Was hat die Christdemokratie ideenpolitisch noch zu bieten?

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„Volkspartei der Mitte“ nennt sie sich selber, man darf die CDU/CSU als einzig verbliebene Volkspartei nicht unterschätzen. Sie hat eine imposante Geschichte, die mit mehreren Weichenstellungen der Bundesrepublik Deutschland nach dem 2.Weltkrieg verbunden ist: Westintegration, soziale Marktwirtschaft und Sozialstaat, deutsche Wiedervereinigung und europäische Integration. Wer die BRD begreifen will, muss sich mit der CDU beschäftigen.

Für sie gilt dasselbe wie das Motto einer Aktion für den deutschen Wald: „Dem Morgen starke Wurzeln geben.“ Da hat sie den Grünen einiges voraus, ob sie den Wald und die Bäume heute allerdings genauso gut pflegt, steht in Frage. Die CDU war nach dem Krieg eine politische Innovation: 1950 wurde sie als transkonfessionelle Sammlungsbewegung des christlich-bürgerlichen Lagers gegründet und ist bis heute eine der erfolgreichsten Volksparteien in Europa. Sie allein als konservative Partei zu beschreiben, greift zu kurz. Die Kombination verschiedener Elemente, vor allem die Adenauersche Westintegration, aber auch die erfolgreiche soziale Marktwirtschaft und der Sozialstaat, hinter deren Entstehungsgeschichte Kompromisse zwischen protestantischem Ordoliberalismus und katholischer Soziallehre stehen (Manow, Hißler), bescherten der CDU bis in die Mitte der 60er Jahre hinein stabile Mehrheiten.

1978 verabschiedet die CDU ihr erstes Grundsatzprogramm. Seitdem ist davon die Rede, dass sie liberale, konservative und soziale Grundsätze vereint. Jeder dieser Grundsätze ist für sich erläuterungs- und interpretationsbedürftig. Ihre Weiterentwicklung orientiert sich fortan am konkreten Regierungshandeln. Die CDU ist weniger eine Programmpartei als die SPD, teilt aber dieselben Grundwerte: Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität. Dieser weite Spannungsbogen macht die erfolgreiche politische Mitte aus, welche durch eine enge programmatische Identität verhindert würde. Das hohe C, das christliche Menschenbild, was immer das heißt, ist die Klammer.

Spät, erst mit dem Verlust der Regierungsmacht durch die sozialliberale Koalition 1969 – „Machtwechsel“(Baring) – wird die CDU zu einer modernen Mitglieder- und Programmpartei, maßgeblich vorangetrieben durch Helmut Kohl und kluge, teils auch eigenwillige Charaktere an seiner Seite wie Heiner Geißler und Kurt Biedenkopf. Kohl erobert 1982 die Regierungsmacht wieder zurück nach einem Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt. In seine lange Regierungszeit bis 1998 fallen die deutsche Einheit, der Maastrichter Vertrag (Delors, Mitterand, Kohl) und die Vorbereitung der Einführung des Euro, die in Europa alles verändert haben. Unter diesen Prämissen steht die Politik noch heute. Der Pfälzer, Patriot und Europäer Helmut Kohl wurde nicht zufällig der erste (Ehren-) Bürger Europas. Deutschland war damit gewissermaßen die Mitte in der Mitte Europas – eine zivile Macht. Das explizit Christlich-Transnationale konnte, nachdem es Brücken gebaut hatte, wegfallen.

Seit 2005 ist Angela Merkel, nach der Spendenaffäre von Kohl, dessen Ära sie 2000 in einem Zeitungsartikel (der ‚Zeitung für Deutschland‘) ausdrücklich für beendet erklärte, nunmehr nach vier Bundestagswahlen ostdeutsche Kanzlerin und geschickte Verhandlerin in der EU. Man hat sich bei diesen ungewöhnlich langen Regierungszeiten an sie gewöhnt wie seinerzeit an Kohl, obwohl beide zu Beginn ihrer Amtszeit gehässige Herabsetzungen erfahren haben („die Birne“ und „Kohls Mädchen“). Denkt man an die überragenden (aber nicht-elitären) Führungsfiguren Adenauer, Kohl und Merkel, die jede ihr eigenes ‚System‘ hatte, kann man zurecht von einer Kanzlerdemokratie und in Bezug auf die CDU von einer Kanzlerpartei, ja sogar von einer „Kanzlermaschine“ (Resing) sprechen, was nachhaltige Auswirkungen auf das Politik- und Demokratieverständnis hat, die sich auch heute wieder bemerkbar machen.

