Was das Land zusammenhält

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Am 13. Februar 2022 wird Steinmeier von der Bundesversammlung zum zweiten Mal zum Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland gewählt. Er hatte seine Kandidatur bereits im Mai 2021 bekanntgegeben.

Außerdem gab es eine Diskussion darüber, dass es nun an der Zeit sei, endlich einmal eine Frau an die Staatsspitze (als „Staatsoberhaupt“) zu wählen, vor allem von Seiten Bündnis 90/Die Grünen, die 1993 fusionierten und sich als feministische Partei verstehen; Katrin Göring-Eckardt, die von den ostdeutschen Bürgerbewegungen (Neues Forum, Demokratie Jetzt, Initiative Frieden und Menschenrechte) herkommt, war kurzzeitig im Gespräch. Auf Vorschlag der Grünen kandidierte 1994 der Molekularbiologe Jens Reich, Gründer des Neuen Forums. Aus der Perspektive der Bürgerbewegungen fragte er 2009:“ Die Revolution ist tot – lebt die Demokratie?“

2004 und 2009 scheiterte die Sozialdemokratin Gesine Schwan in der Wahl gegen Horst Köhler. Mit 589 und 503 Stimmen erreichte sie zweimal gute Resultate und konnte dabei wichtige Diskussionen anstoßen. „Es soll die Person gewählt werden, die das Land am besten repräsentiert“, und: Sie wolle “ die Linken für die Demokratie gewinnen“ (Mai 2008). Auch lehnte Schwan, als Gründerin des konservativen ‚Seeheimer Kreises‘ in der SPD und deutliche Antikommunistin eher überraschend, die Bezeichnung der DDR als „Unrechtsstaat“ ab – eine Einschätzung, die bis heute emotional heftige Auseinandersetzungen auslöst, nicht nur zwischen Ost und West, sondern vor allem auch unter Ostdeutschen mit ihren eigenen Lebenserfahrungen.

Nach Horst Köhler (2004-2010) folgte als 10. Bundespräsident Christian Wulff (2010-2012). Er ist mit dem Satz in Erinnerung geblieben: „Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland“ (Rede zum 3.Oktober 2010 ), was vielleicht ein neues, wenngleich strittiges Element bundesrepublikanischer Zivilreligion geworden ist. Man kann dies daran ablesen, dass die islamfeindliche AfD ausgegrenzt wird. Jedenfalls wird seitdem an einem modernen Einwanderungsland gearbeitet, was noch immer auch der Anspruch der neuen Fortschrittsregierung ist.

Die AfD hingegen hat sich mit dem Straßenprotest ‚Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes‘ (2014 Pegida aus Dresden) und ‚Zukunft Heimat‘ ( 2015 aus Cottbus) verbündet . Die Ausgrenzung dieser Partei, die 2017 im Gefolge der Flüchtlingsaufnahme 2015 aggressiv gegen Kanzlerin Merkel („Merkel muss weg!“) sowohl zur stärksten Oppositionspartei im Bund wie zur stärksten Oppositionspartei in allen ostdeutschen Landesparlamenten geworden ist, sagt aktuell viel über die bundesrepublikanische Zivilreligion aus. Sie verändert das Klima selbst der parlamentarischen Demokratie auf problematische Weise bis hin zu eigenen Regelverstößen. Ignorieren kann und sollte man sie nicht.

Gemeinwohl über dem Parteienstaat

Auch CDU und CSU verzichten 2022 auf einen eigenen Kandidaten: Gemeinwohl soll über dem Parteienstaat stehen (siehe Hennis, Auf dem Weg in den Parteienstaat, 1998), den sie maßgeblich mitgeprägt haben und der überwiegend von Steuergeldern finanziert wird. Deshalb will man die Wahl des Bundespräsidenten aus dem „parteipolitischen Hickhack“ heraushalten (Laschet): Steinmeier sei eine „glaubwürdige Stimme, die zusammenführt und nicht ausgrenzt.“ Söder lobt gleichfalls seine “ integrative und überparteiliche Amtsführung“.

Steinmeier hatte nach dem Scheitern der Jamaika-Koalition 2017 die Große Koalition nach einem ernsthaften Gespräch mit dem damaligen gescheiterten Kanzlerkandidaten Schulz gegen das Widerstreben großer Teile seiner Partei, die lieber in die Opposition gegangen wäre, (mit-) eingefädelt. Während seiner Präsidentschaft ruht zwar – und das als einer ihrer wichtigsten Politiker – die Mitgliedschaft in der SPD, aber Steinmeier, der 2009 mit 23% erreichten Stimmen selber einmal Kanzlerkandidat war, ist kein Neutralier, obwohl Repräsentant eines weltanschaulich neutralen Staates (siehe dazu aus juristischer Sicht Horst Dreier, Staat ohne Gott, 2018).

Im Unterschied zu Dreiers Thesen gehen wir davon aus, dass auch in einer weitgehend säkularisierten Gesellschaft das Christentum in Deutschland, insbesondere der Protestantismus, als Hintergrund-Philosophie eine besondere und erhebliche politische Rolle spielt. Religionsphänomenologie und Religionssoziologie gehen ohnehin nicht in Kirchensoziologie auf, je länger, je weniger. Den Kirchen laufen die Mitglieder davon. Auch deswegen ist das Stichwort „unsichtbare Religion“ (Luckmann) von Interesse.

Die direkten Eingriffe in die Tagespolitik sind zwar auch bei Steinmeier zu Recht selten, aber wenn sie erfolgen, dann sind sie deutlich. Jüngst hat er die Parole „gegen die Corona-Diktatur“ bei den neuen Montagsdemonstrationen als „Unfug“ bezeichnet (12.1.22). In der ersten Bundestagsdebatte, in der sich der neue Kanzler den Fragen des Plenums stellte, hielt die AfD-Fraktion Transparente hoch mit der Aufschrift „Freiheit statt spalten“. Sie hält Scholz für einen „Spalter“, der wiederum die Gesellschaft nicht als gespalten wahrnimmt, ebenso wie der neue Ostbeauftragte im Kanzleramt Carsten Schneider, der aus Erfurt stammt. Die FDP attackierte sie als „Umfallerpartei“.

Versöhnen statt spalten

Von Spaltung kann man auf verschiedene Weise sprechen. Die moderne differenzierte und pluralistische Gesellschaft ist heute ökonomisch, kulturell und politisch mit unterschiedlichen Konfliktlinien durchzogen, die sich überlagern. Die eine große Spaltung und Zuspitzung zwischen den Klassen (Industrieproletariat vs.Bourgeoisie) die – gemäß der Hegelschen Dialektik des jungen Marx – eine endgültige Überwindung der Klassengesellschaft versprach, gibt es nicht mehr; „Der Abschied vom Proletariat “ (Gorz 1980) ist längst vollzogen. Die nivellierte Mittelschichtgesellschaft, als die sich ein großer Teil der Gesellschaft selber gerne sieht, spiegelt indessen ebenso wenig die mehrschichtige gesellschaftliche Realität.

Die Linke (nicht nur als Partei) spricht von „sozialen Spaltungen“ im Plural und zielt damit auf prekäre soziale Lagen, den großen Niedriglohnsektor, die Minijobs, Kinderarmut und Altersrente. Für die Arbeitnehmer ist darüber hinaus essentiell, dass die Wirtschaftsdemokratie nicht verloren geht. Die Impfgegner wiederum, die gegenwärtig vielerorts und – je länger die Entscheidung über die Impfpflicht hinausgezögert wird – vermehrt auf die Straße gehen, sind eine kleine heterogene Minderheit gegenüber der stillen Mehrheit, welche die Corona-Maßnahmen der Regierung unterstützt.

