‚Wehrhaftigkeit‘ weckt militärische Assoziationen, das heutige Modewort ‚Resilienz‘ liegt uns näher und geht leichter über die Lippen.
Tatsächlich gibt es eine Hauptstraße politischer Ideengeschichte, in der die (männliche) militärische Tugend der Selbstverteidigungsfähigkeit anstelle von bezahlten Söldnerheeren und fremden Herren im Zentrum des politischen Denkens steht. Es ist das republikanische politische Denken, welches von Machiavellis ‚Discorsi‘ (1513-22, Torino 2000) ausgeht (Republik Florenz) und traditionsbildend vor allem in den USA und der Schweiz wurde, aber auch anderswo, etwa in der Stadtrepublik Dubrovnik.
Deren Bürger wurden in Kroatien „Herren“ genannt im Sinne von Unabhängigkeit und Selbstbestimmung (liberty). 1991 wurde die Stadt mit den dicken Stadtmauern, die nie erobert worden ist, von der serbischen Artillerie beschossen, von den Hügeln herab, so wie die multikulturelle Stadt Sarajewo in einer der längsten Belagerungen der Geschichte, mitten in Europa!
Von diesen militärischen Traditionen ist der Militarismus, etwa der einflussreiche preußische Militarismus, der weltweit Schule gemacht hat, zu unterscheiden, der wegführt vom ‚Staatsbürger in Uniform‘ hin zum Untertanen oder gar zu einer ‚Schule der Sklaven‘ wie in der russischen Armee. Mitten im 1. Weltkrieg kommt es in der Schweiz zu einer heftigen grundsätzlichen Auseinandersetzung darüber, nämlich über die „Verpreussung der Armee“, die der damalige General Wille anstrebte. Hauptsächlich geführt wurde die Debatte vom Sozialdemokraten Robert Grimm, der damals Nationalrat war und später Anführer des Generalstreiks von 1918.
Diese militärischen Aspekte wehrfähiger Demokratie – Verteidigung als Vorbereitung auf den Krieg – werden in den folgenden Überlegungen nicht im Vordergrund stehen, obwohl sie seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine national, europäisch und international wieder alles andere überlagern – das ist wehrfähige Demokratie in actu im buchstäblichen Sinn von „rüsten“, Zivilschutz und Militär. Die Rüstungsausgaben erreichen international einen Höchstwert, dabei ist die USA weit vor Russland und China und, zum Glück für uns, mit Technologievorsprung.
Seit dem 21. April 2024, nachdem die amerikanischen 61 Milliarden-Hilfen für die Ukraine nicht mehr blockiert sind, steht die Frage in Europa wieder im Zentrum: wird sich das Blatt im Kriege noch einmal wenden oder kommt es zu einer weiteren Zuspitzung des Krieges mit der Nato? Lawrow spricht von einer „möglichen Konfrontation der Atommächte“.
Uns geht es hier aber nicht um diese Frage und ihre weitreichenden militärpolitischen Implikationen, sondern primär um die Feinde der Demokratie aus dem Inneren und den Umgang mit ihnen. Auch dieser Aspekt hat seine Vorgeschichte, die mit dem 2. Weltkrieg gegen den Nationalsozialismus beginnt.
Militant Democracy
Die Demokratie muss sich nicht nur durch Demokraten, die in der Weimarer Republik fehlten, verteidigen können, sondern auch durch Institutionen (Justiz, Polizei, Geheimdienste, Armee, Schulen, Universitäten u.a.), in denen verfassungstreue Menschen arbeiten. Darauf war ursprünglich das Konzept der „wehrhaften Demokratie“ alias „militant democracy“ nach den Erfahrungen mit den emotionalisierenden Massenbewegungen des Faschismus, des Nationalsozialismus und des Kommunismus zugeschnitten (Karl Loewenstein 1937).
Loewenstein wurde 1891 in München geboren und musste 1933 in der „Hauptstadt der Bewegung“ vor den Nazis fliehen. Nach dem Krieg kehrte der studierte Jurist mit vollem Elan zurück, als überzeugter Transatlantiker und Soldat der amerikanischen ‚reeducation‘. Als Legal Advicer beschlagnahmt er die Gelehrtenbibliothek des Staatsrechtlers und Staatsrats Carl Schmitt und verhaftete ihn. Er strebte auch seine Verurteilung als Kriegsverbrecher an (siehe Mehring, Carl Schmitt. Aufstieg und Fall, München 2009, S.440, 442, 443).
