Was heißt ‚christlich‘?

  1. Home
  2. /
  3. Blog
  4. /
  5. Was heißt ‚christlich‘?

Die Bezugnahme auf das „christliche Menschenbild“ ähnlich wie die häufige Redeweise „auf dem Boden des Grundgesetzes“ stehen, spielt im rhetorischen Vordergrund (an der Oberfläche) ebenso eine große Rolle in der bundesrepublikanischen Gesellschaft wie im prägenden, selten expliziten und reflektierten Hintergrund (als Hintergrundphilosophie). 

Niklas Luhmann sprach diesbezüglich treffend von „Grundwerten als Zivilreligion“ (1978). 

Es gibt also Grundwerte: für die Christdemokratie sind dies ebenso wie für die Sozialdemokratie: Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit in dieser Reihenfolge. 

Ein Wort fehlt allerdings noch in diesem schönen Dreiklang: Sicherheit, die modern im Vordergrund steht, mit buchstäblich gewaltigen Konsequenzen, denken wir nur an die Kernaufgaben des Staates. 

Auf einer anderen Ebene liegen die Normen der Verfassung: hier stehen an erster Stelle die unantastbare Würde des Einzelnen (Art.1) und die Grundrechte. 

Das sind nicht einfach Werte in der heutzutage inflationären und additiven Rede von Werten. Werte sind nicht überflüssig, wenn man sie genauer definiert, aber im Allgemeinen nicht präzis und vorrangig genug. Wer schafft nicht alles Werte, der Begriff ist nicht zufällig ökonomischen Ursprungs. 

Die Grundrechte und die Würde des Einzelnen und seine Freiheit hingegen sind prioritär: Grundrechte und Demokratie. Sie begründen eine Grundrechte-Demokratie und eine Politik der Würde. 

Das lässt sich historisch-genealogisch und politisch-aktuell in Verbindung bringen mit dem Christentum und dem Christlichen. Man muss aber nicht Christ sein, um die genannte Normebene für prioritär zu halten, potenziell gilt diese für alle. 

Diese Normen sind wichtiger als die Werte. Und schließlich die Tugenden und Laster, die einen Großteil der Moral darstellen (siehe Martin Seel, 111 Tugenden, 111 Laster. Ffm 2012, 3. Auflage). 

In der Ethik gilt es, ein menschliches Maß zu wahren: Tugendethik ohne Tugendterror (Kleger 2015). Die höchsten Werte und Ideale des Christentums und Kommunismus sind kompromittiert worden durch die Intoleranz und den Fanatismus derjenigen, die für sie eingetreten sind. 

Das genaue Gegenteil der Irenik ist nicht die Polemik, sondern der Fanatismus, der geistige Wurzeln hat. 

Was bedeutet dann noch das spezifisch Christliche? Was sind christliche Werte und Tugenden? 

Gehört dazu der Bezug auf Gott, sei es als Präambel in der Verfassung, sei es als Eidesformel, sei es im Programm einer christlichen Partei? Welcher Gott ist gemeint? Der Vatergott? Der Beobachter-Gott? Der gütige Gott? 

Von einem Christentum ohne Gott (Sölle) ist schon gesprochen worden, sogar von einem atheistischen Christentum (Bloch). Die Zivilreligion in ihren zahlreichen beispielhaften Facetten gibt es jedenfalls mit und ohne Gott. Das ist gerade für die bundesrepublikanische Zivilreligion zu beachten. Siehe Rolf Schieder (Hg.), Religionspolitik und Zivilreligion, Baden-Baden 2001. 

Eine gute Definition, die auch für die friedliche Revolution in der DDR eine Rolle spielte, habe ich gefunden in „Wege und Grenzen der Toleranz“: „Gott ist Liebe (…), Toleranz aus liebender Zuwendung zu Menschen ist gelebter Glaube“ (herausgegeben im Auftrag der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg von Manfred Stolpe und Friedrich Winter, Berlin 1987, S.10f.). 

Dies könnte man/frau auch unterschreiben, wenn man/frau nicht an Gott glaubt und nicht mehr Kirchenmitglied ist. Es ist Bürger/innen glaube, der demokratisch tragend bleibt. 

Im Programm einer christlichen Partei (siehe das neue der CDU „In Freiheit leben“ 2024) steht auf jeden Fall explizit das „christliche Menschenbild“ im Mittelpunkt. Was bedeutet das? 