Dieser Konflikt, der immer heftiger wird, ist noch einmal ein anderer. Inzwischen bleiben auch Teile der großen Mehrheit nicht mehr still und melden sich mit vielfältigen Solidaritätskundgebungen gegen die Corona-Proteste, was ein lebendiges Zeichen von Zivilgesellschaft und Demokratie ist (siehe zum Beispiel „Brandenburg zeigt Haltung“, 21. Januar 2022). Spontane Solidarität geht zusammen mit Regelkonformität dort, wo sie praktisch notwendig ist, wenn es zum Beispiel um Gesundheitsschutz geht wie bei einer Pandemie, der Gurtpflicht oder beim öffentlichen Rauchverbot. Insgesamt ergibt sich daraus eine gemeinschaftliche gesellschaftliche Solidarität aus Recht (Verrechtlichung) und bürgerschaftlicher Moral (morale civique).

Es ist keineswegs trivial, festzuhalten, dass Zivilgesellschaft Bürgergesellschaft heißt. Nationale Bürgergesellschaften und ihr Staat sind aber nicht per se demokratisch und liberal. In dieser Konfiguration gibt es ein ständiges Handeln und Gegen-Handeln mit Macht und um die Macht. Dies ist eine politische Auseinandersetzung, die man nicht an die Gerichte und den Verfassungsschutz delegieren darf. Gerade an ihr sollte sich vielmehr die Urteilskraft der Bürgerinnen und Bürger schulen, für die es keine Experten gibt.

Wehrhafte Demokratie und Toleranz

Es ist nicht so, dass es keine Legalität mehr gibt, wie der italienische Philosoph Giorgio Agamben behauptet. Mit ihrem widerständigen Freiheitsverständnis übernimmt die AfD vielmehr den Part, den vormals die liberale FDP innehatte, als sie kategorisch eine Impfpflicht ausschloss. Dabei werden auch Verfassungsrechtler, die Bedenken haben, zitiert. Die AfD mobilisiert außerdem auf der Straße und führt zahlreiche Proteste an.

Die Demo-Inzidenz ist im Osten, wo eine Korrelation zwischen Impfskeptikern und den Wahlergebnissen der AfD auffällt (NZZ, 13.1.22, S.5) am größten (Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Thüringen – in dieser Reihenfolge), sie ist aber auch im Westen hoch (in Hamburg, Saarland, Bayern, Baden-Württemberg – in dieser Reihenfolge) gemessen vom 18. bis 20. Dezember 2021 (in: Die Zeit, 13.1.2022, S.17). Gesundheitsminister Lauterbach befürwortet Mitte Januar 2022 eine Dreifachimpfung; er ist für eine Impfpflicht, weil sie „medizinisch geboten und moralisch gerechtfertigt sei“. Im Bundestag argumentierte er leidenschaftlich mit Kant und der Aufklärung. Ganz Europa debattiert gegenwärtig über die Impfpflicht.

Die neuerlichen ‚Montagsspaziergänge‘ sind legitim, solange sie nicht übergriffig gegen Polizisten werden, die allerdings genau dieses Phänomen zunehmend beklagen. Sie spielen zudem oft Katz und Maus mit der unmittelbaren Demokratie der Versammlungsfreiheit und halten sich nicht an die Corona-Auflagen, organisiert über den Messenger-Dienst ‚Telegram‘, den die neue Innenministerin Nancy Faeser gerne abschalten würde, wenn sie es könnte. Wie schon ihr Vorgänger Horst Seehofer hält sie den Rechtsextremismus für die größte Gefahr, der die liberale und rechtsstaatliche Demokratie ausgesetzt ist. Demokratiepolitik und zivilgesellschaftliche Demokratieförderung sollten jedoch nicht darauf verengt werden.

Der Sicherheitsplan (militant democracy) der Regierung sieht vor, die Sicherheitsbehörden ebenso zu stärken wie die demokratische politische Kultur zu fördern, wofür potentiell alle sowie verschiedene zivile Kräfte zuständig sind. Bedrohlich für die Demokratie wird die rechte Agitation, wenn sie versucht, aus den Protesten einen gewalttätigen Widerstand gegen die „Corona-Diktatur“ der Regierung zu machen.

Die politische Semantik spurt dem vor. Welchen Zulauf hat sie mit einer „neuen Kategorie von Staatsfeinden“ (Haldenwang), die ideologisch weder rechts noch links einzuordnen sind? Diese „verfassungsrelevante Delegitimierung des Staates“ wird weiterhin sorgfältig zu beobachten und zu diskutieren sein, und zwar nicht nur von Seiten des Verfassungsschutzes. Vor allem eine aufmerksame Zivilgesellschaft vor Ort ist hier gefragt.

Versöhnen statt spalten (Johannes Rau) ist meistens der bessere Weg. Politik und Religion spalten aber oft bis hin zum Bürgerkrieg, sie sind keineswegs per se zivil, weshalb das Konstrukt der ‚ religion civile‘ für den Gesellschaftsvertrag als Verbindungsglied von natürlicher und politischer Existenz erfunden worden ist (Rousseau). Selbst Versöhnungsprojekte können spalten, wie der jahrzehntelange, teils hässliche, ideologisch aufgeladene Streit um den Wiederaufbau der Garnisonkirche in Potsdam gezeigt hat. Zur Zivilreligion gehört deshalb auch das Gebot der Toleranz.


Halt und Orientierung

Bündnis 90/ Die Grünen haben mit ihrem Votum zur Bundespräsidentenwahl lange gezögert, bevor sich Parteispitze und Fraktion festlegten. Steinmeier gebe „Halt und Orientierung“ in den schwierigen Zeiten der Pandemie, so Habeck und Baerbock, deren gewagte Parole im Wahlkampf noch lautete: „Halt durch Veränderung „. Und die Fraktionsspitze ergänzt, dass der Bundespräsident eine „wichtige Stimme für den demokratischen Zusammenhalt“ sei. Er ist es mit seiner reichen politischen Erfahrung im Zeichen von Krisensteigerung und Krisenvertiefung „geworden“, würden wir präzisieren. Er ist es noch nicht automatisch qua Amt, das nicht mächtig ist. Kein Vergleich zur Machtfülle des amerikanischen oder französischen Präsidenten, sogar der österreichische oder italienische Präsident hat formal mehr zu sagen.

Die gewählten Begriffe Halt, Orientierung und Zusammenhalt sind bezeichnend. Ebenso bezeichnend ist, dass ausgerechnet Bundespräsident Steinmeier anfangs 2020 die Laudatio zum 40. Geburtstag der Grünen hielt, der einstigen „Anti-Parteien-Partei“. Hat er sich damit ans Neutralitätsgebot gehalten? Die Zivilreligion ist nicht neutral, sie kann indes inklusiv und zivilisierend sein, wobei Zivilisation selber eine strittige Praxis ist.

Diese Einstimmigkeit für Steinmeier, abgesehen von AfD und ‚Die Linke‘, ist meines Erachtens ein starker Beleg dafür, dass der Ansatz mit der bundesrepublikanischen Zivilreligion nicht unangemessen ist (siehe den Blog vom 7. Januar). Diese Argumentation möchte ich hier noch einmal nachschärfen und konkretisieren.


Varianten der Zivilreligion

In der vergleichenden Zivilreligionsforschung zeigen sich nämlich verschiedene Varianten. Es gibt nicht nur das amerikanische Modell der „exzeptionellen Nation“ und nicht nur das republikanische französische Modell der Laizität, die zivilisatorisch weit ausstrahlten. Der Vergleich mit anderen Ländern erbringt zusätzlich und schrittweise weitere Erkenntnisse. Er führt zu einem angemessenen Urteil, das die Relationen nicht aus dem Blick verliert, was für die politische Theorie entscheidend ist. Der Vergleich mit den USA zeigt Beeinflussungen (vom Bund zum Bündnis, von der amerikanischen Zivilreligion zur atlantischen Zivilreligion), Gemeinsamkeiten und vor allem aufschlussreiche Unterschiede. Er hilft, die Bundesrepublik besser zu verstehen.