Seit 2018 spricht man von einer „Führungskrise“ in der Partei, die im Frühling vor der Bundestagswahl 2021 dramatisch wird, nachdem sie durch die Pandemiekrise 2020 verdeckt worden ist. Erst seit Januar hat die CDU mit Armin Laschet wieder einen Vorsitzenden, aber vor Ostern hat sie immer noch keinen Kanzlerkandidaten und kein Wahlprogramm. Stattdessen hat sie es mit der Maskenaffäre zu tun, die ihrem Image schadet. Laschet hatte für den Parteivorsitz noch (nur) mit Vertrauen geworben wie ehedem Merkel: Ihr kennt mich ja, ihr könnt euch auf mich verlassen!

Bisher ist der Aachener Katholik Laschet, zusammen mit Spahn, lediglich mit „Impulse 21“, einem dünnen Modernisierungsprogramm für die 20er Jahre, inhaltlich hervorgetreten, das bei weitem nicht genügt. Derweil haben sowohl die SPD als auch die Grünen umfangreiche und detaillierte Wahlprogramme vorgelegt, denen intensive und lange Diskussionsprozesse vorangegangen sind. So etwas sieht man in der CDU bisher nicht.

Die CDU fällt im März 2021 auf 26%, nach 37% im Februar. Sie muss sich wieder anstrengen und inhaltlich profilieren, um in der Regierung zu bleiben oder gar den Kanzler zu stellen. So selbstverständlich wie noch vor kurzem, vielleicht sogar in einer wahrscheinlichen Koalition mit den Grünen, ist das nicht. Es genügt nicht mehr ‚die Mitte‘ wie ein Wappen vor sich her zu tragen: Dort, wo wir sind, ist die Mitte! Die Mitte im dreifachen Sinne von Mehrheiten, ethischem Maß und ausgeglichener Sozialstruktur (das heißt: nicht zu große Ungleichheit) ist vielmehr neu zu erarbeiten.

Dort ist es inzwischen eng geworden, denn auch die Grünen, die Liberalen und die SPD beanspruchen die Mitte, wenn auch von verschiedenen Seiten her. Und was sind heute die neuen Inhalte dieser Mitte, wo gewisse Kontinuitäten der zivilen Bundesrepublik so selbstverständlich geworden sind, dass es wohl eine ‚Linke‘, aber keine ‚Rechte ‚geben darf? Jedenfalls will keine ernsthafte bürgerliche Kraft damit kontaminiert werden, weshalb sich selbst die ‚AfD‘ als Rechtsstaats- und Verfassungspartei zu stilisieren versucht.

Für manche Konservative und Neoliberale ist die ‚Linksverschiebung‘ oder ‚Sozialdemokratisierung‘ der CDU durch Merkel ein Orientierungsproblem geworden. Viele machen Merkel auch dafür verantwortlich, dass nach der Flüchtlingsaufnahme 2015 bei den Wahlen 2017 die ‚AfD‘ stärkste Oppositionspartei im Bund und in allen ostdeutschen Landesparlamenten geworden ist. Diese Vorgänge sind in ihren Auswirkungen ambivalent sowohl für die Konservativen („Herrschaft des Unrechts“, Seehofer, CSU) wie die Sozialdemokraten, die in Merkels Regierung ihre Agenda zumal in der Sozialpolitik abarbeiten (Heil und Giffey), aber zugunsten der CDU stetig verlieren, so dass sie inzwischen im 15%-Keller gelandet sind. Für Schadenfreude besteht aus demokratietheoretischen Gründen kein Anlass.

Dass sie in dieses historische Tief fallen könnte, war der SPD von vornherein klar, als sie – aus staatspolitischer Verantwortung – in die Große Koalition als Juniorpartner eingetreten ist, nachdem die Jamaika-Koalition, die eine gesellschaftliche Mehrheit hinter sich hatte, gescheitert war. Ob Scholz noch einmal über 20% kommt, ist jedoch selbst in der Schwächephase der CDU fraglich, die Grünen stehen derzeit bei 22%.

Bei der von der CDU geprägten Kanzlerdemokratie hängt viel vom Kanzlerkandidaten ab. Laschet, der Ministerpräsident von NRW, hat mit seiner überraschend guten Bewerbungsrede den favorisierten Konkurrenten Friedrich Merz, der mit seiner forschen Art viele Anhänger gerade auch in den ostdeutschen Landesverbänden hatte, ausgestochen. Laschets Moderationsansatz, das Sowohl-als-auch, „versöhnen statt spalten“(Rau), ist in Habitus, Sprache und Inhalt offensichtlich geworden, was sich auch in seinem Bundesland ganz praktisch zeigt, wo er als Ministerpräsident mit der FDP regiert. Er steht am ehesten in der Tradition von Merkel und wäre diesmal der Wunschpartner für Lindners FDP, die sich prononcierter als er von der SPD und den Grünen abgrenzt. Bei Laschet besteht die Gefahr der Beliebigkeit. Der Balanceakt zwischen Orientierungswissen und Laisser-faire ist heute generell schwierig.

Laschet wirkt zögerlich und wenig entschlossen im Vergleich zum bayrischen Ministerpräsidenten Markus Söder, der als opportunistischer Macher auftritt. Laut aktuellen Umfragen könnte er sogar die Kanzlerwahl eher gewinnen als Laschet. Die CSU hat es bisher zweimal mit Strauss und Stoiber erfolglos versucht. Der Kanzlerkandidat der CDU/CSU steht immer noch nicht definitiv fest, obwohl Laschet Vorsitzender der Kanzlerpartei geworden ist. Diese kann nur gewinnen, wenn sie den Kanzler stellt! Der Machterhalt ist für sie primär, das Feilen an Inhalten sekundär. Das rächt sich nun, weil man auf die Schnelle nicht glaubwürdig auf die Herausforderungen der Post-Merkel-Ära, die auch wegen Corona eine neue Zeit werden wird, durchdachte Antworten finden kann. Dafür ist tatsächlich eine „kleine Revolution“ nötig, so der Unionsfraktionschef Brinkhaus im Bundestag am 25. März.

Die Maskenaffäre hat sich inzwischen mit dem prominenten Mitglied Sauter, der in Bayern Justizminister war, auf die CSU ausgebreitet. Der 10- Punkte – Plan zur maximalen Transparenz, den Söder noch am Sonntag, den 21. März, mit großer Entschlossenheit vorstellte, ist eine Revolution in der bürgerlichen, stets wirtschaftsnahen Parteiengeschichte, aber noch keine Kehrtwende im gegenwärtigen Wahlkampf. Sauter und Nüsslein, beides Insider, die mit Verdienstorden ausgezeichnet worden sind, hängen zusammen. 

Das bekannte Amigo-Image unter Strauss lebt wieder auf, und die traditionellen Themen Korruption und Käuflichkeit der Politik(er) sind in aller Munde. Sie betreffen heute gleichermaßen die Schwesterparteien CDU und CSU ausgerechnet im Wahljahr, in dem sie nun – unter der gemeinsamen Führung von Laschet und Söder – unweigerlich zusammenstehen müssen, wenn sie Erfolg haben wollen. Auch das erfordert inhaltliche Kompromisse, die Auswirkungen auf verschiedene Politikfelder haben werden.

Mit welcher Kontinuität, die glaubwürdig ist, wollen sie noch punkten? Die Bonuspunkte durch das Management der Pandemiekrise sind mittlerweile vor dem 3. Lockdown aufgebraucht, nachdem man bei der Impfstoffbeschaffung und der Teststrategie versagt hat. Aufgrund der frappierenden Organisations- und Verwaltungsmängel gilt dieser Vertrauensverlust inzwischen der großen Regierungskoalition (einschließlich der Ministerpräsidenten) insgesamt und sogar für die staatstragenden Schichten. Er betrifft alle demokratischen Parteien, wenngleich nicht alle in gleicher Weise. Beispiellos und beispielgebend war die Entschuldigung der Kanzlerin für das Osterdebakel, dessen Schuld sie nicht auf die vermeintlich starken Krisenmanager, die alle mit am Tisch saßen, abgeschoben hat.

