Was heißt „Vierte Politische Theorie“? 

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„Die Vierte Politische Theorie“ lautet der Titel eines Buches von Alexander Dugin (geb. 1962), der ein bekannter Autor im postsowjetischen Russland ist. In Europa ist er unter politisch Interessierten bekannt geworden durch seine Bücher über Geopolitik und als Führer der nationalbolschewistischen Partei, die 1992 gegründet worden ist und an die Tradition der 20er Jahre anknüpft.

Dugin gilt auch, was umstritten ist, als selbsterklärter intellektueller Führer der sogenannten ‚Eurasischen Bewegung‘ sowie als Einflüsterer und Verteidiger von Wladimir Putin, über den er als „Phänomen“ ein eigenes Buch geschrieben hat (2019). Er lehrt an der Lomonossov-Universität in Moskau. Ausführlicher zur intellektuellen und politischen Biographie Dugins, die hier nicht im Zentrum steht, siehe: Andreas Umland, gegneranalyse.de und andere Aufsätze dieses Autors.

Alain Soral bezeichnet die 234 Seiten ‚Vierte Politische Theorie‘ (englisch 2012, deutsch 2013) als „Kampfmanual für den kulturellen Guerillakrieg“. Dugin zeige, “ dass eine multipolare, auf authentischen Werten gegründete Welt nur dann geschaffen werden kann, wenn man dem atlantischen Westen und seinen falschen Werten resolut den Rücken kehrt.“
Wie ist dies zu erreichen?
„Nur durch die bedingungslose Erhaltung der geopolitischen Souveränität der Großmächte auf dem eurasischen Kontinent – Russland, China, Iran und Indien – die die Freiheit aller sonstigen Weltvölker gewährleisten“ (S.8).

Beide Zitate sagen schon alles über die Grundausrichtung von Dugins politischer Theorie, seiner Schüler und Sympathisanten der internationalen neuen Rechten auf der ganzen Welt.
Wogegen es diesen politischen Kriegern in ihren Netzwerken missionarisch geht, liegt auf der Hand. Mit welchen Konzepten und Argumenten sie verführen, ist dagegen weniger bewusst und bekannt. Sie verändern sich, obwohl vieles gleich bleibt. Das ist intelligente Dogmatik. Auf ihre Grundzüge wollen wir im Folgenden etwas näher eingehen.

Wie der deutsche Nationalbolschewist Ernst Niekisch (1889-1967) in den 20er und 30er Jahren – mit seiner Zeitschrift ‚Widerstand‘ in Berlin –, der eine Fusion von Kommunismus und Nationalismus anstrebte, will heute der russische Nationalbolschewist und Eurasier Dugin im Widerstand gegen den Liberalismus, der im Westen gesiegt hat und sich unter amerikanischer Führung über die gesamte Welt verbreite, vorgehen: „Liberalismus ist das graue Schicksal der menschlichen Zivilisation“ (S. 151). Er verkörpert die „wichtigsten Vektorlinien der Moderne“.

Auf S.152 definiert Dugin den Liberalismus genauer. An erster Stelle steht demnach das „Bild des Individuums als Maß aller Dinge“, danach folgt der Glaube an das Privateigentum, an den Vertrag, die Gewaltenteilung, den Markt u.a.. Die historischen Prinzipien sind von Locke, Mill, Kant, Smith, Bentham und Benjamin Constant entwickelt worden bis hin zur neoliberalen Chicagoer Schule im 20. Jahrhundert und Karl Raimund Popper als emigrierter Theoretiker der offenen Gesellschaft (S. 152f.).

Die „Freiheit wovon“ hat als treibendes Prinzip dogmatischen Charakter (S. 153). Staat und Nation sind demgegenüber sekundär. Die Freiheit von Vergesellschaftung und Umverteilung unterscheidet die Liberalen von den Linken jeder Couleur. Dagegen hatte die theoretische Auseinandersetzung mit der marxistischen Kritik durchaus Folgen bis hinein in den Sozialliberalismus, der auch in den 60er Jahren neu entstanden ist (die letzte Chance der Liberalen, Flach 1971). Auf die verschiedenen Varianten des demokratischen Sozialismus können wir hier nicht eingehen.

