen der Toleranz begannen in den Niederlanden seit dem 2. November 2004, der Ermordung des Filmemachers Theo van Gogh auf offener Strasse in Amsterdam, und in Frankreich seit den furchtbaren Terroranschlägen 2015 mitten im urbanen Leben von Paris.
In Frankreich geht die Toleranzvorstellung gegenüber Religionen nicht so weit wie in den USA und Deutschland. Wenn die Nation und die Republik gefeiert werden, so hat dies in der aktuellen Gegenwart keinen inneren Bezug mehr zur Religion. Frankreich wird aber auch vom islamistischen Terrorismus heimgesucht wie kein anderes Land in Europa, was für eine Daueranspannung sorgt. So hat der französische Islamrat nach den entsetzlichen Messerattacken in Paris auf den Lehrer Samuel Paty und in Nizza auf Mitglieder einer Kirchengemeinde neulich eine Grundsatzcharta unterschrieben, die Staatspräsident Macron in seiner Rede gegen den „islamistischen Separatismus“ im Oktober 2020 gefordert hatte. Parallel dazu wird ein Gesetzesentwurf diskutiert “ zur Stärkung des Respekts vor den Prinzipien der Republik“, der weitgehende Massnahmen von seiten des Zentralstaates bzw. der Präfekten vorsieht, bei denen inzwischen alle Religionsgemeinschaften Kollateralschäden für die Religionsfreiheit fürchten, weil sicherheitspolitische Aspekte überwiegen.
Die ‚Charte des principes‘ anerkennt das Laizitätsprinzip (1905) und die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Sie verwirft jegliche politische Instrumentalisierung des Islam und die Einmischung fremder Staaten, etwa bei der Imamausbildung. Im französischen Fall kann man sagen, dass der Staat eine islamische Zivilreligion (neben dem persönlichen Glaubensbekenntnis) durchzusetzen versucht (über die Gesetze und die Schulen), die zum aufgeklärten Verständnis der 5. französischen Republik passt. Genauer müsste man jedoch formulieren, dass der Staat eine republikanische Bürgerreligion in seinem Sinne durchzusetzen versucht: „La Laicité n’est pas la tolérance“ (Kintzler). Die französische Toleranz ist paradox, denn sie fordert von religiösen Minderheiten die Wertschätzung der Urteile einer aufgeklärten Mehrheitskultur, gewährt aber kein Gegenrecht. Damit sind wir bei Rousseaus systematischer Problematik der Zivilreligion in seinem Gesellschaftsvertrag (1762).
Wenige für die damalige Zeit selbstverständlichs (christliche) Grundannahmen für „die Gesinnung eines Miteinander“(sentiments de sociabilité) sollten nämlich die Konstruktion des Gesellschaftsvertrages innerlich zusammenhalten: Existenz einer Gottheit, zukünftiges Leben, das Glück der Gerechten und die Bestrafung der Bösen sowie die Heiligkeit des Gesellschaftsvertrages und der Gesetze. Dazu kommt das Verbot der Intoleranz bzw das Gebot der Toleranz, aus der – wie bei Locke (1689) – Katholiken und Atheisten ausgeschlossen waren, was lange nachwirkte und politische Kulturen bis heute prägt. Auch die liberale Toleranz ist nicht unbegrenzt.
Rousseaus Zivilreligion (religion civile, civil religion) war nicht als Staatsreligion gedacht, weder als katholische, islamische noch orthodoxe Staatsreligion. Diese bürgerliche Religion, genauer: Religion der Bürger war auch nicht Rousseaus persönliches christliches Glaubenbekenntnis. Dieses findet sich vielmehr in den Worten des savoyardische Vikars im grossen Buch über die Erziehung ‚Emile‘ ausgesprochen (1762). Mit diesem Bekenntnis in der Nachfolge von Jesus Christus, dem Anti-Politiker, war jedoch kein widerstandsfähiger Staat weder für den Krieg noch vor allem – so die florentinische Perspektive des Bürgerhumanismus – in der Verteidigung gegen Fremdherrschaft und Besatzung zu machen.
Das wussten die politischen Theoretiker Machiavelli und Rousseau gleichermassen, die Bürger mit ‚virtù/vertu‘ für ihre Politik im Auge hatten. Ebensowenig war im frühen Christentum eine hierarchische katholische Kirche angestrebt, die anstelle des von Jesus erwarteten Gottesreiches dessen Nachfolge antrat, einschließlich des Stellvertreter Gottes, der unfehlbar sein soll. Die klerikale Parallelgesellschaft und die Dogmen der Theologie sind mit der Religion der Bürger, die demokratiekompatibel, bisweilen sogar demokratieverstärkend ist, ebensowenig gemeint wie eine politische Religion mit totalitären Zügen. Zu beidem geht sie auf eigensinnige Distanz und, wenn es darauf ankommt, in die Dissidenz. Folgende analytische Unterscheidungen sind also für unsere Diskussion zu beachten:
- Staatsreligion
- organisierte kirchliche Religion
- persönliches Glaubensbekenntnis
- politische Religion mit totalitären Zügen
- Zivilreligion als Religion der Bürger
Für die Zivilreligion gibt es verschiedene nationale und transnationale Varianten und zwei hauptsächliche historische Modelle: das französische und das amerikanische. Die amerikanische ‚civil religion‘ untersuchte der Religionssoziologe Robert N. Bellah als erster mit ausdrücklichem Bezug auf Rousseau (1967) am Beispiel von John F. Kennedys Inaugurationsrede am 20.Januar 1961, die Hoffnungen auf eine Weltzivilreligion des Friedens und der Armutsbekämpfung weckte. Die amerikanische ‚civil religion‘ hat freilich eine eigene Geschichte mit hellen und dunklen Seiten des ‚awakening‘, die Bellah kritisch mitgeschrieben (The Broken Covenant 1975) und bereichert hat.
Der Präsident mit seiner starken Stellung qua Amt bringt sie zum Ausdruck, ganz aktuell Joe Biden am 20. Januar 2021 nach dem Sturm auf das Capitol, der sogar den für jede Demokratie elementaren friedlichen Machtwechsel in Frage stellte, was Trump schon während des Wahlkampfes ungeniert und offen ankündigte. Selbst minimale Definitionen von Demokratie wie System mit gespaltener Spitze Regierung/Opposition (Luhmann) sind in der politischen Realität nicht garantiert. Dennoch fand das Ritual der Inauguration des 46. Präsidenten (zum ersten Mal in der Geschichte ohne den Vorgänger) friedlich, wenn auch etwas gespenstisch auf dem Capitol statt mit viel unterschiedlicher Religion: das persönliche Glaubensbekenntnis Bidens als zweiter Katholik nach Kennedy wurde ebenso deutlich wie die transkonfessionelle amerikanische Zivilreligion unter Gott, die diverser und inklusiver geworden ist. Es wurde gemeinsam gebetet und getrauert.
Dieser Bürgerglaube ist über die Gläubigen im engeren Sinne hinaus ein Glaube an die Kraft der Demokratie (‚people‘) mit einer historisch bespiellosen Wahlbeteiligung 2020 (popular vote) und an die Selbstheilungskräfte der Nation als egalitäre Einheit über alle Grenzen hinweg trotz der vielen Corona-Toten. Diesen Bürgerglauben an die Demokratie gibt es auch ohne Gott, er ist aber immer verbunden mit einem positiven Selbstbild politischer Zivilisation, das sowohl von Frankreich wie den USA aus in die Welt ausgestrahlt hat. Dieser Bürgerglaube mit oder ohne Gott beinhaltet die universellen Menschenrechte.
Die zwei hauptsächlichen Paradigmen religionspolitischer Aufklärung lassen sich durch einen kurzen Vergleich klarer konturieren (ausführlich Kleger/Müller 1996):
1. Die amerikanische Zivilreligion beruht auf der Überzeugung, dass auf der Basis der institutionellen Trennung von Staat und Kirche Religion und Politik allianzfähig sind. Die französische Bürgerreligion sieht auch bei vollzogener Trennung von Staat und Kirche prinzipielle Gegensätze zwischen Religion und Politik.
2. Die amerikanische Zivilreligion hat ihr Zentrum in der Freiheit. Diese Valorisierung verdankt sich der Erinnerung der Puritaner an ihre Verfolgung in Europa und ihr Gelöbnis, im neuen Land Gott in Freiheit anbeten zu können. Die französische Bürgerreligion hat dagegen ihr Zentrum in der Gleichheit. Die Akzentuierung der natürlichen Gleichheit erfolgte in Absetzung von der ständischen Gesellschaft und speziell von der katholischen Kirche, die soziale und rechtliche Ungleichheiten religiös sanktionierte.
3. Die religiöse Bindung ist in der amerikanischen Zivilreligion kein Hindernis für die religiöse Formierung des Bürgers, im Gegenteil: Biblische Vorstellungen wie die Symbole des Bundes, des neuen Israel oder das Exodus-Motiv erweisen sich als Matrix der Selbstdeutung und fördern zusammen mit dem Experiment ‚Fortschritt‘ die religiös-politische Dynamik des nationalen Sendungsbewusstseins. Dagegen ist die religiöse Bindung für die Konstitution des Bürgers in der französischen Bürgerreligion zu emanzipieren, und zwar durch den Staat und die Schule. Der Staat hat dabei eine ‚morale civique‘ zu entwickeln, wodurch es zu einer sekundären Sakralisierung der Republik und ihrer Einrichtungen kommt.
4. In der amerikanischen Zivilreligion hat die Nation – im Unterschied zu Frankreich – eine kurze Geschichte. Sie ist nicht eigentlich Gegenstand eines Kultes, aber in ihrem Namen wird gestorben. Seit dem Bürgerkrieg sind deshalb die Themen Tod, Opfer und Wiedergeburt integraler Bestandteil der Zivilreligion. In der französischen Bürgerreligion dient die lange Geschichte der Nation als Bindeglied zwischen dem republikanisch- laizistischen Staat und den christlichen Komponenten des kulturellen Gedächtnisses der französischen Gesellschaft.
5. Demokratie, Republik und Nation sind zu unterscheiden. Man darf Demokratie und Republik nicht kurzschließen, das gilt für Amerika wie Frankreich. In beiden Staaten hat der Präsident eine starke, geradezu überragende Stellung, weshalb man von präsidentieller Demokratie spricht. Sieht man das Verhältnis von Demokratie und Republik anders, verschiebt sich auch das Verhältnis zur Toleranz.
6. Die enge Bindung der amerikanischen Zivilreligion an das christliche Weltbild führt in Bedrohungszeiten dazu, die politische Sprache mit manichäischen und apokalyptischen Vorstellungen zu durchsetzen. Die französische Bürgerreligion wiederum erbt vom zu überwindenden Modell die autoritativen Züge und ist auf uniformen Konsens gestimmt, womit wir wieder bei den aktuellen Konflikten sind.
Man kann auch sagen, die Zivilreligion fingiert rhetorisch und symbolisch eine Einheit, wo buchstäblich keine Einheit ist oder sein kann. Die transkonfessionelle Zivilreligion hat mit ihrem Glauben, ihren Symbolen und Ritualen zweifellos religiöse Konnotationen mit freilich unterschiedlichen Hintergründen und Traditionen, die nicht immer bewusst und gegenwärtig sind. In Krisensituationen wie einer Pandemie werden sie reaktiviert. Bürgerglaube lässt sich aber auch von Religion ablösen, er wird dann noch schwerer fassbar, weil subjektiver, heterogener und individueller. Emotionen und Identifikationen spielen dabei eine Hauptrolle.
Ob auch die liberale Demokratie aus affektpolitischen Gründen eines nicht-kirchlichen transkonfessionellen Bürgerglaubens bedarf, ist die Frage. Man kann Zivilreligion, alle Varianten übergreifend, als ‚missing link‘ (Spaemann) zwischen natürlich-subjektiver Existenz und politisch- bürgerschaftlicher Existenz, genauer: Koexistenz, begreifen. Lässt sich dann, Zivilreligion heute, selbstredend von lokalen und regionalen Ausgangspunkten ausgehend, als Weltzivilreligion, Weltethos oder als Politik der Menschenrechte, die komplementäre Projekte sind, konkret weiter ausbuchstabieren? Der Bezug auf die Welt schließt einen geteilten aufgeklärten Patriotismus nicht aus, sondern ein, was freilich mehr ein Problem für Deutschland als für andere Nationen ist. Jedenfalls gibt es zahlreiche Möglichkeiten und Wege, auch als Lokalpatrioten produktive Weltbürger zu werden.
Die Redeweisen von Zivilreligion und Bürgerglaube lassen sich definitorisch nicht streng begrenzen. Eine Emendation der Bedeutungen ist nicht zu verhindern. Inhaltlich angefüllte Verwendungen im Rahmen bestimmter politischer Systeme und Traditionen existieren neben mehr metaphorischen Verwendungen. Mit letzteren ist immer ein nicht mehr weiter begründbarer Glaube als letzte Rückbindung (re-ligio, Ligatur) gemeint wie Zivilreligion der Verfassung, der Gleichheit oder der Freiheit. Luhmann sprach in diesem Zusammenhang treffend von „Grundwerten als Zivilreligion“. Bei den begrifflichen Klärungsversuchen ist auf diese Vielfalt von religiös begründetem Glauben, Zivilreligion und Bürgerglaube zu achten. Sie spielen jeweils eine spezifische Rolle nicht nur für die Politik, sondern auch für die Einzelnen.
Beim scheinbar einfachen Wort ‚Glauben‘ ohne religiösen Bezug wird es unübersichtlich. In einem ersten Schritt können hier Wörterbücher weiterhelfen, die versuchen entlang der Wortgeschichte den Begriffen und damit dem Begreifen näher zu kommen – Philosophie als Begriffsgeschichte, denn Philosophie hat es primär mit Begriffen und nicht mit Fakten zu tun.
Als erstes muss man dann das ‚Historische Wörterbuch der Philosophie‘, den legendären ‚Ritter‘, zur Hand nehmen, obwohl das Stichwort ‚Glaube‘ stark theologisch ausgerichtet ist (Band 3). Die verschiedenen Bedeutungen bei den Griechen und Römern, die genauso ihre Wirkungsgeschichte haben, werden referiert im ‚Reallexikon für Antike und Christentum‘ (RAC).
Ergiebig sind die Stichworte ‚Fides‘ (Band 7), ‚Fiducia‘ (Band 7) und ‚Glaube‘ (Band 11). Fiducia bedeutet neben Vertrauen auch Zuverlässigkeit, Pfand und Mut. Noch ergiebiger ist der Artikel ‚Fides und Fiducia‘ im ’neuen Pauly‘, Lexikon der Antike (Online). Bemerkenswert sind die frühen Bezüge von Glaube zu Recht und nicht zur Religion. Im Judentum besteht zudem ein starker positiver Zusammenhang zwischen Glaube und Gesetz, der sich für den Bürgerglauben säkularisieren ließe im Sinne von Gesetzestreue als bürgerliche Tugend und kritischer Loyalität.
Es gibt mehrere Glaubensweisen rund um den Globus und quer durch Deutschland, und beim Glauben sollten nicht immer nur die Gläubigen und die Eliten zu Wort kommen. Der Mensch ist anthropologisch ein trostbedürftiges Wesen (Blumenberg), und er hat eine innere Welt, die ihm keine Macht nehmen kann. Auch die ‚Konfessionslosen‘ (in Potsdam 80%) und ‚atheistischen Humanisten‘ glauben an vieles. Sie suchen ebenso nach einem Sinn des Daseins und benötigen Zuversicht und Orientierung in unseren schnellen Modernisierungs-Zeiten der Verunsicherung, die alle, wenn auch nicht alle gleichermaßen betreffen. Traditionen werden dabei durch die Illusion der raschen und flexiblen Lernfähigkeit ersetzt.
