Neutralität ist weder eine einfache Haltung, noch in vielen Fällen einfach zu vermitteln. Seit ich weiß ist, ist sie in meinem Heimatland Schweiz bei wichtigen politischen Vorlagen immer wieder umstritten.
Dabei ging es in den 60er und 70er Jahren – pauschal gesprochen – auch um einen Generationenkonflikt zwischen der Aktivdienstgeneration, der unsere Lehrer und mein Vater angehörten, und einer jüngeren Generation mit ihren Utopien. Die Jüngeren sind inzwischen älter geworden und konnten neue Erfahrungen und Kenntnisse sammeln aufgrund deren sie angesichts neuer Herausforderungen wie dem Ukraine -Krieg heute als politische Schweizer urteilen, während die heute Jüngeren aus ihrer Spontaneität heraus, von Traditionen unbelastet, reagieren.
Auf der einen Seite stehen die strikten Befürworter einer integralen Neutralität. Seit der äußerst knapp gewonnenen EWR-Abstimmung 1992 schwingt sich die oppositionelle Schweizerische Volkspartei (SVP) superpatriotisch zur Gralshüterin der schweizerischen Neutralität auf. So verhinderte sie 2021 auch eine konstruktive Europadiskussion beim gescheiterten Rahmenabkommen (siehe den Blog Die Schweiz als Antithese?). Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die entweder gar kein Verständnis für Neutralität haben oder sie als aktive Friedenspolitik ohne Waffen begreifen (zum Beispiel die ‚Gruppe Schweiz ohne Armee‘, GSOA).
Es stehen sich damit nicht nur politische (Partei-)Positionen, sondern Welten gegenüber: die Notwendigkeiten militärischer Selbstverteidigung hier und die visionäre Friedensforschung dort. Kompromisse gibt es nicht, was der momentane Ernstfall des Ukraine-Krieges bis hin zur Angst vor einem Atomkrieg wieder deutlich zeigt, denn, wenn es sich um einen legitimen Verteidigungskrieg gegen einen übermächtigen Aggressor handelt, geht es für einen politischen Schweizer primär um die richtigen Waffen zur richtigen Zeit!
Drei Ebenen der Diskussion sind zu unterscheiden:
- Neutralitätsrecht,
- Neutralitätspolitik,
- Bündnispolitik.
Das Neutralitätsrecht im engeren Sinne bezieht sich auf Staatenkriege, mithin auf den Staat und nicht die Wirtschaft. An solchen Kriegen beteiligen sich neutrale Staaten nicht, sie erlauben auch keine Transit- oder Überflugrechte für kämpfende Truppen. Die Kriegsparteien werden gleichbehandelt, auch bei Waffenlieferungen. Ein strenges Waffenausfuhrgesetz ist die Folge. Schwierig wird es bei den Wirtschaftsfragen, womit wir bei der Neutralitätspolitik im weiteren Sinne sind, die mehrere Handlungsoptionen eröffnet bis hin zur Bündnispolitik, siehe jetzt Finnland und Schweden.
Seit Beginn des Ukraine-Krieges am 24. Februar 2022 laboriert die Schweiz an ihrem Neutralitätsverständnis. Es ist weder nach innen konsolidiert noch wird es nach außen glaubwürdig vertreten (NZZ 26.4.22, S.24). Für Russland ist die Schweiz nicht mehr neutral, sie wird zu den „feindseligen Staaten“ gezählt.
Ohnehin scheint die Neutralität für die sogenannten ‚Guten Dienste‘ der Vermittlung, die ein Kleinstaat anbieten kann, keine Bedingung mehr zu sein. Diese Lücke füllt jetzt die Türkei, die nur auf dem Papier eine Demokratie ist. Am 16.6. 2021 sind Putin und Biden in Genf, dem ‚protestantischen Rom‘, wohl zum letzten Mal zu einem Gipfel zusammengekommen.
Die Schweiz verfolgt einen „Zickzackkurs“ bei der Auslegung der Neutralität (11.4.22, NZZ): der Bundesrat verurteilte zwar die russische Invasion von Anfang an, hielt sich aber bei den Sanktionen zurück. Später solidarisierte sich Bundespräsident Cassis bei einer Demonstration in Bern mit Präsident Selenskyi, der zugeschaltet war und von der Schweiz vor allem ein konsequentes Verhalten gegenüber den russischen Oligarchen, die Kleptokraten sind, verlangte.
Auch heute wieder lautet die Kritik: „Kniefall vor den Oligarchen“ (FAZ, 19.5.), selbst presserechtlich, was besonders bedenklich ist. Was jedoch die Tellensöhne ins Herz trifft, ist der Vorwurf: „Die Neutralität nutzt den Tyrannen“ (Maria Ressa). Diese moralisch empörenden Argumente sind nicht neu und werden seit den 60er Jahren immer wieder vorgebracht, nur die Namen der Kontoinhaber wechseln. Zahlreiche Proteste und Initiativen haben seitdem zwar kritische Öffentlichkeit geschaffen, aber wenig bewegt.
Die oppositionelle SVP wirft andererseits der Regierung vor, die Neutralität zu verraten, die Demonstranten auf der Straße wiederum werfen der Regierung vor, unter ihren Möglichkeiten der Solidarität zu bleiben, was stimmt. Der Finanzplatz verschont die superreichen Russen, obwohl Milliarden an Vermögenwerten eingefroren worden sind. Bei der Regulierung des Finanzplatzes mit seinen schmutzigen Geschäften musste immer wieder amerikanischer Druck von außen nachhelfen. Proteste und Initiativen kamen gegen diese globale Macht nicht an.
Die spontane Solidarität der Bevölkerung ist gross. Sie hat Landesverteidigung nie so verstanden, dass in erster Linie die Geschäfte der Grossbanken und Superreichen geschützt werden sollen. Auch der „Ausverkauf der Heimat“ durch Wohnungs- und Bodeneigentum ist seit den 50er Jahren ein vor allem für die Gemeinden und ihre Autonomie ambivalentes politisches Thema (beginnend mit dem Tessin, aktuell durch den Aufkauf reicher Russen).
Die Sympathien liegen eindeutig beim ukrainischen Widerstand gegen den übermächtigen Aggressor, wie das schon bei früheren Generationen politisch prägend gewirkt hatte : beim finnischen Winterkrieg 1939 (die Wehrpflicht ist nie abgeschafft worden), beim Ungarnaufstand 1956 und dem bewunderten israelischen Sechstagekrieg 1967, den wir sogar an den Schulen verfolgten. Hier wirkt sich der Mythos der wehrfähigen Schweiz demokratisch aus und kann sich mit der humanitären Tradition verbinden.
Im gegenwärtigen Kontext sucht die Schweiz ihre neutralitätspolitische Rolle noch. Der letzte Neutralitätsbericht stammt aus dem Jahre 1993, dem Ende des Kalten Krieges. Ein neuer ist in Arbeit, der die Neutralität im 21. Jahrhundert erklären soll. Bisher fehlt eine klare Sprachregelung, klar ist lediglich: Neutralität ist ein historisch-politischer Begriff, der sich seit dem Westfälischen Frieden 1648, dem gescheiterten Völkerbund und der UN-Charta nach dem 2. Weltkrieg verändert hat.
Nicht zufällig ist diesem Begriff ein profunder Artikel in den „Geschichtlichen Grundbegriffen“ gewidmet, ein Eintrag im „Historischen Wörterbuch der Philosophie“ fehlt dagegen. Die Wertneutralität wird allerdings im Zusammenhang mit der Frage der wissenschaftlichen Objektivität (Max Weber, Die Objektivität sozialwissenschaftlicher Erkenntnis, 1904) und einer Theorie der Gerechtigkeit (John Rawls 1971: ‚the veil of ignorance‘) erörtert.
Bei aller Diffizilität im Einzelnen existiert ein tieferliegender Zusammenhang mit den unumgänglichen Themen der Neutralität und Unparteilichkeit. Methodisch-prozedurale Neutralität muss auch im Politischen, und sei es nur als Insel im Meer der Praxis, möglich sein. Wie man sie herstellt und demokratisch verbreitert, ist umstritten. Ein Zukunftsspitter in der Vergangenheit der schweizerischen Neutralität findet sich in der Idee der Friedensstiftung, die über die moderne Vermittlung der ‚Guten Dienste‘ hinausgeht. Dafür steht Niklaus von Flüe (1417-1487), Bergbauer, Soldat, Eremit, Mystiker, der politisch einflussreich und 1947 heiliggesprochen wurde. Er gilt als Schutzpatron des eidgenössischen Bundes.
Bei der nötigen Neujustierung der Neutralität ist politisches Denken gefragt, das nicht schematisch auf alle Fälle passt, sondern konkrete Urteilskraft verlangt. Diese wiederum hängt mit den grundlegenden Fragen zusammen, wie die internationale Ordnung Krieg und Frieden definiert, so der Zürcher Völkerrechtler Diggelmann (NZZ, 9.5.22, S.28).
Die Aussage des modernen Völkerrechts ist eindeutig: in dieser Krise kann die Schweiz nicht abseits stehen. Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine wird von einem Mitglied des UN-Sicherheitsrates die internationale Friedensordnung attackiert, welche auch die neutrale Schweiz schützt.
Äquidistanz ist weder möglich noch bei der veränderten geopolitischen Lage sinnvoll. EU-Beitritt und Nato-Unterstützung sind kein Tabu mehr. Die sichtbare Zerstörung und Vertreibung der Zivilbevölkerung sowie mutmassliche Kriegsverbrechen kommen hinzu. Carla del Ponte hat nach den Jugoslawienkriegen in den 90er Jahren vorgemacht, wie diese zu verfolgen sind.
Das kleine, arme, neutrale Moldawien, das im Verhältnis zur Bevölkerung am meisten Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen hat, ist als nächstes dran. Da muss die kleine reiche Schweiz aufschreien und sich bemerkbar machen. Schon im Fall von Georgien 2008 geschah dies nicht. Die Schweiz muss auch mit unkonventionellen Aktionen zur Anwältin des Völkerrechts werden, denn es dient den kleinen Staaten und kritisiert die (Gross-)Machtpolitik, die international auf dem Vormarsch ist.
Im Grunde genommen ist die Schweiz politisch in einer ähnlichen Situation wie Finnland und Schweden, nur geographisch nicht derart exponiert. Es gibt auch eine „Geographie der Neutralität“ (Schwarz): das heisst Kooperation mit der Nato, wenn es der eigenen Verteidigung dient, und „wohlwollende Unterstützung aus der Distanz“, wenn die Nato versucht, eine Bedrohung ihres Territoriums abzuwehren, zu dem objektiv auch die Alpenrepublik gehört (NZZ, 4.5.22). Allein schon luftpolizeilich kommen hier Aufgaben auf sie zu. Das Zauberwort lautet: „Interoperationalität“, die nicht vom Himmel fällt, sondern vorbereitet und geübt werden muss.
Durch diese Nähe wird die militärische Bündnisfreiheit nicht aufgegeben, ebenso wird es Österreich halten. Beide Alpenrepubliken pflegen die Landesvereidigung und modernisieren ihre Armee. Sie befinden sich unter dem Sicherheitsschirm der USA, dem sie vertrauen. Der amerikanische Präsident Biden macht bündnispolitisch gerade sehr viel richtig: “ Ich freue mich, sie neue Verbündete nennen zu dürfen“, so am 19. Mai in Washington gegenüber Finnland und Schweden. Auf die Wahlen 2024 muss man deshalb schon jetzt mit Sorgen blicken. Siehe auch die Blogs: Die atlantische Allianz ist gestärkt, und: Bidens Besuch in Polen und die ‚heilige Verpflichtung‘ (26. und 27. März 2022). Diesen Hintergrund wird die EU auch mit einer noch so starken Achse Frankreich/Deutschland nicht ersetzen können.
Schon in der Konstellation des Kalten Krieges wurde in der Schweizer Armee ‚blau gegen rot‘ geübt und in der Theorie (‚Panzerkiste‘) kannte man die Panzer des Warschauer Paktes und seine Angriffstaktik, auf die man sich einstellte. Die Parole „lieber rot als tot“ galt nie. Natürlich gab und gibt es Risse, Skandale und Affären, selbst mitten im Krieg, zum Beispiel die ‚Obersten Affäre ‚ 1916, wo eine Seite mit Frankreich, die andere mit Deutschland sympathisierte. Im zweiten Weltkrieg war das Verhalten der neutralen Schweiz nicht weniger frei von Widersprüchen und falschen Verstrickungen, so das Urteil der Historiker-Kommission (Bergier-Bericht 2002). Die Schweiz verdankt den USA und GB viel.
In manchen Hinsichten ist die Landesvereidigung noch immer ein Vorbild für die wehrhafte Demokratie, die Bürgerinnen und Bürger nicht einer Berufsarmee überlassen dürfen. Demokratien müssen sich vielmehr verteidigen können und dürfen sich nicht einschüchtern lassen. Das ist mir zum ersten Mal aufgefallen, als das chilenische Militär gegen Salvador Allende 1973 mit unseren Sturmgewehren geputscht hat.
Die Verteidigungsfähigkeit bleibt eine grundlegende Prämisse demokratischer politischer Theorie, obwohl der Mythos der wehrhaften Schweiz nach dem zweiten Weltkrieg männerbündlerisch überzogen und instrumentalisiert worden ist in Richtung einer „Diktatur des Patriotismus“ (Tschäni 1972 , der Untertitel lautet bezeichnenderweise: für eine freiere Schweiz).
Insbesondere die Superpatrioten (siehe auch: Frischknecht u. a., Die unheimlichen Patrioten 1979) zogen diese Karte und die heimlichen Patrioten verstummten – auch wegen der prinzipiell schwierigen Europapolitik. Vor diesem Hintergrund spielte sich der Streit über den „wehrhaften Bürger“ im Sinne des machiavellischen Republikanismus der Unabhängigkeit versus liberale Freiheiten des modernen Individuums ab, den die konservativen Eidgenossen kulturell zwar verloren, aber politisch gewannen. Die ‚Amerikanisierung‘ und die Wohlstandsgewinne zeitigten überdies den Effekt, dass der Konsument über den Bürger siegte, jedoch nicht ganz. In Wirklichkeit nehmen Bürgerinnen und Bürger gleichzeitig verschiedene Rollen wahr.
Eine Milizarmee kann nicht preußisch-autoritär geführt werden. General Wille war ein Preußenfan, sein politischer Gegenspieler hiess Robert Grimm (1881-1958), der Sozialdemokrat und Anführer des Generalstreiks war. Die militärische Stärke der eidgenössischen Verteidigung ist ein handlungswirksamer Mythos, der intern stets umstritten war und zum Glück nie ernsthaft geprüft worden ist. Ausländische Beobachter haben ihn bekräftigt. Dazu gehört heute auch der Zivilschutz.
In diesem Sinne waren die meisten politischen Schweizer nie Neutralier trotz der vernünftigen staatspolitischen Maxime des Kleinstaats. Im Gegenteil: viele denken aktuell geradezu emphatisch mit den ukrainischen Soldatinnen und Soldaten, die jetzt die richtigen Waffen brauchen und auch vor dem übermächtigen Gegner mit seinen erpresserischen Drohungen nicht kapitulieren. Freiheit und Demokratie stehen im Wertekanon vor der Neutralität. Das hat aber nicht immer die außenpolitischen Auswirkungen, die man sich wünschen würde, was dem besonderen Regierungssystem geschuldet ist.
Der schweizerische Bundesrat ist keine starke Regierung, eher eine Verwaltungsbehörde der Konkordanz. Es gibt große Departemente, aber keine „Minister“, die dem Staat dienen (ministrare), Der Staat, der Bund, ist seinem Selbstverständnis nach eher ein Bürgerstaat, und die Regierung eine kollegiale Behörde (‚Bundesbern‘). Der Bundespräsident ist kein Kanzler mit Richtlinienkompetenz. Das hat innenpolitische Vorteile, außenpolitisch wirkt es aber inkohärent und inkompetent. Neutralitätspolitisch sind gleich mehrere Departemente zuständig: für Überflugrechte, Finanzmaßnahmen, Waffenexporte, Wirtschaftssanktionen.
Der Bundesrat kann so den Ukraine- Krieg nicht als umfassende Krise verstehen: die Lageverfolgung verbleibt in den „Silos der einzelnen Departemente“ (Häsler, NZZ, 27.4.22). Die einige und führende Stimme des Gesamtbundesrates in der Außenpolitik fehlt, weswegen es zu blamablen Irritationen kommt.
So lehnte zum Beispiel das Staatssekretariat für Außenwirtschaft (Seco) ein deutsches Gesuch, Munition für den Schützenpanzer Marder an die Ukraine zu verkaufen, ab, indem auf das strenge Waffenausfuhrgesetz hingewiesen wurde. Indirekte Waffenlieferungen über ein Drittland sind aber mit einem heutigen Verständnis von Schweizer Neutralität durchaus vereinbar, so der Militärexperte Häsler (NZZ, 27.4.22).
Von grundlegender Bedeutung ist die „Kohärenz einer Aussenpolitik“, die durch die „weltpolitische Gesamtsituation“ bedingt ist (so Diggelmann, a.a.O.). Wer als Neutraler geachtet werden will, muss verschiedene Elemente der Neutralitätspolitik wie die Regulierung des Finanzplatzes, das Mittragen von Friedenslasten wie die KFOR-Mission im Kosovo (1999 ff) und die Festlegung des Waffenexportregimes praktizieren. Neutralitätspolitik, Europapolitik, Wirtschafts- und Außenpolitik sind wieder stärker am Völkerrecht und einer wertebasierten Globalisierung auszurichten.
Da heißt es realistisch bleiben oder witzig werden. Man könnte ja die Armee schrumpfen lassen bis auf die Wachtmeister und dann der Uno unterstellen, die eine solche schnelle Eingreiftruppe benötigt. Die Wachtmeister wissen, wie der Hase läuft und haben keine falschen Ambitionen mehr. Leider würden die falschen Gralshüter der Neutralität, die schon 1986 gegen den Uno-Beitritt gestimmt haben, wieder entschieden dagegen mobilisieren und als Europas erfolgreichste Direktdemokraten möglicherweise sogar gewinnen.
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