Sowohl auf der linken wie der liberalen Seite unterscheidet Dugin jedoch durchaus kenntnisreich Varianten, das gilt auch für die Konservativen und die Rechten. Sein hauptsächlicher Einsatzpunkt ist indessen ganz eindeutig: der „liberale Endsieg der 90er Jahre“ (S. 158) und das „amerikanische Jahrhundert“ (S. 159).

„1991 wurde mit der Auflösung der Sowjetunion klar, dass das ‚Ende der Geschichte‘ keine marxistische, sondern eine liberale Gestalt annehmen würde, woraufhin Francis Fukuyama hurtig der Menschheit verkündete, das ‚Ende der Geschichte‘ sei der Weltsieg des Marktes, des Liberalismus, der USA und der bourgeoisen Demokratie“ (S. 158).

Damit sind wir direkt im politischen Zentrum, das Dugin aggressiv mit Putin verbindet, denn die USA waren von diesem Zeitpunkt an „nicht nur eine von zwei Supermächten, sondern der einzige weltweite Protagonist mit unangefochtener Vormachtstellung“(S. 159).

Dugin zitiert an dieser Stelle den sozialistischen französischen Außenminister Hubert Védrine, der von „Hypermacht“(statt Supermacht) sprach, um die „asymmetrische Übermacht“ herauszustellen (S. 160). Dugin formuliert nun die These, dass die USA den kalten Krieg gewonnen hätten, weil sie sich auf „den Boden der liberalen Ideologie gestellt hätten“ (S. 160). Und zitiert als Beleg den amerikanischen Neokonservativen, der das begriffen hat: „Das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert des amerikanischen Aufstiegs, aber das 21. wird das amerikanische Jahrhundert sein“ (William Kristol, S. 160).

Die folgenden Seiten lesen sich wie Zitate aus Putins 45minütiger antiamerikanischer Wutrede – „gegen die Kolonisten im Westen“ – am 30. September 2022 im Kreml nach der Annexion der vier ukrainischen Gebiete, die er – fanatisch geworden – koste es, was es wolle, nicht mehr hergeben will. Dugin folgt dem Denken der „Neocons“, wenn fortan die ganze Welt ein „Weltamerika“ werden soll und „der american way of life obligatorisch für alle“.

Die USA ist kein normaler Nationalstaat mehr, wird konstatiert. Warum also soll es Russland werden? Wie kann es das werden? Für die Putinisten ist die „Umschmelzung der bestehenden Weltordnung in eine neue, strikt amerikanische Form“ das neue amerikanische Jahrhundert (S. 161). „Der Liberalismus, der seine formellen Gegner besiegt hat, durchdringt alles“, spricht der politische Theoretiker Dugin auf der Suche nach der vierten Groß-Theorie nach (post) Faschismus, Marxismus und Liberalismus.

Die argumentative Verknüpfung mit Putins ‚russischer Welt‘ liegt auf der Hand. Da die Neocons die USA nicht mehr als „Nationalstaat, sondern als Avantgarde der liberalen Ideologie verstehen“, die ohne Ausnahme“ in die Tiefen aller Gesellschaften und Staaten eindringen“ soll (S. 161), erhält dieser Imperialismus eine zivilisatorische Mission.

Von amerikanischer Seite wird in dieser weltweiten Auseinandersetzung der geringste Widerstand gebrochen, “ wie es in Serbien, Irak und Afghanistan geschehen ist“ (S. 161). Dugin zitiert Präsident Putins erste offene Wutrede an der Münchner Sicherheitskonferenz am 10. Februar 2007, wo er „Amerikas maßlose Gewaltanwendung bei internationalen Konflikten wie dem im Irak nannte“.

„Solche Strategien meinte er, setzten das internationale Recht außer Kraft und führten zu einem Rüstungswettlauf“ (165). 2022 wird diesbezüglich ein neues Allzeithoch erreicht, wobei die US-Ausgaben mehr als doppelt so hoch sind wie die Rüstungsausgaben von China und Russland zusammen (Sipri-Report).

Dugin vergisst auch nicht, darauf hinzuweisen, dass die Neocons aus dem Trotzkismus hervorgegangen sind, was zumindest für prominente Einzelne zutrifft. Die Verhältnisse sind jedoch auch im amerikanischen Neokonservativsmus zu verschiedenen Zeiten etwas komplizierter ebenso wie natürlich der permanente interne Konflikt in den USA mit den „Isolationisten“ seit dem 1. Weltkrieg.

Dugin gibt hier der Ideologie der ‚Neocons‘ wie überhaupt der Ideologie eine überragende Bedeutung. Das verbindet die politischen Denker Georg Sorel, Armin Mohler, Alain de Benoist und Antonio Gramsci, der Gründer der italienischen Kommunistischen Partei war – „Kulturrevolution von rechts“ (Benoist).

Das verdeutlicht auch der Hinweis auf den zwar stets minoritären, aber internationalistischen Trotzkismus (4. Internationale), den man ebenso bei Armin Mohler (‚Die konservative Revolution‘ 1949/1989) findet. Der Internationalismus ist ihm eigen über Nationalsozialismus und Stalinismus rechts und links hinaus. Es sind bewaffnete Intellektuelle, die aus revolutionärer Überzeugung zur Gewalt bereit sind.

Wichtiger an dieser Stelle ist jedoch die Beobachtung, dass sich der Inhalt des Liberalismus selber wandelt, was vielfältig der Fall ist. Dugin spricht indes in grossen epochalen Worten vom Übergang der Moderne zur Postmoderne. Was heißt das? Das letzte 14. Kapitel trägt unmissverständlich die programmatische Überschrift „Gegen die postmoderne Welt“ mit dem politischen „Übel der Unipolarität“(212).

Postmoderner Liberalismus

In der Postmoderne ist der Liberalismus laut Dugins Diagnose keine frei gewählte Philosophie mehr:“ er wird unbewusst, selbstverständlich und instinktiv“ (S. 162). In genauer Entsprechung zur Definition des Liberalismus (152) entsteht so ein „postliberales Gruselkabinett“ (S. 163). Das heißt:

  • das Individuum wird durch das Dividuum abgelöst;
  • das Privateigentum wird zum Besitzer des Menschen;
  • die Chancengleichheit wird zur Gesellschaft des Spektakels;
  • die Welt wird zum technischen Modell;
  • die Zivilgesellschaft verdrängt den Staat und wird zum kosmopolitischen Schmelztiegel;
  • die Demokratie wird zur ständigen elektronischen Volksbefragung u.a.

Interessant ist einerseits der Hinweis auf das Buch von Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels 1967, das schon den Pariser Mai 1968 beeinflusste und vieles von dem vorwegnahm, was Dugin heute die „grotesken Sitten der postmodernen Kultur“ nennt (S. 163). Das bürgerliche Individuum ist im permanenten medialen Spektakel nur noch Rolle und sonst nichts (siehe auch die Soziologie von Erving Goffmann). Davon trifft vieles zu, aber nicht alles, zumal verschiedene Milieus und Berufe zu beachten sind.

Es geht um ständige Werbung, Inszenierung und Propaganda (die gleichwohl noch immer zu unterscheiden sind!), die sich in ihrer Präsenz, Intensität und technischen Raffinesse aber zweifellos enorm gesteigert haben in unseren schnelllebigen Zeiten, insbesondere auch hybriden Kriegszeiten, bei denen wir nicht mehr mitkommen. Die Nachrichtendienste (nicht nur die militärischen in jeder Kompanie) sind deshalb noch wichtiger geworden im Kampf um die Wahrheit. Es gilt ständig zu prüfen und zu differenzieren, um urteilsfähig zu bleiben, was schwierig geworden ist.

Der andere Hinweis, der aufschlussreich ist, gilt dem Liberalismus in Russland. „Es gibt Liberale, aber keinen Liberalismus „(164). Die Mehrheit der Liberalen habe sich rasch zu Unterstützern Putins gewandelt, darunter auch Leitfiguren wie Gaidar und Chubais, schreibt Dugin (S. 165).