Im Zentrum steht die “ unantastbare Würde des Menschen in jeder Phase seiner Entwicklung“ (Kind und Alter, ungeborenes Leben?), eines “ von Gott geschaffenen Wesen“ als „einzigartig, unverfügbar, frei und selbstbestimmt“. Das erklärt die tiefe Verbindung mit der Freiheit, die der wichtigste Grundwert ist, und mit einer politischen Verfassungs- und Wirtschaftsordnung als Experiment der Freiheit zusammenhängt 

Zugleich ist die Christdemokratie auch den Traditionen der Aufklärung, was nicht weiter ausgeführt wird, verpflichtet. Der Streit um Aufklärung gehört allerdings zum Streit in der Demokratie. 

Für die Politik bedeutet dies, dass sie „von der einzelnen Person ausgeht“ sowie „individuelle Freiheit und die Verantwortung für andere verbindet“. Auch das Verständnis von Verantwortung (etwa vor Gott) wird an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt, wohl aber wird die Abgrenzung vom „libertären Individualismus“ genannt ebenso wie die Abgrenzung vom Kollektivismus, sei er sozialistisch, nationalistisch oder völkisch. 

Bei Zielkonflikten sucht man pragmatisch die „gerechte Mitte“, das ist volksparteiliche Strategie, die in sich schon vieles integriert und dennoch demokratisch als politische Kraft auftritt. 
Danach folgt die Definition der bekannten Grundwerte (S.10/11). Soweit das konzise begriffliche Grundgerüst von „In Freiheit leben“. 

Das große ‚C‘ im Parteinamen bezieht sich vor allem auf dieses christliche Menschenbild und seine Ableitungen. Ist es überhaupt noch nötig und sinnvoll? 

Die CVP in der Schweiz hat sich 2021 in „Die Mitte“ unbenannt. Die Mitte von was? Die absolute Mitte gibt es nicht, die Mitte wandert. Gerade die Geschichte dieser klassischen Konkordanzpartei demonstriert dies, bis hin zur linken Mitte in den 50er und 60er Jahren (Mitbestimmung, Sozialpolitik). 

Ihr konservatives katholisches Milieu, auch das christlich-soziale Arbeitermilieu, löste sich freilich zunehmend auf. Vor allem auf dem Land verlor sie Bastionen an die nationalkonservative SVP, die das bürgerliche Lager durch ihren oppositionellen Biss gegen die EU und die Masseneinwanderung polarisierte und direktdemokratisch erfolgreich war. 

Die selbsternannte ‚Mitte‘ ist umzingelt von Konkurrenten: der liberale Freisinn, die linke 
Sozialdemokratie, die Grünen und die Grünliberalen. Die schweizerische Zauberformel des Regierens wird schwieriger. Der Ausgleich zum modernen Bundesstaat und Sozialstaat waren historische Projekte im 19. und 20. Jahrhundert, an denen die Christdemokratie, neben dem Freisinn und der Sozialdemokratie beteiligt war. 

Das Christentum soll man stärken und gleichzeitig schonungslos kritisieren. In der heutigen Weltanschauungs-, Moral- und Bekenntniskonkurrenz, die sich dauernd engagiert zu überbieten versucht, beziehen sich polemisch auch andere auf diesen Schatz. 

Zum Beispiel bei Härten in der Sozial- oder Flüchtlingspolitik: „Der eine trage des anderen Last“, hieß es beispielsweise in den Protesten gegen die Hartz-Reformen („Armut per Gesetz“) im weitgehend konfessionslosen Ostdeutschland. 

„Engagement“ (aus der französischen Existenzphilosophie) ist nach dem zweiten Weltkrieg bis heute in Deutschland die an sich positive Haltung (als Tugend) geworden, vornehmlich als bürgerschaftliches Engagement (deutsch: Ehrenamt). So viel ist, ausnahmsweise für einmal, unstrittig. 

Beim Christlichen in diesem Sinne denken viele zuerst an die Nächstenliebe und die Hilfe des „Barmherzigen Samariters“. Der theologische Überbau und die Kirche spielen dabei kaum eine Rolle. Die Barmherzigkeit indes ist wieder zu entdecken. 

Seit den 60er Jahren geht die Religionssoziologie nicht mehr in Kirchensoziologie auf, und die fortschreitende Säkularisierung bedeutet nicht das Ende der Religion. In diesen Kontext gehören die Zivilreligion und die Theorie des Christentums. Woraus lässt sich schöpfen? 

Aus der jesuanischen Praxis, zum Beispiel die Gleichnisse, etwa wenn Jesus mit dem Zöllner isst. Schwieriger wird es mit den Arbeitern im Weinberg oder dem anvertrauten Geld des Gutsbesitzers. 

Zum christlichen Menschenbild gehört auch, von Gott angenommen zu sein, wie man ist: Toleranz als Akzeptanz. Das geht schon in Richtung einer universalen Zivilreligion. 

Jesus hat viele Gleichnisse in den Evangelien (griechisch ‚euangelion‘: die gute Nachricht) erzählt. Sie haben die Funktion der Veranschaulichung und der Lebensveränderung und 
stehen in der prophetischen Tradition: das Göttlichste an Gott ist die Liebe. 

Religion des Bürgers als Bürgerglaube

Grundwerte und Grundrechte sind auch für nicht religiös Gläubige oder Überzeugte moralisch und rechtlich verbindlich. Sie sind potentiell für alle zugänglich und verbindend- verbindlich. Auch eine christliche Partei ist heute in der Demokratie, in der sie um Mehrheiten ringt, der vielfältigen Aufklärung, insbesondere den Bürger- und Menschenrechten verpflichtet. 

Ihre Religion ist keine voraufgeklärte Religion. Das heißt: sie ist für die Religionsfreiheit, auch für Bürgerreligionsfreiheit, einschließlich der verbreiteten Indifferenz. Im Miteinander, das nicht konfliktfrei ist, gilt das Grundgesetz, die Verfassung als oberste Rechts- und Normebene. 

Die CDU ist heute so christlich wie das Grundgesetz christlich ist oder nicht. 
Wesentlich ist Matthäus 22, 21 “ gib dem Kaiser, was dem Kaiser ist, und Gott, was Gottes ist“. Das Christentum verlangt keinen christlichen Staat, sondern die Trennung von Kirche und Staat und im Kern einen liberalen Rechtsstaat, der den Einzelnen verteidigt. 

Der christliche Sozialismus des Ahlener Programms (Bergpredigt) ist historisch nicht prägend geworden für die Christdemokratie. Stattdessen haben ihre Gründungsfiguren den Weg zur allenfalls moderierten sozialen Marktwirtschaft gewiesen. Das Soziale bleibt flexibel, jedenfalls ist es den strukturierenden Elementen Rechtsstaat und Marktwirtschaft untergeordnet. 

Sie steht auf dem gemeinsamen Boden des Grundgesetzes bei allen verschiedenen Meinungen und Gesinnungen. 

Berühmt ist das Diktum des Rechtsgelehrten und Verfassungsrichters Ernst-Wolfgang Böckenförde, der liberale Rechtsstaat lebe von Voraussetzungen, die er selber nicht garantieren kann. Die Zivilreligionsforschung kann dies belegen, siehe zum Beispiel Wolfgang Vögele, Menschenwürde zwischen Recht und Theologie. Begründungen von Menschenrechten in der Perspektive öffentlicher Theologie, Gütersloh 2000, S.492. 

Diese Religion des Bürgers als Bürgerglaube ist weder christlich noch unchristlich, das ist nicht die Hauptfrage. Die kontroversen Fragen liegen vielmehr auf der Ebene politischer Theorie und ihrer Ressourcen für eine Verfassungs- und Wirtschaftsordnung. 

So ist es nicht schlimm, obwohl bezeichnend, wenn Gott oder das Christliche aus Eidesformeln (Kanzler Schröder zuerst) und der Namensgebung von Parteien verschwinden. Auch Gott ist nur ein Zeichen in gottlosen Zeiten, und das Christliche verflacht zusehends. Wer versteht heute zu Pfingsten noch, dass der heilige Geist ein Zeichen der Wirkkraft Gottes ist. 

Bedenklicher ist es, wenn das Christliche über den Bedeutungsverlust der Kirchen hinaus aus der Gesellschaft verschwindet. Das ist ein spürbarer antiziviler Verlust, der nicht wieder kompensiert werden kann. Wir sehen das am intellektuell-politischen Niveau der genaueren inhaltlichen Diskussion von Normen, Werten und Tugenden, deren Ebenen zu differenzieren sind. 

Genauigkeit, Objektivität, Ehrlichkeit und Intersubjektivität sind in diesen, jede Person betreffenden Fragen, besonders wichtig. 

Die verschiedenen Ebenen (Normen, Werte, Tugenden) sind auseinanderzuhalten, und die ethisch-politischen Dimensionen gesondert zu betrachten und zu gewichten. 

Dabei kommt es auf jedes Wort an. Die Desorientierung, Verwirrung bis hin zur Verrohung fängt im Geist und bei der Sprache an. Auch wenn wir alle niemals perfekt sind, so tragen wir doch eine Verantwortung dafür.

Bildnachweis: Bild von Gerd Altmann auf Pixabay