Selenskis ‚Siegesplan‘, den er im September Präsident Biden vorgestellt hat, will den Krieg mit „entschlossenem Handeln“ im „nächsten Jahr zu einem fairen Ende“ bringen.
Der Plan enthält vor allem Forderungen an die westlichen Verbündeten:
1. An der überraschenden Offensive in Kursk soll festgehalten werden.
2. Dadurch soll die Verhandlungsposition gegenüber Russland gestärkt werden.
3. Geht es weiterhin, wie von Anfang an, um Sicherheitsgarantien des Westens.
4. Wozu die Aufnahme in die NATO gehört.
Letzteres ist ein Punkt, den Russland seinerseits von Anfang an bekämpfte, weil es dadurch seine eigenen Sicherheitsinteressen bedroht sieht.
Sodann ist jetzt für Selenski entscheidend, „dass man Russland auf dem Schlachtfeld besiegen will“, wo sich Russland „für unbesiegbar“ hält (Putin). Er will keinen Handel weder mit Souveränität noch mit Territorien.
Dafür braucht die Ukraine die Erlaubnis, westliche Langstreckenraketen auf russischem Territorium einsetzen zu dürfen. Besondere andere „Details des Siegesplanes“ sind geheim und sollen es bleiben, so Jermak, der Leiter des Präsidialamtes. Die Umsetzung erfolgt auf feindlichem Territorium. Was die Ukraine betreibt, ist Präsidialpolitik.
Kurt Volker, der ehemalige US-Botschafter bei der NATO und US-Sondergesandter in der Ukraine, hält den Friedensplan als Siegesplan für „überbewertet“. Er glaubt nicht, dass Sieg und Frieden in greifbarer Nähe sind: „Dieser Krieg wird so lange andauern, wie Putin an diesem Plan festhält“ (Merkur.de). Selbst ein Telefonat mit Bundeskanzler Scholz lehnte er ab.
Putins Plan sei „eine schrittweise schleichende Offensive auf unbestimmte Zeit“ (Volker). Putin spielt mithin auf Zeit im Stellungs-, Artillerie- und Abnützungskrieg, mit großem eigenem Blutzoll und unglaublichen Mengen an Munition, die täglich verschossen werden. Den Abnützungskrieg wird er gewinnen.
Selenski will dagegen auf „Entschlossenheit zum Sieg im Krieg“ setzen, wozu es Opferbereitschaft und neueste Militärtechnologie braucht.
Den Krieg gewinnt die opferbereitere Partei. Die Russen sind vermutlich
opferbereiter als die Ukraine, wenn auch aus falschen Gründen. Der Ukraine mangelt es außerdem an gut ausgebildeten Soldaten an der infanteristischen Front. Der Krieg wird im Donbass am Boden gewonnen.
Die Israelis bringen große Opfer, wenn es nötig wird. Zudem haben sie Schutzräume für die Zivilbevölkerung, selbst für Spitäler, den amerikanisch-israelischen Iron-Dome, der auch ein Schutzschirm für Europa wäre, und eine überlegene Luftwaffe.
Sie zeigen, wie schon 1967 und 1973, in einem Mehrfrontenkrieg eines kleinen Landes, was Entschlossenheit im Krieg, der ein Existenzkampf geworden ist, heißt. Israel führt einen offensiven Verteidigungskrieg. Die Luftüberlegenheit und die dominante Luftkriegsführung führen zu zahlreichen (teils unnötigen) schweren ‚Kollateralschäden‘ in dichtbesiedelten Gebieten (Gaza, Beirut, Haifa).
Diese hängen auch damit zusammen, dass der Feind die Zivilbevölkerung als Schutzschilder missbraucht und sogar, wie die ‚Partei Gottes‘, die Hisbollah, Marschflugkörper in Wohnhäusern versteckt. Es ist ein ‚Domizid‘, bei dem kein Stein auf dem anderen bleibt, aber kein ‚Genozid‘. Und eine humanitäre Katastrophe mit besonders vielen Opfern unter den Kindern.
Von „Lawfare“ in Analogie zu „Warfare“ ist zu Recht die Rede. Das betrifft das Völkerrecht im Ganzen (Tagesspiegel, 7.10.). Das Ende der Pax Americana hängt mit der Krise seines Völkerrechts zusammen – Macht und Recht.
Man stelle sich vor, der Iran greift nun in den Krieg ein und greift Israel direkt an. Da Deutschlands „Staatsraison“ die „Sicherheit Israels“ ist, erklärt Deutschland Iran den Krieg und die Bundeswehr wird mobilisiert. Das ist eine lächerliche Vorstellung. Merkel wusste nicht genau, was Staatsraison (ragione di stato) bedeutet, als sie das Wort in der Knesset aussprach, Helmut Schmidt schon.
‚Staatsraison‘ – das ist Machiavelli, Richelieu, Schmitt u.a., aber keine Spur von Völkerrecht, das Vergeltung zum Beispiel (die Gewaltspirale) nicht kennt. In Situationen der Not oder Bedrohung (Krise, Krieg, Aufstand) dürfen Maßnahmen ergriffen werden, die normalerweise als illegal oder illegitim erachtet werden – Schlag, Gegenschlag, Schlag. Der israelische Gegenschlag auf den Iran steht noch aus. Wie wird er aussehen? Was wird er treffen: Ölanlagen, Repräsentanten des Regimes, Atomanlagen?
USA und Europa betreiben, bezogen auf die Ukraine und Russland, Verantwortungsdiffusion. Niemand übernimmt die Verantwortung, aber jeder zeigt mit dem Finger auf die anderen. Da ist Trump ehrlicher, der gar nicht erst verhehlt, dass ihm die Ukraine letztlich egal ist. Er will wie Orban einen Deal mit dem Militärstaat Russland erreichen, über einen Kompromiss der starken Männer.
Die lange schwer umkämpfte Festungsstadt Wuhledar im Donbass ist nun gefallen, sie wird nicht die letzte sein, Kupjansk ist das nächste strategische Ziel. Die beginnende Schlammperiode kann den weiteren Vormarsch der Russen gerade noch aufhalten.
Ansonsten sieht die militärische Lage an der ostukrainischen Front dramatisch aus, die eine chinesisch-brasilianische Friedensinitiative entlang der aktuellen Linien nach dem Vorbild des Korea-Krieges (1950-53) einfrieren will.
Einen nachhaltigen Frieden gibt es dort bis heute nicht, wo Machthaber Kim immer unverhohlener nukleare Drohungen gegen Südkorea und die USA ausspricht. Zudem liefert Nordkorea einen erheblichen Teil der Artilleriemunition nach Russland.
Die Unterstützung aus dem Westen für die Ukraine bleibt so, wie sie immer war: halbherzig, „solange es nötig ist“ (Scholz), „bis zum Sieg“ (Biden). Bis zu welchem Sieg?
Die Ukraine bräuchten High Tech in unbekannter Größenordnung, einen Iron Dome, schlagkräftige Luftwaffe, weitreichender Raketen, frische Kräfte in der Infanterie, mehr Artilleriemunition.
Die Ukraine entwickelt bereits eine eigene Drohnentechnologie, die der russischen Armee schwere Schläge zugefügt hat (auf der Krim, gegen die Schwarzmeerflotte). Im Geheimen ist eine Langstreckenrakete in Arbeit (t-online, 6.10.).
Selenski lobt die Kursk-Offensive, die seinem Land helfe, indem sie zeige, dass die Ukraine den Krieg nach Russland, dem Land des Aggressors, tragen könne. Militärexperten sind sich allerdings uneins, ob sie den russischen Vormarsch im Donbass verlangsamen wird.
Selenski hofft auf eine historische Ramstein-Konferenz am 12. Oktober für seine Vision, wie der Krieg enden soll. Auch Bundeskanzler Scholz will er seinen Friedensplan als Siegesplan erläutern. Präsident Biden wird anwesend sein.
Die Initiative zur Zusammenkunft der Kontaktgruppe auf der amerikanischen Militärbasis in Rheinland-Pfalz kommt vom Weißen Haus. Selenski ruft die Partner dazu auf, „zu definieren, wie sie sich das Ende des Krieges vorstellen“. Russland, das den hybriden Krieg gegen die USA und Deutschland verstärkt (siehe auch t-online, 27.9.), soll „zum Frieden gezwungen werden.“
Aber Biden scheint im Moment geschwächt, nicht nur aus gesundheitlichen Gründen. Biden will führen, aber er beschwichtigt nur, im Nahen Osten wie im Ukraine-Krieg. Das Momentum der nötigen Entschlossenheit liegt bei anderen.
Biden hat keinen Plan, Harris hält sich bedeckt und Trump führt in großen Tönen Wahlkampf. Die Situation könnte nicht ungünstiger sein, um verantwortbar große Entscheidungen zu fällen, die Mut und Führungsstärke erfordern. Der Supermacht gehen die Kräfte aus. Sie wird ihren Fokus in den kommenden Jahren Richtung Pazifik verschieben.
Mit seiner Angst vor Eskalation schwächt sich der Westen selbst (NZZ). Die amerikanischen Geheimdienste warnen vor Konsequenzen, da russische Vergeltung droht (Frankfurter Rundschau, 29.9.). Es steigt das Risiko für die USA und ihre Verbündeten.
Die Befürworter für den Einsatz westlicher Langstreckenwaffen argumentieren militärisch: er würde den Vormarsch der russischen Truppen stoppen, indem er den Nachschub treffen kann. Das wiederum bezweifeln die Gegner eines solchen Einsatzes, welche das Risiko der Vergeltung auf militärische Anlagen in Europa durch den russischen Militärgeheimdienst (GRU) hoch einschätzen.
Also sowohl 1. der militärische Nutzen wie 2. die mögliche russische Reaktion stehen infrage. Moskau sendet seinerseits eindeutige Signale an den Westen, den Ukraine-Krieg nicht nuklear eskalieren zu lassen (Peskow am 26.9.). Biden und der Westen haben keine ‚Theorie des Sieges‘, Putin schon.
Russland schürt die Angst vor einem großen Krieg. Der Westen wird als Feindbild aufgebaut, und die Ukraine ist darin lediglich sein Vasall und keine selbstbestimmt kämpfende Nation. Die NATO ist gespalten. Der Frieden selbst ist zu einem Kampfbegriff geworden.
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