Zunächst ist es wichtig, den Begriff der Zivilreligion nicht zu überdehnen und für alles Mögliche zu verwenden. In einem zweiten Schritt muss er von benachbarten Begriffen wie politische Religion, Staatsreligion, Kulturreligion und bürgerlicher Religion, die alle ihre Berechtigung haben, abgegrenzt werden (dazu ausführlich Kleger/Müller, Religion des Bürgers, 1986, 2., ergänzte Auflage mit einer neuen Einleitung 2011).

Die Zivilreligion spricht für einen faktischen Mehrheitskonsens, aber nie buchstäblich für alle, höchstens rhetorisch und moralisch-politisch verpflichtend, aber nicht rechtlich verbindlich. Rhetorisch-emotional artikuliert sie die Einheit und den Zusammenhalt eines Landes, quasireligiös in der Form und real mit Hilfe religiöser Elemente und Bezüge, welche die prägende Geschichte hergibt (siehe dazu auch den Blog vom 25. Januar 2021).

Die bundesrepublikanische Zivilreligion ist wieder etwas Besonderes. Demokratisch ist sie insofern, als sie bundesrepublikanisch und zivil ist. Weil sie (liberal-) demokratisch ist, bleibt sie anfechtbar. Indem die Linke als Partei zum Beispiel, die sozialistisch und marxistisch vorgeprägt ist, bei der Bundespräsidentenwahl einen eigenen Kandidaten aufstellt, der aussichtslos ist, weist sie öffentlichkeitswirksam auf eine personelle Alternative und vor allem auf einen moralischen Anspruch hin, der von der Gleichheitsidee abgeleitet ist. Sie ist nicht liberaldemokratisch, profitiert aber von der liberalen Demokratie.

Dieser Umstand demonstriert ex negativo, dass es eine spezifisch bundesrepublikanische Zivilreligion tatsächlich gibt, auf die sich die partiell ausgeschlossene Linke kritisch-affirmativ bezieht. Es handelt sich dabei um eine andere Beziehung als beim Ausschluss der AfD, der auf der Basis aller demokratischen Parteien erfolgt. Beide Parteien werden in Teilen vom Verfassungsschutz beobachtet. Der Ausschluss der ostdeutsch geprägten Linken als „Nachfolgepartei der SED“ ist ein politisch immer noch wirksamer Teilausschluss, der typisch ist für die deutsche Zivilreligion und zugleich widersprüchlich, denn auf der anderen Seite sind auch deren Integrationsleistungen in der Nachwendezeit anzuerkennen.


Mitte und Maß

Steinmeier steht mithin robust für eine historisch mühsam erarbeitete Mitte, zu der inzwischen auch die Grünen nach ihrem Marsch durch die Institutionen und nach 1989 durch die Transformation mit Bündnis 90 (1993), als „gezähmte Partei“ (FAZ), gehören. Zähmung lässt sich auch positiv verstehen. Die bundesrepublikanische Zivilreligion hat sich nach 1989 verändert und zugleich nicht verändert. ‚Mitte‘ meint hier in erster Linie eine ethisch-politisch verstandene heterogene Mitte gegen Extreme – Mitte und Maß – , wobei aufschlussreich ist, was im Verlauf der Zeitgeschichte so taxiert wird und wie sich das im Einzelnen durch wechselseitige Lernprozesse verändert. Verallgemeinernd kann man sagen, dass Zivilreligionen hierfür eine Taxonomie bieten.