Niemand kann im Moment sagen, wie sich diese irritierenden Erfahrungen auf die Wahlen auswirken werden. Die Erwartungen an die Politik sind hoch und die Enttäuschungen ebenso. Ungeduld und Unzufriedenheit wachsen, während das Land mit einer dritten Welle, Experten sagen: einer neuen Pandemie, konfrontiert ist. In der CDU hofft man derweil auf die zweite ‚erlösende‘ Rede von Laschet. Was könnte er sagen? Vertrauen sie mir!? Diesmal wird dieser Appell nicht mehr genügen.

Er wird selbstkritisch und emphatisch auf das schwierige Krisenmanagement der Pandemie eingehen müssen sowie ebenso – abgrenzend und zugespitzt – auf die Pläne der SPD und der Grünen, die vor Finanzierungsproblemen stehen. Soviel ist sicher, aber wie? Auch Laschet wird das Soziale in der Wirtschafts- und Sozialpolitik nach der Coronakrise betonen wie die SPD und die Linken, nur anders. Er wird versuchen, die Verschuldung des Staates in Grenzen zu halten, weitere Belastungen durch Steuern zu vermeiden und Wirtschaftswachstum zu fördern. Die Reform der Schuldenbremse wird mit der CDU vermutlich nicht zu machen sein. Laschet wird versuchen, die Technologiepolitik zu beschleunigen und die Bürokratie abzubauen.

Aus NRW bringt er dafür einiges mit, die Staatskanzlei in Düsseldorf ist seine Denkfabrik. Das Bundesland ist nicht nur das bevölkerungsreichste in der Bundesrepublik, sondern auch die dichtbesiedelste Metropolregion in Europa. Die Ruhrmetropole ist geradezu ein Labor gleichermaßen für Strukturwandel und kulturellen Wandel sowie neue Agglomerations-, Verkehrs- und Planungspolitik. Laschet ist mit Industriepolitik befasst, und er war der erste Integrationsminister. Er kann mithin vieles integrieren, als Kanzler wird er ohnehin die nötigen Kanten bekommen.

Denn: Kanzlerpolitik ist immer auch Außenpolitik. Die außenpolitischen Themen, die

für Deutschland in der EU und in der transatlantischen Partnerschaft mit den USA wieder wichtiger und schwieriger werden, standen bisher nicht im Vordergrund des Wahlkampfs. Zwischen den Parteien sind sie noch kaum debattiert worden, obwohl es schon deutliche thematische Signale dafür gab, wenn es beispielsweise um europäische Verteidigung (Kramp-Karrenbauer, Mützenich) oder das Verhältnis zu den USA ging. Die SPD und die Grünen bieten hier Angriffspunkte. Die CDU könnte demgegenüber ihre alte Verlässlichkeit, Führungsstärke und Kompetenz herausstellen, wie dies Norbert Röttgen schon erfrischend getan hat, mit seinen Thesen zur Europa-, Russland- und Chinapolitik.

„Zukunft. Klima. Europa“(SPD) sind auch die Schlagworte der CDU, die ebenso notwendig wie trivial sind. Zu ihren wichtigsten Punkten in leichter Sprache im Internet gehören außerdem „starker Euro, starke Preise, Deutsch in der EU“ sowie „Deutschland ist ein christliches Land“, „mehr Überwachungskameras, bessere Technik für die Polizei, schnellere Bestrafung junger Krimineller und Abschiebung ausländischer Krimineller“ sowie nicht zuletzt „Fahren auf der Autobahn“. SPD und Grüne sind für das Tempolimit 130 auf Autobahnen. Viele solcher kleiner populärer Punkte schaffen schließlich auch Stimmen und womöglich werden CDU/CSU auf diese Weise doch zur stärksten Partei.

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay