Was ohnehin stattfindet.

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Moderne Gesellschaft und Indifferenz

Prozesse in der Gesellschaft, die ohnehin stattfinden – wie heißen sie? Fortschritt und Modernisierung? Konkreter: Technisierung, Digitalisierung und Globalisierung?

Auf sie müssen sich die Menschen einstellen, sie sind nicht Ergebnisse intentionalen Handelns, es handelt sich um größere gesellschaftliche Entwicklungen. Oft ist von Gesellschaft nicht einmal mehr die Rede, sondern nur noch von Moderne oder Spätmoderne oder davon, was die Zeit von uns verlangt, davon, was es heißt auf der Höhe der Zeit zu sein. Und wer möchte nicht auf der Höhe der Zeit sein und mit der Zeit gehen. Mit welcher Zeit? Mit wieviel selbstbestimmter Zeit?

Ja, was heißt das? Die Entnennung schreitet voran. Und wer bestimmt, was wie heißen soll? Sein und Zeit, Sein und Heißen. Es hat jedenfalls auch mit Prozessen zu tun, die nicht von uns durchgängig gewollte normative Prozesse sind. Wie wollen wir sie nennen? Anonyme Prozesse, funktionale, ökonomische, wissenschaftliche, technologische, zivilisatorische Prozesse? Oder schlicht Evolution? Evolution im Unterschied zu Geschichte?

In Hermann Lübbes Fortschrittsphilosophie steht inzwischen der Begriff der Zivilisationsdynamik im Zentrum (Modernisierung und Folgelasten, Berlin 1997; Zivilisationsdynamik, Basel 2014). Diese moderne Dynamik beruht „auf der bezwingenden Evidenz der mit ihr verbundenen Lebensvorzüge, und dem widerspricht nicht, dass der Grenznutzen unserer zivilisatorischen Fortschritte in etlichen Lebensbereichen inzwischen abnimmt.“

Lübbe, der von der Diskussion über den Fortschritt als Orientierungsproblem in den 70er Jahren (Lebensqualität, Grenzen des Wachstums) ausgegangen war und den modernen wissenschaftlich-technischen Fortschritt stets gegen die linksalternative Kritik verteidigt hatte (mit seiner Metakritik der instrumentellen Vernunft), spricht inzwischen vom “ ernüchterten Fortschritt“. Ja, er spricht sogar vom aktuellen Thema einer empirischen Apokalyptik (Zeit-Erfahrungen, Mainz 1996, S.33ff).

Der moderne Fortschritt war und ist zustimmungsfähig, ja zustimmungspflichtig. Diese Position galt es insbesondere gegenüber der in Deutschland – siehe zum Beispiel Heidegger: Fortriss oder Jungk: Fortschrott – verbreiteten Technikkritik und Risikoaversion zu verteidigen (Der Lebenssinn der Industriegesellschaft, Berlin 1990). Hier ist auch von der Black- Box-Zivilisation die Rede, welche die Höhe der Zeit definiert, auf der sich das Rennen um den Gewinner-Fortschritt bewegt.

Heute geht es weltweit um die Technologievorherrschaft mit Auswirkungen bis nach Brandenburg (Grünheide, Cottbus, Guben). Auch Ostdeutschland möchte endlich zu den Gewinner-Regionen zählen, wofür man Konzessionen macht und erhebliche staatliche Unterstützung für den Strukturwandel braucht und bekommt.

Wie setzt man sich dazu in Beziehung? Zunächst einmal dadurch, dass man die Verhältnisse, unter denen man lebt, richtig beschreibt. Deskriptive und normative Ebene sind zu unterscheiden. Dies wird zu einer permanenten Auseinandersetzung mit der traditionellen Kultur- und Zivilisationskritik, welche sich mahnend, diagnostisch und kritisch zu den modernen Verhältnissen in Beziehung setzt. Dies umfasst seit Rousseau (1712-1778) ein ganzes Spektrum von Positionen zur Dialektik des Fortschritts beziehungsweise der Aufklärung, die wir hier nicht referieren können.

Inzwischen sieht Lübbe im vermehrten Auftreten von Schreckensutopien sogar ein gutes Zeichen: „Statt Gewissheiten kommenden politischen Heils, das schrankenlos Opferbereitschaften einfordern ließ, bewegen uns heute weltweit überwiegend Besorgnisse um fundamentale Trivialitäten guten Lebens – Wohlfahrt und soziale Sicherheit, verlässliches Recht und Frieden.

Die Orientierung an diesen Zwecken dynamisiert die zivilisatorische Evolution, und die Erfahrung von Folgelasten und Risiken pragmatisiert Erwartungen des Fortschritts, dessen Grenznutzen abnimmt“ (2014, S.11). Das gute Leben ist vom jeweiligen Zivilisationsniveau abhängig und doch mehr, was von der ‚zeitlos‘ gültigen ‚Philosophie des glücklichen Lebens‘ (Epikureismus, Stoa, Skeptizismus), der Vergangenheitszuwendung, Nostalgie, Erinnerungsarbeit, Religion und Bürgerglaube abhängt. Diese lebensweltlichen Bezüge verschwinden in der modernen Zivilisationsdynamik nicht, im Gegenteil, sie verändern sich nur oder verstärken sich sogar.

Die Indifferenz ihr gegenüber, auch die Ignoranz gegenüber den Bedingungen einer Black-Box- Zivilisation sind gleichwohl groß, ja übermächtig. Indifferenz ist ein interessanter Begriff. Es lohnt sich, auf ihn näher einzugehen und seine Aufschlusskraft zu überprüfen. ‚Indifferentia‘ ist zunächst die lateinische Übersetzung von ‚adiaphora‘, dem ethisch Gleichgültigen, das weder gut noch schlecht ist, sondern gleichgültig und unbestimmt. In der stoischen Lebenslehre sind die Adiaphora wichtig.

Lohmann hat das Konzept der Indifferenz weiter und genauer bestimmt im Rahmen seiner kritischen Auseinandersetzung mit Marx‘ Gesellschaftskritik im ‚Kapital‘. Dabei geht es um die Frage, “ was denn in der modernen Gesellschaft das zu Kritisierende sei“ (Indifferenz und Gesellschaft, Ffm. 1991, S.26). Der Bereich ambivalent einzuschätzender Phänomene ist in der modernen Gesellschaft enorm gewachsen, und das Rennen im modernen Fortschritt hat unweigerlich seinen Preis. Man muss abwägen, was einem wichtiger ist oder anders gesagt: das eine ist nicht ohne das andere zu haben. Was muss man deshalb als indifferent setzen, und wie ist dies normativ zu bewerten?

Für Georg Simmel (1858-1918) und seine Theorie der Moderne wird Indifferenz sogar zum Grundbegriff. Er erörtert dies in seiner großen ‚Philosophie des Geldes‘ (1900), die von Marx beeinflusst ist. Das Interessante an Simmel ist, dass er sich „nicht entscheiden kann, ob Indifferenzphänomene einen Verlust oder einen Gewinn von Freiheit bewirken“ (Lohmann, S.30). Luhmann (1927-1998) greift in seiner formalen Soziologie in der Tradition von Simmel die Ambivalenz der gesellschaftlich konstituierten Indifferenz auf (Soziale Systeme 1984). 

Der Primat der funktionalen Differenzierung in der modernen Gesellschaft führt zu einer Vielzahl sozialer Systeme, die eine besondere Sensibilität (Funktionssteigerung) mit großer Indifferenz für alles übrige verbinden. Die moderne, arbeitsteilige, zunehmend spezialisierte Gesellschaft vermehrt Indifferenz überproportional. Die Steigerung individueller Freiheit ist dabei mit Rollenvariabilität und flexibler Anpassung verknüpft. Dies führt zur Freiheit als Indifferenz des Menschen ohne Eigenschaften (Scholz, Freiheit als Indifferenz, Ffm. 1982).

Wie lassen sich unter diesen Bedingungen Zivilität als Zuständigkeit für Zivilisation und Zivilisationsdynamik ohne zivilgesellschaftliche Euphorie noch in eine Beziehung setzen? Luhmann würde sagen über eine „Politik der Verständigungen“, die heute auch das Verhältnis von Inklusion und Exklusion thematisieren muss.

Die Verfassung erlaubt eine zivile Konstitution sozialer Dissenskultur, sofern sie ihre grundrechtlichen demokratischen Bestimmungen nicht einschränkt. Ihre Kunst ist es, die Entfaltung einer komplexen zivilen Demokratie mit demokratischen Mitteln am Leben zu erhalten. Dafür braucht sie allerdings die Unterstützung einer aktiven Demokratiepolitik, die Demokratieresignation verhindert.

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay