Wehrfähiges Bündnis

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Im letzten Blog über die Konferenz der internationalen Organisation der ‚Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit‘ (SCO) in Astana (4. Juli) spielte die begriffliche Unterscheidung zwischen einer internationalen Organisation und einem Bündnis eine tragende Rolle.

Die Nato, die kurz darauf am 10. Juli in Washington ihr 75 jähriges Jubiläum feierte, ist ein historisches Bündnis, das größte Verteidigungsbündnis der Geschichte, welches moralisch-politisch über eine normale Organisation weit hinausgeht.

Dies festzustellen ist nicht trivial. Sollte es dies sein für Leute, die ‚trivial‘ (elementar) mit ‚banal‘ verwechseln, ist die Verteidigung dieser kognitiven und normativen Trivialität schon gar nicht trivial, sondern eine Notwendigkeit für die politische Theorie.

Die 32 Mitgliedsländer haben im Juli weitreichende Beschlüsse gefasst. Die Nato ist alles andere als “ hirntot“ (Macron) oder „obsolet“ (Trump), wie vor kurzem noch diagnostiziert worden ist. Sie ist vielmehr stärker und entschlossener denn je zuvor, nachdem in Reaktion auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine eine ‚Natoisierung‘ Europas stattgefunden hat (siehe dazu den Blog vom 2. Juli 2022 ).

Die brisante Schlusserklärung richtet sich primär gegen die Bedrohung aus Russland und unterstützt weiterhin die Ukraine militärisch und finanziell. Wie schon in Vilnius im Juli 2023, sehr zur Verärgerung von Selenski, spricht der Gipfel keinen Nato-Beitritt für die Ukraine aus, obwohl der Weg dahin “ unumkehrbar“ sei.

Von einer nebulösen „Brücke zur Mitgliedschaft“ ist die Rede. Die USA und Deutschland sehen darin eine „große Eskalationsgefahr“. In Vilnius sprach Präsident Biden noch vom „Israel-Modell“, das heute gleichzeitig unter schwierigen Bedingungen eine Bewährungsprobe erfährt im ewigen Existenzkampf Israels.

Fest steht, es geht um mehr Abschreckung gegen Russland, auch in Europa. Was denken junge Leute in Deutschland, wenn sie am 12. Juli die Hauptschlagzeile lesen: „Langstreckenwaffen in Deutschland. Russland droht mit „militärischer Antwort“. Werden sie weiterlesen oder sich informieren, um welche Waffen es sich dabei handelt und worauf sie antworten sollen?

Von Kaliningrad, dem ehemaligen Königsberg aus sind nuklearfähige ‚Iksander‘- Raketen und ‚Kinchal‘-Raketen auf Europa gerichtet. Dagegen sollen nun 2026 US ‚Tomahawk‘ – Marschflugkörper mit über 2000 Kilometer-Reichweite, die ebenso nuklear bestückt werden können, aufgestellt werden. 

Diese Abschreckung, wiederum als Antwort auf die „unglaubliche Aufrüstung Russlands“ (Scholz), schreckte auf. Der russische Verteidigungsminister Beloussow telefonierte sogleich am 12. Juli mit dem amerikanischen Verteidigungsminister Austin, um die „Eskalationsgefahr zu reduzieren“.

Die älteren Semester erinnert es an die intensive und breite Debatte in Westdeutschland in den 80er Jahren über den Nato-Doppelbeschluss über Abschreckung, Wettrüsten, Krieg und Frieden. Es war die große Zeit der Friedensbewegung, ihre Rationalität und Irrationalität sowie der philosophischen Debatte über Abschreckung und Nuklearpazifismus (Glucksmann vs. Tugendhat).

Das Bild von der größten Demonstration im Bonner Hofgarten 1981 ist haften geblieben. Es gibt aber auch große Unterschiede:

– die Sowjetunion war eine saturierte Macht, die alten Herren des Politbüros waren keine Hasardeure, ihre Politik war absehbar;

– im Weißen Haus regierte Ronald Reagan unangefochten über das ganze Land;

– das chinesische Militär kam nicht auf die Idee, an europäischen Grenzen zu üben;

– Helmut Schmidt vernachlässigte weder strategische Fragen noch die Bundeswehr;

– die Nato stand felsenfest.

Biden oder Trump!?

Nato-intern ging es beim vollbefrachteten aktuellen NATO-Gipfel ebenso darum, die Nato „Trump-fest“ zu machen, sozusagen um den Feind von innen. Nun kann auch ein Präsident Trump nicht einfach aus der Nato austreten, die im Interesse der USA ist. Der erste Bündnisfall war 9/11, bei dem Kanzler Schröder spontan von „bedingungsloser Solidarität“ sprach, woraus „enduring freedom“ folgte mit dem Einsatz in Afghanistan. „Iraqui freedom“ und der Koalition der Willigen folgten Schröder/Fischer als erwachsene überzeugte Nation nicht mehr.

Einem möglichen Präsidenten Trump vorzubeugen, bezieht sich in erster Linie auf die versprochene westliche Unterstützung der Ukraine, weshalb die Nato-Zentrale nach Wiesbaden verlegt worden ist, um die militärische Hilfe und die Ausbildung der Soldaten zu koordinieren.

Sodann geht es konkret um die bessere Lastenteilung zwischen Amerika und Europa. Letzteres ist schon lange vor Trump und dem russischen Angriffskrieg ein drängendes Thema, gerade auch für Deutschland, das sein 2%-Ziel nie eingehalten hat.

Schließlich und nicht zuletzt formuliert die Nato den unverhohlenen Vorwurf an die Adresse Chinas, ein „entscheidender Beihelfer“ des Ukraine- Krieges zu sein. China reagiert prompt und ungewöhnlich scharf: Die Nato solle aufhören, „Konfrontation und Rivalität“ zu provozieren. Lin Jian nannte die Äußerungen „ungerechtfertigt und böse“. China sieht sich als beleidigte Friedensmacht. Die Beziehungen zu Russland haben sich allerdings in den letzten Jahren in allen Bereichen intensiviert.

Während der Nato- Tagung haben China und Belarus sogar gemeinsame Übungen abgehalten:  „Falkenangriff 2024“ bis Mitte Juli ist ein erstaunliches neues Faktum. Siehe auch den letzten Blog „Gipfeltreffen der Autokraten“, bei dem Lukaschenko neu in die Shanghaier Organisation (SOC) aufgenommen worden ist.

Putin haben wir einen Hasardeur genannt im Sinne von Napoleon III., wie Marx diesen Bonapartismus analysiert hatte (1852). China dagegen ist eine Großmacht, die ihren Platz in der Geschichte sucht. China ist noch nicht saturiert. Wann wird es mit seiner großartigen Geschichte (als ‚Mittelpunkt der Welt‘) und der heutigen totalitären Ideologie der Kommunistischen Partei saturiert sein? Braucht es dazu „nur“ Taiwan oder wird doch globale Hegemonie angestrebt? Indizien dafür gibt es genug.

China ist eine aufstrebende Handelsmacht und von daher nicht daran interessiert, die Welt in Brand zu setzen. Das sogenannte Dritte Plenum Mitte Juli wird die Leitlinien der Wirtschaftspolitik erneut festlegen. Sie wird exportorientiert sein, was weltweit von Bedeutung ist. China ist kein Hasardeur, aber deswegen nicht ungefährlich.

Und Orbàn? Was ist er außenpolitisch, der innenpolitisch eine ‚Demokratur‘ (Karolewski) etabliert hat? Ein Realpolitiker, der den Militärstaat Russland kennt, sowie mit China und Trump bestens bekannt ist. Ein Realpolitiker freilich in dem Sinne, dass er die Niederlage der Ukraine vorwegnimmt. Das ist unerwünscht, könnte aber Realität werden.

Für diesen Fall müsste es weitergehen mit dem mächtigen russischen Nachbarn und einem potentiell heißen Krieg an der baltisch-polnischen Grenze ohne USA, Deutschland und Frankreich, lediglich mit den standfesten Osteuropäern und Skandinaviern. Das Auseinanderbrechen der Nato und EU wären hier eingepreist.

An einem weiteren Friedensgipfel, den Selenski fordert, hat Russland ebenso kein Interesse, wie China aus diesem Grund dem Bürgenstock fernblieb. Russland torpedierte den Friedensgipfel in der Schweiz von vornherein. „Alternative Friedensinitiativen“ werden ignoriert, hieß es und heißt es heute wieder vom russischen Außenministerium.

Derweil ist Orbàn mit seiner „Friedensmission 5.0“ unterwegs, zuerst bei Selenski, danach bei Putin und Xi. Vom Nato-Gipfel, wo er isoliert war, reiste er frühzeitig ab, um Trump auf seinem privaten Regierungssitz Mar-a-Lago in Florida zu treffen. Die beiden ’starken Männer‘ posten gewissermaßen als Schlusserklärung ein Bild mit erhobenen Daumen: „Er wird das Friedensproblem lösen!“

Trump und viele neue MAGA- Republikaner mit dem Fokus auf den Mittleren Westen sowie europäische ‚trojanische Pferde‘ verstehen die Idee eines Bündnisses und seine moralisch-politischen Verpflichtungen nicht. Jeder Bund und jedes Bündnis gehen aus einer spezifischen Konfliktgeschichte hervor. Die durchgestandenen Konflikte bestimmen die individuelle wie kollektive Identität, die weder von vornherein feststeht noch fix ist. Sie ist vielmehr eine geschichtlich abhängige Identität, die narrativ gestaltet und erklärt wird, indem eine Geschichte erzählt wird (analytische Geschichtsphilosophie als Narrativismus).

Historisch-politisch geht es dabei um den Übergang vom Bund zum Bündnis beziehungsweise von der amerikanischen zur atlantischen Zivilreligion aus den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges gegen den Nationalsozialismus heraus. Der Atlantik war die große Nachschubstraße für Großbritannien und die Invasionen gegen Hitlers Europa. Die militärische Wende hatte 1942 mit Stalingrad und EL-Alamein begonnen.

Bündnisgesinnung und Bündnisintegration

Die Zivilreligion der Nato lässt sich nur historisch erklären (ausführlich dazu Kleger 2001). Systematisch spielt die Zivilreligion zwei Funktionen:

– als Zivilreligion höchster Werte wie Freiheit und Demokratie sowie

– als Vermittlungsfunktion und Brückenschlag, die Wertübereinstimmungen verstärken und Wertdifferenzen vergleich gültigen kann.

Der Einstieg der USA in die europäische Politik vollzog sich als Kreuzzug für die höhere Moralität der Demokratie. Dieser beginnt, nachdem das kaiserliche Deutschland in seiner unsäglichen Geringschätzung der Amerikaner in kultureller wie militärischer Hinsicht durch den unbegrenzten U-Boot-Krieg den Kriegseintritt der USA geradezu provoziert hatte: “ Wilsons Moralismus, der Clemenceaus Jakobinertum noch weit übertrifft, ist viel sinnstiftender für den Krieg als Elsass- Lothringen oder die Tonnage der deutschen Flotte (…) (Furet 1996, S.80).

Fortan stehen sich zwei Versionen des demokratischen Universalismus gegenüber: Lenins Weltrevolution durch Weltfrieden ( ‚Frieden und Sozialismus‘ als Parole), bei der vom demokratischen Nationalstaat und den liberalen Freiheiten nicht mehr die Rede ist, und Wilsons „make the world safe for democracy“, das durch eine “ League of Nations“ realisiert werden soll. Der Völkerbund versagte jedoch bei seinen Hauptaufgaben, vor allem vor dem Faschismus.

Roosevelt, der unter Wilson Staatssekretär gewesen war, erscheint den Nationalsozialisten später nicht nur als weltanschaulicher Widerpart, sondern auch als zweiter Wilson, der zum verhassten Mann wurde.

Roosevelt richtete vor dem zweiten Weltkrieg Friedensappelle an die Welt, bevor er – nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor am 7.12.1941 – die amerikanische Öffentlichkeit für einen Kriegseintritt gegen die Achsenmächte hinter sich bringen konnte : Die ‚city upon the hill‘ war verwundbar geworden (wie 2001). 

Dwight D. Eisenhower, Leiter der Landung in Nordafrika und der Normandie, Oberbefehlshaber der Nato und Präsident der USA fand dann schließlich andere Bedingungen als Wilson für seinen Kreuzzug in Europa vor (siehe Crusade in Europe, New York 1948).

Die interessante Frage ist nun, weshalb sich diese Intensität alliierter Bündnisgesinnung nicht nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wieder aufgelöst hat, ja sogar im Verlauf einiger Dekaden nicht nur einen Kreuzzug, sondern einen regelrechten Siegeszug antrat. 

Der Dauerdiskurs der Vergangenheitsbewältigung führte in allen vom Krieg betroffenen Nationen in unterschiedlichem Ausmaß allmählich zum Verurteilen von Appeasement-Politik, dem Hochhalten von ‚Freiheit und Demokratie‘ (als Parole des Westens) im Kalten Krieg und den Bündniswerten. Dies wächst zu einer Einheit zusammen.

Der Kalte Krieg, der 1947 mit Truman-Doktrin, Marshall-Plan und Containment begonnen hatte, führte zum Ausscheiden der Sowjetunion, der anderen Vorkämpfernation des Fortschritts, aus dem Bündnissystem, und europäische Nationen, vor allem England und Frankreich, betrieben nationale Machtpolitik wie eh und je. 

Die Suez-Krise (1956) und de Gaulle stehen beispielhaft dafür. Nur das besiegte Deutschland zeigte sich disponiert, die alliierten Werte über die nationale Selbstbehauptung zu stellen. Deutschland wurde seither zu einem transatlantischen und europäischen Integrationsfaktor erster Güte aus einer komplizierten Geschichte der Teilung heraus.

Amerika intervenierte nun, im Unterschied zur Zwischenkriegszeit, vor allem als wohlwollender ‚Luftbrücken‘- Hegemon. Die Wirkung des amerikanischen Schutzschirmes gegen die sowjetische Bedrohung und die europäische Integration transformierten die westeuropäischen Nationen.

Die ‚postnationale‘ Bundesrepublik ist davon am nachhaltigsten geprägt worden. „Die atlantischen Werte und Lebensformen haben von den kontinentalen europäischen Gemeinwesen Besitz ergriffen und sie institutionell zivilisiert“ (Diner 1999, S.314).


Literatur:

Heinz Kleger: Vom Bund zum Bündnis, von der amerikanischen zur atlantischen Zivilreligion? In: Religion und Zivilreligion im Atlantischen Bündnis, Trier 2001, S.91-111

Religion des Bürgers, München 1986, 2. Auflage Münster 2004

Dan Diner: Das Jahrhundert verstehen, München 1999

François Furet: Das Ende der Illusion, München 1996

Symbole und Taten. Zur amerikanischen Zivilreligion Joe Bidens, Blog vom 25. Januar 2021

Biden in Polen und die „heilige Verpflichtung“, Blog vom 27. März 2022

Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme, 1995

Welchen Bürgerglauben braucht eine Demokratie? Blog vom 14. April 2021

Politische Theologie und demokratische Bürgerreligion, Blog vom 1. Oktober 2022

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