Der Ökonom Gaidar war kurz Premierminister der Russischen Föderation und entwickelte die „Schocktherapiemethode“ für den Übergang zur Marktwirtschaft, und Chubais, stellvertretender Premierminister unter Jelzin, wurde mit der Privatisierung der russischen Industrie beauftragt.

Chodorkowsi ist in den Augen von Dugin dagegen wohl ein „wahrer Liberaler“. Geboren 1963 in Moskau war der Unternehmer 2004 der reichste Mann Russlands und wurde zum Putinkritiker und Rivalen. Er war zehn Jahre in Haft und lebt heute in London, von wo aus er die Opposition im Land unterstützt. Sein neuestes Buch trägt den Titel „Wie man den Drachen tötet“ und ist ein Handbuch für angehende Revolutionäre (2023). Was nach Putin kommt, weiß niemand, viele befürchten einen Bürgerkrieg.

Unter dem Titel „Kreuzzug gegen den Westen“ (S. 166ff) folgt Dugins persönliches Glaubensbekenntnis: „Ich glaube“ (wie in der katholischen Kirche), dass der Postliberalismus abgelehnt und zurückgewiesen werden muss, auch wenn „die volle Kraft der Trägheit der Moderne, der Geist der Aufklärung und die Logik der politischen und wirtschaftlichen Geschichte der europäischen Menschheit in den letzten Jahrhunderten voll hinter ihm stehen“(S. 167).

Das ist viel auf einmal, und das große „Nein“ fällt entsprechend bedeutungsvoll aus. Es will als „Vierte Politische Theorie“ zur neuen Sammlungsbewegung werden. Man kann das eine neue philosophisch-politische Querfront des Widerstands nennen, der letztlich eine neue revolutionäre Weltordnung anstrebt.

Vieles wird hier zusammengebracht und vermengt: Postliberalismus, Postmoderne und Globalisierung. Auf der höchsten esoterischen Ebene metaphysischer Kräfte beruft sich Dugin dabei immer mehr auf Martin Heidegger, den die Franzosen gerne (ohne den Namen zu nennen) schlicht ‚le philosophe‘ nennen, so wie im Mittelalter Aristoteles ‚der Philosoph‘ genannt wurde. Alle wussten, wer gemeint war.

Feinde der offenen Gesellschaft und der Würde der Einzelnen

Eine solche internationale Gemeinde hat auch Heidegger, der Jahrhundertphilosoph von „Sein und Zeit“ (1927) und Meisterdenker aus Deutschland. Was sich allerdings hinter seiner verschlüsselten „Entschlossenheit“ verbirgt, ist der Hass auf das “ Gestell“ (moderne Technik), die Wissenschaft, die nicht „denkt“, und das öffentliche „Gerede“ (die liberale Öffentlichkeit) – all das, was Popper die offene Gesellschaft nennt (1945).

Mit Heidegger überhöht sich Dugin (S. 40), der russische Nationalbolschewist, zum Philosophen. „Dasein“ als Akteur heißt ein eigenes Kapitel (S. 31ff), zuvor lesen wir das Unterkapitel Heidegger und das ‚Ereignis‘, das bezeichnend ist für Dugins Denkstil, der sich durch philosophischen Tiefsinn wichtig machen will, obwohl nichts dahintersteht, außer gefährliche Unheimlichkeiten. Auf welches Ereignis warten wir? Auf Gott oder Godot? Wer ist Godot?

Dugin nennt die Stelle „die tiefste – ontologische – Begründung für die Vierte Politische Theorie“(S. 27). Er folgt Heideggers berühmter Herleitung der These von der Seinsvergessenheit im Rückgang auf die Vorsokratiker, die sich auf dem Weg in den Nihilismus manifestiert und schließlich zur Herrschaft des „Gestells“ bzw. der modernen Technik führt. Die nächste Aussage wird deutlicher:

„Heidegger hasst den Liberalismus zutiefst, und hielt ihn für den Ausdruck der ‚Quelle des rechnenden Denkens‘, welche im Herzen des abendländischen Nihilismus angesiedelt ist“ (S. 28). Die Postmoderne, unter der Dugin allzu viel pauschal zusammenfasst, ist für ihn die endgültige Seinsvergessenheit.

Dagegen steht der im Grunde banale Begriff „Ereignis“ als Geheimnis, mit dem Heidegger die „Wiederkehr des Seins“ bezeichnet, die sich in der dunkelsten Nacht ereignen soll. Dugin überträgt das auf die aktuelle Geschichte, denn in der heutigen Krisenzeit kann es „schwärzer“ nicht mehr kommen (29). Aber was kommt mit der ‚Vierten Politischen Theorie‘? Heideggers Ereignis?

In diesem Zusammenhang muss auch Russland seinen eigenen Weg gehen, um aus der globalen Sackgasse herauszukommen im Widerstand gegen die unipolare Weltordnung (S. 30). Zunächst wird die Vierte Politische Theorie jedoch in den üblichen akademischen Zirkeln in Moskau und Sankt Petersburg diskutiert, mit alten Bekannten wie Alain de Benoist (geb. 1943), dessen Klassiker über Klassiker von links, wie rechts er besonders lobt (S. 51): Vue de droite, Paris 1977.

Dass sich diese nichtliberalen ‚Konservativen‘ von den koalitions- und regierungsfähigen Liberalkonservativen abgrenzen, wissen wir seit den Debatten über amerikanischen und deutschen ‚Neokonservativismus‘ (was ist das?) und ‚Neue Rechte‘ (die Nouvelle Droite kennen wir) in den 80er Jahren. Vieles an bekannter Liberalismuskritik von rechts, die sich zum Teil mit der von links überschneidet, wiederholt sich. Alain de Benoist für Frankreich und Armin Mohler für Deutschland spielten dabei ein produktives Paar.

Die alten Bekannten, die noch Lebenden und die Verstorbenen (Carl Schmitt 1888-1985) treffen sich im Geiste und auf Konferenzen wieder. Wer sind die Jungen? Wovon lassen sie sich überzeugen? Was also ist neu im Zusammenhang mit der Vierten Politischen Theorie und ihrer zweifelhaften Interessantheit? Was sind ihre positiven Aspekte?

Dugin schreibt zutreffend, dass das „historische Subjekt der liberalen Ideologie das Individuum ist (S. 36). Politisch müsste man noch hinzufügen: das Individuum und seine Zustimmung, darum bleibt auch der politische Kampf einer um Zustimmung. Der liberale Staat, der nicht schwach sein muss, ist sodann auf einer Zustimmungstheorie begründet (Locke, Spinoza). Richtig und wichtig ist auch der Zusammenhang mit der Freiheit. Mit welcher Freiheit? Darüber gibt es eine Debatte, die wohl nie zu Ende sein wird.

Prioritär für den Liberalen ist die „Freiheit von“ (John Stuart Mill). Über die Freiheit wozu schweigt sich der Liberalismus aus, behauptet Dugin (S. 37). Das muss nicht so sein, was zu den Schwierigkeiten demokratischer Politik führt. Faschismus und Kommunismus haben sie totalitär abzukürzen versucht und das Ziel der Geschichte oder das Glück auf Erden diktatorisch zu erzwingen versucht.

Aufgrund solcher unermesslich gewalttätigen totalitären Erfahrungen und nicht aufgrund von Texten wissen wir heute, warum wir den Individualismus und den Wert der Einzelnen verteidigen, da kann sich Professor Dugin, der Akademiker, lange darüber aufregen, wie unzulänglich die Platon-, Hegel- und Marx-Exegesen in Poppers zweibändigem Werk ‚Die offene Gesellschaft und ihre Feinde‘ sind, das oft zitiert und selten gelesen wird.

Dugin sieht Heideggers „Dasein“ als Subjekt der Vierten Politischen Theorie. Er meint tatsächlich Heidegger tauge als “ Grundlage einer ausgereiften und gut entwickelten politischen Philosophie“ (S. 40). Kühn will er in einen neuen ‚ hermeneutischen Kreis‘ jenseits des Individuellen des Liberalismus vorstoßen. An dieser Stelle tritt nun auch Carl Schmitt prominent auf mit einem „vierten Nomos der Erde“. Mit ihm will Dugin das „kolossale erkenntnistheoretische Erbe der Geopolitik offenbaren“ (S. 43).

„Räumlichkeit“ und „Ethnos“(und nicht Demos) spielen fortan argumentativ eine große Rolle, während die Fortschrittstheorie als rassistisch zurückgewiesen wird. Ethnos, Ethnizität und Ethnozentrismus sind von größtem Wert für die Vierte Politische Theorie, bei der ansonsten vieles bewusst offenbleibt. Der Marxismus wird gleichwohl benutzt bei der „Enttarnung der bourgeoisen Großerzählungen“ (S. 50), obwohl sein Selbstverständnis falsch ist.

Die Negation des Liberalismus bleibt dagegen kompromisslos und unmissverständlich: “ Wenn wir das Individuum als konstitutive Figur des sozialen und politischen Systems untergraben, können wir dem Liberalismus ein Ende machen“ (S. 52). Das ist die Mission.

Das Individuum soll abgeschafft werden, die Freiheit dagegen wird in all ihren Aspekten, auch den gefährlichen, bejaht (S. 53f). Das heißt „Daseinsfreiheit“ für den homo maximus, nicht jedoch für den kleinen Mann des Heideggerschen „Man“, die „uneigentliche Existenz des Daseins“ (Sein und Zeit, Viertes Kapitel, & 27). Die Masse will und soll geführt werden, und die Denker wollen die Führer geistig führen.

Für politische Fragen sind jedoch weder Dugin noch Heidegger geeignet oder gar zu empfehlen, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Heidegger ist der Stichwortgeber der Identitären, rechts wie links. Die konkreten politischen Feinde, mit denen man sich auseinandersetzen muss, nennt Dugin freilich schon. Es sind diejenigen, die „Gott, Tradition, Gemeinschaft, Ethnizität, Imperien und Königreiche“ ablehnen (S. 167), was zum Verlust der Identität führt. Welcher? Und welche wird dagegen ins Feld geführt?

Mit Faschismus (nicht nur Mussolini), Kommunismus (nicht nur Stalin, obwohl Stalinismus und Nationalismus in Russland nicht aufgearbeitet sind) sowie Liberalismus (nicht nur der hegemonial normative aus den USA) wird man sich weiterhin intensiv beschäftigen müssen. Der Faschismus ist heutzutage gar nicht so einfach zu definieren.

Ist Dugin ein Faschist – ohne Rassismus (S. 43 ff)? Er dreht den Spieß um: „“jeder Westler ist ein Rassist“ (Spiegel-Interview Nr. 29/2014). Und was ist der ‚Putinismus‘? Was der ‚Trumpismus‘? Man kann sich lange und umständlich bei ‚Etikettierungen‘ aufhalten. Der Streit um Worte bzw. ‚Sein und Heißen‘ ist selbst ein Politikfeld, unweigerlich.

Indessen ist auch klar: Etikettierungen, Bekenntnisse und Unterstellungen sind noch keine überzeugende Argumentation. Die ‚Vierte Politische Theorie‘ führt weg von wirklicher seriöser und konstruktiver politischer Theorie, die in unseren verwirrten Zeiten nötiger denn je ist. Objektiv und ehrlich sollte man dabei Wahrheit und Wahrhaftigkeit beachten bei allen Emotionen und Ressentiments, die wir alle haben.

Das bedeutet nötige Arbeit (nicht nur des Begriffs) an Zivilisation und Zivilisierung, Zivilität als Kombination von Freiheit und Einschränkung, robuste Zivilität als persönliche Haltung und politische Verantwortung für Zivilisation als Prozess, für Föderalismus und Demokratie, die ‚Humanisierung des Staates‘ (Elias) sowie und nicht zuletzt für stabilen und gerechten Frieden.

Im Zentrum einer solchen Politik der Würde steht: Das zweifelnde, bisweilen verzweifelte und oft mutige ‚Individuum im Widerspruch‘ im ‚Versuch, in der Wahrheit zu leben‘ (Havel). Jedes von ihnen benötigt Verteidiger und Anwälte.

Bildnachweis: IMAGO / ITAR-TASS