An was kann man noch glauben? An ebene Ideen, Märkte (VW oder Tesla? Bitcoin oder Euro?) und Ereignisse statt Ideen? Eventartige Ereignishaftigkeit ohne Langfristigkeit und verbindliche Traditionsbildung hält uns in Bann. Alles muss noch schneller werden, nicht nur beim Testen und Impfen, sagen Leute, die außer Atem sind, und alles noch effizienter und besser, dozieren Musterschüler von oben herab, welche dem kurzfristigen Optimierungszwang unterliegen. Positives Denken ist jedoch eher Psychologie als Denken. Neue Wissenschaftstrends und Expertenkonflikte dominieren zudem die Diskussionen über künstliche Intelligenz, Digitalisierung, Bitcoin und Blockchain, Crispr Cas 9, green GMO, Pandemien, Klimawandel, Schulden, Geld und Inflation.
Von einem einzigen und einheitlichen Bürgerglauben kann keine Rede sein. Die politisch zentrale Frage ist, wieviel Differenz die Demokratie aushält – Existenz und Koexistenz. Sehr viel, solange moralisch und religiös aufgeladene politische Polarisierungen diese nicht zerstören. Die verschiedenen Glaubensweisen, religiös und nicht-religiös, benötigen eine große Schnittmenge, damit Demokratie funktioniert. Bürger und gewaltbereite Fanatiker schließen sich aus, sowohl innerhalb wie außerhalb der Religionen, was nicht heißt, dass Religionen per se nur versöhnen und verzeihen. Das wäre ein Missverständnis. Ihr Verhältnis zur Gewalt ist noch immer ein großes Thema im Großen, weltpolitisch, wie im Kleinen aufgrund der zahlreichen Missbrauchsfälle. Kein ‚Weltparlament der Religionen‘ (Küng) könnte dies sogleich ausräumen. Die Gläubigen in ihrer großen Mehrzahl dürfen aber die gewalttätige Instrumentalisierung der Religion nicht zulassen und müssen sich gegen Fundamentalismus und den Fanatismus der reinen Lehre immunisieren. Deshalb ist die Brücke zum Bürgerglauben von allen Seiten aus wichtig. Eine ökumenische Bürgerreligion der Menschenrechte liefert dafür die Pfeiler.
Diesbezüglich hat die jüngste mutige Reise des Papstes in den kriegsversehrten Irak, in dem einst der ‚Islamische Staat ‚(IS) dem Westen den Krieg erklärte und von Mosul aus 2014 mit der Eroberung Roms drohte, große Symbolkraft entfaltet, insbesondere die Begegnung mit Ali Sistani, dem einflussreichsten Geistlichen der 200 Millionen Schiiten in Najaf.
Die Barbarei hat diese Wiege der Zivilisation, wo Abraham in Ur, einer der ältesten Städte der Welt, geboren wurde, heimgesucht und viele Tausend Muslime, Christen und Jesiden das Leben gekostet. Doch: „Brüderlichkeit ist stärker als Brudermord, Hoffnung stärker als Hass, Frieden stärker als Krieg“, so lautet die interreligiöse Botschaft des Friedens, die Franziskus überbringt und womit er Mut machen will.
Nicht Differenzen als solche und der bisweilen heftige politische Parteienstreit zerstören die zivile demokratische Auseinandersetzung. Gerade dadurch – durch Anfechtung – wird sie am Leben erhalten und bleibt lernfähig, solange zuhören und argumentieren sowie die Möglichkeit von Kompromissen die Oberhand behalten. Die Koexistenzfähigkeit durch institutionelle Regeln und moralisch-politische Tugenden bleibt das Entscheidende, sie dürfen nicht verloren gehen, um keinen Preis.
Bild von James Henry auf Pixabay