Weiter Krieg statt politische Reaktionen

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„Der Krieg in der Ukraine befindet sich in einer neuen Phase“, verkündet Selenski am 1. Dezember. Gleichzeitig ist die siebentägige Feuerpause zwischen Israel und der Hamas abgelaufen, und der Krieg läuft nahtlos weiter.

Es „sprechen“ wieder die Waffen, während Ägypten und Katar (sowie USA und Israel) im Hintergrund weiter „vermitteln“. Israel führt seinen Verteidigungskrieg offensiv mit der Flugwaffe und Bodentruppen mit 200 Zielen täglich. Besonders im Süden des Gazastreifens ist das schwierig und problematisch, wo man das Hauptquartier der Hamas vermutet.

Militärisches Ziel ist nach wie vor die komplette Zerschlagung der Hamas. Wo sind dann die Zivilisten im Gazastreifen noch sicher? Die nächsten humanitären Katastrophen bahnen sich an, während Israel einer „echten humanitären Feuerpause“, sprich Waffenstillstand, den die Hamas fordert, aus militärischen Selbstbehauptungsgründen eine klare Absage erteilt, auch vor dem Weltsicherheitsrat. 

Dies führt international nicht zu mehr Freunden, selbst am Weltklimagipfel in Dubai nicht, der zur selben Zeit stattfindet. Auch er wird von den geopolitischen Spannungen überlagert. Schon Guterres hat sich gegen Israel ausgesprochen, aber auch europäische Länder wie Spanien, Belgien, Irland und die EU äußern nicht die Solidarität mit dem kämpfenden Israel, die sich das Land wünscht.

Bei der Inszenierung der Freilassung der Geiseln wollten die Terroristen zeigen, dass sie „human“ sind. Nach Berichten von Geiseln war jedoch Gewalt und Todesdrohung Alltag (Spiegel 26.11., Welt TV, 1. Dez.). Die Attacken vom 7. Oktober, deren Pläne vorlagen und Übungen bekannt waren, galten den Spezialisten der israelischen Armee als zu „ambitioniert“ (wie die ‚New York Times‘ aufgedeckt hat). Das vermeintlich „imaginäre Szenario“ ist Wirklichkeit geworden, einmal mehr. Die Wirklichkeit übertrifft ebenso die Phantasie wie die Realsatire die Kritik.

Die Informationen lagen vor wie schon bei 9/11. Man glaubte nur nicht an deren Realisierung, ein typisches „intelligence failure“ (Masala), das vor allem für die Entscheidungsfindung der politischen Führung ein permanentes systematisches Problem ist. Es demonstriert aber auch, dass das militärische Expertentum, wie jedes, Fehler mit großen Auswirkungen begeht, selbst bei einem bekanntermaßen erfahrenen und guten Militär wie in Israel, welches großes Vertrauen bei der Bevölkerung genießt, von dem es ein Teil ist. Das Militär gehört hier zur Identität des Landes. Die Fehler werden im Nachhinein demokratisch aufgearbeitet werden.

In nicht-demokratischen Ländern übernimmt das Militär, welches unterschiedlich organisiert ist (was vermehrt der Aufklärung bedürfte!), in Krisensituationen (die Krise dient der Legitimation) gleich selbst die Führung. Militärputsche und Militärdiktaturen sind zahlreich in der Welt, jedoch wenig empirisch-analytisch und vergleichend untersucht. 

Das Verhältnis von Politik und Militär ist überall kompliziert. Und es ist erst recht im demokratischen Sinne wenig bekannt, reflektiert und diskutiert, obwohl es das Weltgeschehen mitbestimmt. Die „schmutzigen Hände“ überlässt man auch regional lieber anderen im oft, aber nicht immer schmutzigen Spiel. Das ist auch in der demokratischen Politik so, die nicht per se schmutzig, aber anstrengend ist, wovor man zurückscheut.

Das Verhältnis von Informationen, insbesondere wenn (konkurrierende Geheim-) Dienste im Spiel sind und den Schlüssen, welche die Politik daraus ziehen muss, ist das grundlegende Problem, welches sich nicht so leicht auflösen lässt. Dazu kommen die Qualitäten der Recherchen (der ‚intelligence‘ selber oder der Nachrichtendienste im Militär) sowie die Kompetenzen auf politischer Seite, vor allem militärisch und technologisch. Wirkliche präzise Kenntnisse und persönliches Vertrauen bleiben unerlässlich.