Loewenstein hatte die Verfassungstheorie von Carl Schmitt intensiv studiert (Verfassungslehre, München/Leipzig 1928). Selbst in seinem Gutachten bezeichnet er ihn als “ man of near-genius rating “ (zitiert S.442). Es ist “ persönliche Enttäuschung über die nationalsozialistische Wendung, die Schmitt in Haft bringt“(Mehring). “ Es sind jüdische Bekannte, die dafür sorgen, dass Schmitt nach 1945 als Täter behandelt wird“(a.a.O.).
Schmitt seinerseits fühlt sich zu Unrecht interniert (Ex Captivitate Salus, Köln 1950) und beginnt ein neues wirkungsgeschichtliches Kapitel als Privatgelehrter in Plettenberg, der offiziell an Universitäten nicht mehr lehren darf. Der Geächtete wird zum international Beachteten, es gibt neben der konservativen und rechten Rezeption fortan auch eine linke und liberale Rezeption seiner Schriften, die im Zusammenhang mit dem Thema ‚wehrfähge Demokratie‘ aufschlussreich ist.
Diese dreht sich um die Idee der Einheit des Staates, die reale Staatsfiktion des Leviathan, die Freund-Feind-Unterscheidung des Politischen sowie die Liberalismus – und Pluralismuskritik. Auf diese Schmitt-Diskussion in vielen Sprachen, vor allem italienisch und spanisch, können wir hier nicht eingehen, obwohl sie den wichtigen Fingerzeig gibt, dass die Spannungen zwischen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Recht und Politik, Partikularem und Universalem und im Kampf um das (Völker-) Recht nicht erledigt sind, sondern sich International verschärfen.
An Carl Schmitt kam und kommt man nicht vorbei. An dieser Stelle wollen wir jedoch auf Karl Loewenstein hinweisen, der weit weniger bekannt ist. Er hat einen konstitutiven politikwissenschaftlichen Beitrag in und zu den Aufbaujahren der Bundesrepublik Deutschland geleistet. Neben der Tagesaktualität (A) bezieht er sich ebenso auf das systematisch schwierige Thema (B) der Balance von Macht und Recht im Rahmen demokratischen Regierens.
Es ist dies das große Thema der Gewalten-, Macht- und Verantwortungsteilung im „Geist der Gesetze“ (Montesquieu 1748), das auch in der (Parteien-) Demokratie nicht verschwindet. Es wird vielmehr demokratietheoretisch unterschätzt, was sich an der heutigen Diskussion über „illiberale Demokratien“ ablesen lässt. Demokratien können sozusagen von innen gekapert werden durch parlamentarische Mehrheiten (siehe die Erfahrungen in Polen und Ungarn).
Loewenstein sammelt, studiert und reflektiert die parlamentarischen Regierungssysteme, das britische, amerikanische u.a. in einer international vergleichenden Perspektive historisch-systematisch (siehe als Quintessenz seine Verfassungslehre, 4. Auflage 2000). Er begründet damit die Parlamentarismusforschung auch für Deutschland.
Dieses neue Fach der vergleichenden Politikwissenschaft ist lehrreich, auch und gerade für die heutige Demokratiediskussion, die oft allzu borniert, unterkomplex, kurzschlüssig und moralisch aufgeregt stattfindet, so, als ob von den Wahlen in Thüringen aus das Schicksal Deutschlands und Europas abhinge. Und von der AfD die Zukunft der Parteiendemokratie.
Damit kommen wir noch einmal auf die damalige tagesaktuelle Realität der 30er Jahre zu sprechen, die gekennzeichnet war durch das laute Schlachtgetümmel – auf der Straße wie medial – der neuen totalitären Bewegungen, die versuchten, propagandistische Wirkungen zu erzielen.
Hitler war nicht nur ein verführerischer Redner, er war auch ein moderner Wahlkämpfer, unterwegs mit dem Flugzeug, großen Inszenierungen, Volksempfänger und Wochenschauen. Diesem neuen revolutionären Emotionalismus war mit rationalen Diskursen und Deliberationen nicht beizukommen.
Ein demokratischer Emotionalismus (Patriotismus) dagegen ließ sich von Seiten der gewählten Regierung nicht organisieren. Ideengeschichtliche Auseinandersetzungen reichten ebenso wenig wie „legalistische Selbstzufriedenheit“ – ein wichtiges Stichwort für die heutige Zeit der fortschreitenden Verrechtlichung der Politik. Sie unterschätzen die illiberalen Techniken der Emotionalisierung und organisierten Machteroberung.
Die Lehre daraus lautete: eine Demokratie im Belagerungszustand, die eben keine „feindlose Demokratie“ ist, wie man nach 1989 als Friedensdividende annahm, muss sich frühzeitig – präventiv, repressiv, persuasiv – durch Gesetzgebung und vorhandene Institutionen gegen ihre Selbstabschaffung wehren. Daran hat sich nichts geändert. Die Demokratie ist weder feindlos noch unproblematisch geworden. Die Bedrohungen sind vielmehr politisch wie technisch zahlreicher geworden.
Damit springen wir wieder in die heutige tagesaktuelle Debatte, nämlich über den Verfassungsschutz und seine Verteidigung der Demokratie gegen neue Bedrohungen.
Wer verteidigt die Verfassung, wie?
Claus Leggewie und Horst Meier verstehen in ihrer Kritik am Verfassungsschutz den historischen Kontext der 50er Jahre, als die “ ungelernte Bundesrepublik“ den Verfassungsschutz als Behörde aus der Taufe hob. Aber sie verstehen nicht, dass die gereifte Bundesrepublik, die „erwachsen gewordene Nation“ (Schröder), die „Gesinnungs-Gouvernante“ heute noch braucht, wo das Experiment der Freiheit – dem blauen Wunder zum Trotz – „alles in allem gut funktioniert“ (FAZ, 16. Februar, S.14). Dieser Beurteilung schließe ich mich an.
Auch nach den negativen Erfahrungen mit dem Radikalenerlass von Bund und Ländern 1972, sind nun plötzlich ‚Linke‘ und ‚Grüne‘ dabei, weil es gegen die „Richtigen“ geht im „Kampf gegen Rechts“. Diese Demokratiefeinde, die sich demokratisch ausgegrenzt sehen, rechtfertigen die „geräuschlose Routine des ganz legalen Ausspionierens von Bürgerinnen und Bürger, die angeblich oder tatsächlich verfassungskritische Positionen äußern“ (Leggewie/Meier).
Gerade jetzt spricht die „wehrhafte Demokratie“ für den Verfassungsschutz als „FdGO-Gesinnungs-TÜV“, der nicht Straftaten und Gewaltakte verfolgt, sondern Einstellungen und Haltungen(siehe dazu auch Mathias Brodkorb, Gesinnungspolizei im Rechtsstaat? Der Verfassungsschutz als Erfüllungsgehilfe der Politik, 2024).
Ersteres könnte auch ein strafpolizeilicher Staatsschutz mit genügend Personal tun. Dass es an Bürgern als Verfassungsschützern nicht mangelt, zeigten die jüngsten überraschend zahlreichen Demonstrationen gegen Rechts seit den Correctiv-Enthüllungen über erschreckende Remigrationspläne in der Villa Adlon in Neu-Fahrland im Januar 2024.
Außerdem konnte auch die Heraufstufung der AfD vom „Verdachtsfall“ zum „Beobachtungsfall“ den Aufstieg der AfD nicht stoppen, der im Zusammenhang mit dem Aufstieg des Rechtspopulismus ein gesamteuropäisches Phänomen darstellt. Es gibt indessen eine spezielle deutsche Auseinandersetzung damit, die mit falschen historischen Analogien als Zerrbildern arbeitet (siehe dazu ausführlich die Blogs vom 9. Januar, 1. Februar und 4.Februar 2024).
Thomas Haldenwang, der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, verteidigt sich unter dem Titel „Die Meinungsfreiheit ist kein Freibrief“ (FAZ, 2. April, S.10). Er stellt zum einen klar, dass die Meinungsfreiheit die Demokratie von Autokratie und Diktatur unterscheidet. Das betrifft selbst “ anstößige, absurde und radikale Meinungen“. Auf der anderen Seite bekräftigt er: „auch die Meinungsfreiheit hat Grenzen.“ Das betrifft zum einen, was unstrittig sein dürfte, Grenzen durch das Strafrecht (Propagandadelikte, Volksverhetzung).
Dann folgt ein Satz , der zu Diskussionen Anlass gibt: „auch unterhalb der strafrechtlichen Grenzen und unbeschadet ihrer Legalität können Meinungsäußerungen verfassungsschutzrechtlich von Belang sein.“ Dafür muss es allerdings Anhaltspunkte geben, wenn zum Beispiel Kritik und Protest vorliegen, die zu “ aggressiver systematischer Delegitimierung staatlichen Handelns bis hin zu Gewaltaufrufen führen.“
Man muss konzedieren, dass ‚Querdenker‘ aus dem Süden der Republik und ‚Corona-Leugner‘ und ‚Impfgegner‘ aus dem Osten, mit hoher Korrelation zur AfD, welche von Corona-Diktatur sprach, sowie ‚Verschwörungstheoretiker‘ und ‚Reichsbürger‘ von überallher inzwischen eine große diffuse Gruppe von neuen Staats- und Demokratiefeinden bilden, die keine politische Verantwortung übernehmen wollen.
Kritik entzündet sich vor allem an der Kategorie der „Delegitimierung des Staates“, die keine verfassungsrechtliche Kategorie ist (das ist “ gesichert rechtsextremistisch“ auch nicht), sondern eine Erfindung des Verfassungsschutzes im Zuge der Corona-Proteste 2021 war. Verfassungsrechtler warnen demzufolge von einem „entfesselten Inlandgeheimdienst“ (NZZ, 5. April, S.1).
Solche Fälle indes zu beobachten und die Öffentlichkeit darüber aufzuklären, damit rechtfertigt Haldenwang seine auffällige zunehmende öffentliche Präsenz zusammen mit der zuständigen Innenministerin Faeser, die beide unterschiedlichen staatstragenden Parteien (CDU und SPD) angehören. Der politische Beamte Haldenwang hält seine Behörde für politisch neutral.
Der Verfassungsschutz ist als „Frühwarnsystem“ ein „wesentlicher Baustein der wehrhaften Demokratie „. Man hat bisweilen allerdings den Eindruck, er hätte bei vielen Bürgern und Parteien schon die Autorität des Verfassungsgerichts. Hier findet in der öffentlichen Wahrnehmung eine folgenreiche Verwechslung statt. In der Weimarer Republik gab es bereits eine aufschlussreiche Kontroverse zwischen Kelsen und Schmitt über den „Hüter der Verfassung“(1931). Davon hängt einiges ab, für Schmitt war es der Reichspräsident.
Haldenwang konstatiert: „In der Nachkriegsgeschichte war die Demokratie in unserem Land selten so in Gefahr wie heute“. Das liegt daran, dass
1. Extremisten und Extremismuspotential seit Jahren zunehmen würden.
2. Digitalisierung und Virtualisierung helfen dabei.
3. Vernetzungstreffen belegen Entgrenzungsprozesse zwischen Rechtsextremisten und gesellschaftlicher Mitte.
4. Zudem führen ausländische Staaten einen hybriden Krieg gegen westliche Demokratien.
Allein die IT-Sicherheit wird diesbezüglich zu einer Mammutaufgabe. Geht es also um den abwehrbereiten starken Staat? Viel eher als um die Demokratie der Bürgerinnen und Bürger?
Müssen wir aufpassen, dass über das Thema ‚wehrfähige Demokratie‘ beziehungsweise das dominante moderne Thema ‚Sicherheit‘ nicht viel mehr an autoritären illiberalen Staatstheorien wieder einfließen, wenn objektiv die demokratisch getriebene expansive Politik ohnehin strukturell über den Staat läuft ? Es mangelt heute weit mehr an reflektierter Politik- und Staatstheorie als an Demokratietheorie(n).
Toleranz der Demokratie
Die Masse der Protestwähler und Wutbürger muss in einer modernen Massendemokratie politisch offen bekämpft werden. Dieser „Kampfsport“ (Schmidt) umfasst viele Facetten. Er schließt Emotionalität und Rationalität (als Pole) nicht aus, auch und gerade, wenn wir Politik konstruktiv als problemlösendes Handeln definieren.
Die leidenschaftliche Sache, um die es in der Politik geht, bewegt vielmehr (Max Weber). Sie sorgt für den notwendigen Biss. Überraschend an diesem systematisch entscheidenden Ort für die politische Theorie ist, dass ausgerechnet der Jahrhundertjurist Hans Kelsen (1881-1973) nicht formal- juristisch argumentiert:
„Kann Demokratie tolerant bleiben, wenn sie sich gegen anti-demokratische Umtriebe verteidigen muss? Sie kann es! In dem Maße, als sie friedliche Äußerungen anti-demokratischer Anschauungen nicht unterdrückt. Gerade durch solche Toleranz unterscheidet sich Demokratie von Autokratie“ (Kelsen, Was ist Gerechtigkeit? Wien 1953/Stuttgart 2000, S.51).
Hinter dieser Position steht eine ganze Philosophie, die mit großer Klarheit feststellt dass die Geschichte der menschlichen Erkenntnis uns lehrt, dass es vergeblich ist, auf „rationale Weise eine absolut gültige Norm gerechten Verhaltens zu finden“ (a.a.O., S.49). Die menschliche Vernunft kann lediglich relative Werte begreifen, das heißt, “ dass das Urteil, mit dem etwas für gerecht erklärt wird, niemals mit dem Anspruch auftreten kann, die Möglichkeit eines gegenteiligen Werturteils auszuschließen“(a.a.O.).
Interessenkonflikte können nur auf zwei Wegen gelöst werden: auf Kosten der anderen oder durch Kompromiss. “ Wenn sozialer Friede als höchster Wert vorausgesetzt wird, mag die Kompromisslösung als gerecht erscheinen. Aber auch die Gerechtigkeit des Friedens ist nur eine relative, keine absolute Gerechtigkeit“(a.a.O.).
Welche Moral hat diese relativistische Gerechtigkeitsphilosophie? Kelsen untersucht in seiner Abhandlung: die Rangordnung der Werte, Platon und Jesus, die kommunistische Gleichheit, die Goldene Regel, den kategorischen Imperativ Kants, die Tugendethik des Aristoteles sowie die widersprüchliche Naturrechtslehre.
Die inhaltliche Überraschung der Relektüre ist, dass der weltweit bekannte und geschätzte Staatsrechtslehrer und Rechtstheoretiker (Allgemeine Staatslehre 1925/2019; Reine Rechtslehre 1960/2017) als Moral der relativistischen Wertlehre das Prinzip der Toleranz bestimmt (S.49ff, a.a.O.) Darunter versteht er die Forderung, andere Anschauungen „wohlwollend“ zu verstehen, auch wenn man sie nicht teilt.
Kelsen postuliert: Toleranz bedeutet Gedankenfreiheit. Er holt dabei weit aus, erwähnt die Scheiterhaufen der spanischen Inquisition, die fürchterlichen Religionskämpfe des 17. Jahrhunderts und den in Deutschland wenig bekannten Philosophen Pierre Bayle (1647-1706)), den Voltaire besonders lobte. Kelsen zitiert Bayle: „Alle Unordnung entsteht nicht aus der Duldung, sondern aus der Unduldsamkeit“ (S.50). Ebenso könnte man hier Spinoza (1670), den Intimfeind des Antisemiten Schmitt, zitieren. Darauf folgt konsequent der grundlegende Schritt zur Demokratie:
„Wenn die Demokratie eine gerechte Staatsform ist, so nur darum, weil sie Freiheit bedeutet: und Freiheit bedeutet Toleranz“ (S.51). Die selbstbewusste Demokratie in diesem Sinne kann stolz sein, solange sie die Unterschiede zu Autokratie und Diktatur aufrechterhalten kann, die sie ständig bedrohen. Sie verteidigt sich nicht, wenn sie sich aufgibt. Mit Toleranz ist nicht Gleichgültigkeit gemeint, sondern Toleranz mit Biss und Entschiedenheit.
Es ist „das Recht jeder demokratischen Regierung, Versuche, sie mit Gewalt zu beseitigen, mit Gewalt zu unterdrücken und durch geeignete Mittel zu verhindern“ (auch Hobbes und Spinoza lassen sich kombinieren!). Letzteres wird in einer Demokratie freilich politisch kontrovers bleiben.
Grenzlinien zu finden, ist oft schwierig, steht aber nicht im Widerspruch weder zur Demokratie noch zur Toleranz. Nur eine liberale Demokratie, die als Experiment der Freiheit solche Risiken auf sich nimmt, ist es wert, „verteidigt zu werden“, so Kelsen (S.51). Kelsen hat nicht zufällig eine der wenigen großen klassischen Demokratiebegründungsschriften verfasst (Vom Wesen und Wert der Demokratie, Tübingen 1929, Stuttgart 2023).
Rettung der Demokratie?
Deren Klarheit und Wert wird heute aus der historischen Distanz deutlicher. Auch und vor allem darum geht es ja bei der heutigen „Rettung der Demokratie“, um das Verständnis der Demokratie. Die Etikette ist weltweit so begehrt wie nie. Was aber ist ihr Inhalt?
„Demokratie ist das die Geister im 19. und 20. Jahrhundert fast allgemein beherrschende Schlagwort. Gerade darum aber verliert es – wie jedes Schlagwort – seinen festen Sinn.“ Kelsen bezeichnet schon damals „Demokratie“ als den „missbrauchtesten aller politischen Begriffe „(S.7). Das gilt heute umso mehr, ist aber nichts Neues! Lediglich das Geschwätz ist grösser geworden.
Die Demokratie wird 1929 gegenüber der Parteidiktatur von links und rechts (Bolschewismus und Faschismus) akut zum Problem. Kelsen beginnt seine Begründungsschrift der Demokratie mit der „gleichen Freiheit“(S.9ff), behandelt sodann das Volk als Demos (S.22ff), das Parlament, das Majoritätsprinzip, die Verwaltung und die Führerauslese.
Ein eigenes Kapitel trägt die Überschrift „Formale und soziale Demokratie“ (S.122ff) , in dem Kelsen noch einmal deutlich macht gegenüber der verführerischen Idee einer sozialen, proletarischen Demokratie, dass der Freiheitswert, nicht der Gleichheitswert in erster Linie die Idee der Demokratie bestimmt. Der Kampf um die Demokratie ist für ihn ein Kampf um die politische Freiheit, das heißt „um die Beteiligung des Volkes an Gesetzgebung und Vollziehung“(S.122).
„Die für die Demokratie so charakteristische Herrschaft der Majorität unterscheidet sich von jeder anderen Herrschaft dadurch, dass sie eine Opposition – die Minorität – ihrem innersten Wesen nach nicht nur begrifflich voraussetzt, sondern auch politisch anerkennt und in den Grund- und Freiheitsrechten, im Prinzip der Proportionalität schützt. Je stärker aber die Minorität, desto mehr wird die Politik der Demokratie eine Politik des Kompromisses wie auch für die relativistische Weltanschauung nichts charakteristischer ist als die Tendenz zum vermittelnden Ausgleich(…). (Seite 132f a.a.O.).
Freiheit als Hindernisfreiheit (negative Freiheit) ist demgegenüber für marxistische Sozialisten eher schwer zu fassen und von geringerem Wert, sie halten es eher mit der positiven Freiheit. Die soziale Demokratie war allerdings schon damals das reformistische Ideal der Sozialdemokratie (Heimann, Löwe u.a.) und ist es geblieben. Während die sozialistische Demokratie durch Klassenkampf errungen wird, auf dem politischen Grab der pluralistischen, liberalen Demokratie des 19. Jahrhunderts, errichtet nach dem großen „Kladderadatsch“ von Karl Kautsky u.a.
Das letzte Kapitel ist das Interessanteste des lebenslangen wissenschaftlichen und politischen Antipoden von Carl Schmitt. Es heißt: „Demokratie und Weltanschauung“(127ff). Was ist der Wert der Demokratie, wenn gegen die Unfreiheit des Autokratismus die „Form und Methode“ der Demokratie so sehr bewusst in den Vordergrund gestellt wird, fragt Kelsen selber.
Heißt das nicht die Form auf Kosten des Inhalts zu überschätzen? Was dem „Demokratismus“, der die Demokratie von innen heraus abzuschaffen vermag, in die Hände spielen muss! Die expansive Politik der Parteien und des Staates bedrohen heute “ auf dem Weg in den Parteienstaat“ (Wilhelm Hennis, Stuttgart 1998) ebenso die Machtteilung der Demokratie der Bürgerinnen und Bürger.
Aber auch das Volk ist nicht im Besitz absoluter Wahrheit. Hier fügt sich der entscheidende Gegensatz zwischen Demokratie und Autokratie, für welche die Staatsordnung nicht prioritär ist, ein in die größere Frage nach der absoluten Wahrheit und den absoluten Werten. Weltanschauungen ordnet Kelsen politische Grundeinstellungen zu: der autokratischen eine metaphysisch-absolutistische, der demokratischen eine kritisch-relativistische Weltanschauung ohne „Gottesgnadentum des Volkes“(S.130). Sein Antipode Carl Schmitt hielt politische Autorität demgegenüber nur begründbar im Rahmen einer theistisch-personalistischen Weltanschauung.
Arbeit am Urteilen
Der historische antitotalitäre Konsens nach 1945 und 1989 ist wiederzubeleben und demokratisch aufzufrischen. Die liberale Toleranz, die alles andere als selbstverständlich ist, muss dafür kämpferischer werden. Das ist eine bewusste Neuakzentuierung im ostdeutschen Kontext seit den 90er Jahren. Darüber benötigen wir eine breitere Debatte, welche die heiklen Themen nicht umgeht. Das ist einfach, aber schwer (siehe auch den Blog vom 26. Juli 2021).
Dabei geht es vor allem um Stadt- und Dorfgespräche, die neue Begegnungen und Erkenntnisse über die eigenen Vorurteile hinaus ermöglichen, aber auch Raum für Ängste und Bedenken bieten, ohne dass man sogleich politisch abgestempelt und beschimpft wird. Dafür ist einiges zu versuchen und aushalten. Die Seele der Demokratie besteht nicht in Schubladen-Denken.
Die selbständige und gemeinsame Arbeit am Urteilen besteht vielmehr darin, zunächst einmal wahrzunehmen und genau hinzusehen, um unterscheiden zu können. Bloßes Etikettieren und vorschnelles Moralisieren hilft bei der geistig-politischen Auseinandersetzung nicht weiter, weder individuell noch kollektiv.
Die konkrete Urteilskraft ist zu üben durch Konfrontation, durch abgrenzen statt ausgrenzen. Dabei übersehen wir nicht, dass es eine bösartige Intoleranz und eine Flut von persönlichen Beleidigungen gibt, die nur schwer zu ertragen sind und denen wir uns gemeinsam entgegenstellen müssen.
Die kämpferische Toleranz ist indessen ein Gebot der politischen Vernunft. Sie ist hier in erster Linie demokratiepolitischgemeint, da sie Spielräume für die Demokratie eröffnet. Selbstbewusste Demokratien benötigen kämpferische Toleranz für breite Bündnisse, neue Beteiligungsformen und Koalitionsbildungen wie für zivile Widerstände, wenn sie nötig werden.
Demokratie ist Prozess und Institution; Regierung, Parlament, Bürgerräte und direkte Demokratie; eine kombinatorische Demokratie als Macht- und Verantwortungsteilung ist möglich, die verschiedene Ebenen und Elemente verbindet. Man sollte Demokratie in ihrer zivilen Komplexität nicht vereinfachen und polarisieren, sondern stärken und ausbauen.
Freiheit und geteilte Verantwortung müssten für so viel Freiwilligkeit sorgen, dass die Demokratie wehrfähig bleibt, in jeder Hinsicht.
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