Für die Geschichte der Geheimdienste, die so viel Einfluss auf das gegenwärtige Weltgeschehen nehmen, müsste es mehrere Lehrstühle geben. Das ist keine Verschwörungstheorie. Sie sind eine wichtige, oft fälschliche Informationsquelle für den Anlass von Kriegen und während des Krieges. 

Sie kämpfen an vorderster Front: der russische Inlandgeheimdienst FSB, der Mossad, der als bester Geheimdienst der Welt gilt, aber auch der ukrainische Geheimdienst mit speziellen, teils umstrittenen Aktionen, die wir hier nicht alle aufzählen wollen. Ihre krassen Fehleinschätzungen mit ihren Auswirkungen lassen sich aktuell belegen.

Großmächte wie USA und Russland haben verschiedene Dienste (CIA, FBI, NSA; FSB, SWR), die sich mitunter auch konkurrieren, zum Schaden der Politik. Putin, als ehemaliger Oberstleutnant des KGB, der 1991 nach dem Augustputsch aufgelöst wurde, war 1998/99 Chef der Nachfolgeorganisation FSB für die Sicherheit der Russischen Föderation. Er verlässt sich heute weitgehend auf Informationsquellen seiner Leningrader ‚Silowiki‘ wie Patunschew und Bortnikow, beide ebenfalls Geheimdienstchefs, die indessen noch nicht sein Machtkartell insgesamt ausmachen.

Die Erfahrungen des Krieges verändern sich laufend, was im ‚endlosen Ukrainekrieg‘ zu einem Problem wird. Man verfolge nur den neuartigen Drohnenkrieg, der sich technisch fortlaufend selbst überbietet. Konzeptuell-strategische Überlegungen von politischer Seite spielen zudem in die Entscheidungsfindung hinein, wofür meist einzelne Personen (Selenski, Netanjahu, Putin, Schoigu und bestimmte Generäle) den Kopf hinhalten müssen. Das birgt Vorteile und Gefahren zugleich. Die Politik wechselt Oberbefehlshaber aus, umgekehrt ist dies während des Krieges kaum möglich.


Realismus und Idealismus


Beim endlosen Ukraine-Krieg, so sieht es gegen Ende 2023 aus, sprechen nur noch die Waffen, ähnlich wie schon in den Stellungskriegen des 1. Weltkrieg. Aussichtsreiche Verhandlungen gibt es nicht. Warum nicht? Darauf sind schon häufig richtige Antworten gegeben worden, auch in unseren Blogs. Vorschläge aus theoretisch- konzeptueller Sicht gab es genug, auch von Henri Kissinger, der Jahrhundert-Figur (1923-2023) in der Diplomatie und der internationalen Politik (auch als Teilfach der Politikwissenschaft). Er wurde bekannt mit dem Buch über „Atomwaffen und Außenpolitik“(1957).

In den zahlreichen ausführlichen Nachrufen aus Anlass seines Todes in diesen Tagen wurde immer wieder darauf hingewiesen, wie er, als gelernter Historiker, das präzise realistische Detail mit Idealismus verband. Sein Biograph Neil Ferguson (2015) nennt den ‚Realisten‘ in der politischen Analyse sogar einen ‚Idealisten‘ um des Friedens und der Freiheit willen, wie ich hinzufügen möchte. Dabei gibt es Irrtümer wie bei jedem Menschen und Politiker, freilich haben die Folgen bei einem amerikanischen Sicherheitsberater und Außenminister andere Dimensionen.

Sein Rat war noch im hohen Alter (und dann erst recht) von allen gefragt, was ebenso für ihn spricht, wie, dass seine Vorschläge oft kontrovers waren und teils auf heftige Ablehnung stießen. Er lehrte stoisch durch Erfahrung, einschließlich historischer Erfahrung belehrt. Kissinger war mir alles andere als sympathisch als aktiver Politiker der 70er Jahre, vor allem wegen des Militärputsches gegen Salvador Allende 1973, aber auch wegen der Intensivierung des Vietnamkrieges und der Ausweitung auf Kambodscha.

Er bekam 1973 (zusammen mit Lê Duc Tho) den Friedensnobelpreis für die Aushandlung des Waffenstillstands- und Abzugsabkommen mit Nordvietnam und galt zugleich vielen als Kriegsverbrecher. Er war objektiv ein Meister der Pendler- und Geheimdiplomatie. Zu Kissingers Realpolitik: Friedensstifter oder Kriegsverbrecher? fragt der Bayrische Rundfunk am 30. November bezeichnenderweise.

Hören wir aber zunächst zu, was er zu unseren Kriegen zu sagen hat. Apropos Kriegsverbrecher erinnere ich mich, dass er lieber davon absehen wollte, Putin als Kriegsverbrecher international zu verfolgen. Viele argumentieren heute, dass man Putin militärisch und politisch einen Ausweg offenlassen müsse, um zu Friedensverhandlungen zu kommen, die diesen Begriff verdienen.

Kissinger vertrat selbstverständlich die Position, dass Russland den Krieg nicht gewinnen dürfe, war aber auch der Meinung, dass Russland nicht die alleinige Schuld am Krieg trage, was die Dämonisierung Putins nur bekräftige. Er warnte schon 2014 vor der Komplexität des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine. 

Die russische Kriegsführung hält er heute für „rücksichtslos“, und den Widerstand der Ukrainer, den der Westen unterstütze, bezeichnet er als „berechtigt“. Von einem Nato- Beitritt riet er zunächst ab, wurde aber am Ende zu einem „Lobbyisten der Ukraine“ für einen Nato-Beitritt, so Jermak und Selenski.

Am Weltwirtschaftsforum 2022 in Davos rät Kissinger der Ukraine zunächst noch, Gebiete an Russland abzutreten, um die Sicherheit in Europa zu stabilisieren. Wie aber konnte ein realpolitisches Einlenken gegenüber Moskau aussehen? Wahrscheinlich mit Hilfe Pekings (Kissinger reiste im Juli 2023 tatsächlich noch einmal nach China zu Xi). 

Sollte die Krim aufgegeben oder neu verhandelt werden? Was bis Ende März 2022 auch Selenski nicht ausschloss, der heute prinzipiell mit dem „Kriegsverbrecher Putin“ und dem „Terrorstaat“ nicht mehr verhandeln will. Ende September bekam der Krieg mit der Annexion der vier ukrainischen Regionen tatsächlich noch einmal ein neues politisches Gesicht.

Voraussetzung wäre also ein Regimewechsel in Russland. Wie realistisch ist dies? Und in welche Richtung würde er gehen? Wünschen würde man sich einen normalen Nationalstaat, der nach Jelzin nicht zustande kam. Wünschen kann man sich viel, das ist weniger als Idealismus. Doch Selenski sucht die Entscheidung auf dem Schlachtfeld genauso wie Putin, der offenbar mit diesem Krieg wie auch immer in die Geschichtsbücher eingehen will.

Selbstverständlich hat sich der weltläufige Außenpolitiker Kissinger auch oft zum Nahost-Konflikt geäußert, der schon 1973 im Jom- Kippur – Krieg, als Ägypten und Syrien die Ergebnisse des Sechstage-Krieges von 1967 wieder revidieren wollten, weltgefährliches Ausmaß annahm. Schon damals sprach man von einer Art Kubakrise im Mittelmeer. 

Freilich trägt der Krieg um die Existenz und das Überleben von Israel durch den Überfall der Hamas am 7. Oktober noch einmal ein anderes politisches Gesicht, hat aber immer noch dasselbe Gewicht und potenzielle Ausmaß. Nicht nur die USA, auch die arabischen Staaten sind in ihrer politischen Verantwortung gefragt. Die ‚Zwei-Staaten-Lösung‘ wird lediglich gebetsmühlenartig von allen Seiten vorgetragen. Friedensstifter indes leben gefährlich, man denke nur an Rabin und Sadat. 

Erst kürzlich hat sich Kissinger noch in einem Interview zur Zwei-Staaten-Lösung geäußert (siehe NZZ, 31. 10. 2023), unter dem Titel “ Die Führer der Welt haben versagt“.

Bildnachweis: IMAGO / Kyodo News