Der Begriff der Religion des Bürgers (1986/2011) ist mit dem Phänomen der bürgerlichen Religion, was sowohl beschreibend als auch kritisch gemeint ist, nicht deckungsgleich. Der vorrangige Kontext ist nicht die Theologie oder die Kirche, die mit diesem analytisch-ideenpolitischen Konzept nicht zufällig hadern, sondern die Philosophie des Bürgers in einem größeren Spektrum erfasst bzw. die politische Theorie im weiteren demokratischen Sinne.

Die Religion des Bürgers umfasst einen vielschichtigen Komplex von moralischen Überzeugungen und politischen Optionen, von gesellschaftlichen Wahrnehmungs- und Klassifikationsmustern, die zusammen die Lebensführung eines zivilisierten Bürgers mit seinen Widersprüchen bedingen. Dieses Ensemble stark verinnerlichter Orientierungen, die selten explizit werden, bestimmt auch dessen Verhältnis zur Religion und zum selektiven Gebrauch, den er von ihr macht, der weder theologischen noch kirchlichen Ansprüchen genügt.


Atlantisch-bundesrepublikanische Zivilreligion

Die Linke als Partei gehört in Deutschland noch nicht zu diesem Grundkonsens mit starker Positivität, jedenfalls nicht für die bürgerliche Mitte. CDU, CSU und FDP schließen jede Koalition mit ihr aus, auch auf Länderebene, während SPD und die Grünen gemeinsam mit ihr, etwa in Berlin, Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern regieren. Auch auf Bundesebene hätte man 2021 ein Linksbündnis bei einem besseren Wahlergebnis der Linken nicht ausgeschlossen. 

Die CDU/CSU hat ihren Wahlkampf polemisch offensiv (und gleichzeitig defensiv: gegen die ‚roten Socken‘ der SED-Nachfolgepartei) vor allem gegen ein solches Bündnis geführt und so Scholz in Bedrängnis gebracht, woran sich auch die Liberalen beteiligten. Die FDP wie die Grünen halten sich zudem eine Türe offen zur CDU/CSU, die nun in der neuen Oppositionsrolle das „linksgelbe“ Lager attackiert. Ihr politisches Hauptziel ist es, wieder zu regieren; die Opposition reicht ihr nicht. Nach einer erstmaligen Mitgliederbefragung will sie auch als „Mitmachpartei“ Kanzlerpartei bleiben.

Es gibt also weiterhin genug (partei-) politische Differenzen, die innerhalb der stabilisierenden bundesrepublikanischen Zivilreligion zu gegebener Zeit und bei einem bestimmten Anlass brisant werden können, zumal ein Regierungskonsens zwischen drei Parteien schwieriger und fragiler geworden ist. In Ostdeutschland fehlt zudem eine starke Mitte in verschiedener Hinsicht, dort ist auch die bundesrepublikanische Zivilreligion schwächer ausgeprägt. Die politische Sozialisation durch die DDR wirkt in verschiedener Hinsicht nach.

Die ostdeutsche Linke, vormals 1990 bis 2007 die PDS, ist als Kümmererpartei weitgehend von der AfD abgelöst worden. Sie ist außerhalb von Thüringen, wo Ramelow als Ministerpräsident fungiert, keine regionale Volkspartei mehr. Für die SPD und die Grünen ist die pragmatische Linke jedoch in die heutige politisch relevante Zivilreligion integriert, abgesehen von außenpolitischen Fragen im Verhältnis zur USA, der Nato und Russland, die weiterhin – genauso wie die Verfassung der EU – für Spannungen mit Sprengkraft sorgen, während sie für die bürgerliche Mitte (CDU/CSU und FDP) konsequent davon ausgeschlossen bleibt, ja sie definiert sich gerade dadurch.

Im Unterschied zur staatstragenden SPD und den mitregierenden Grünen, die diesbezüglich in eine Zwickmühle zwischen Dialog und Härte geraten können, etwa bei der nuklearen Teilhabe oder der Bewaffnung der Ukraine, gilt ‚Die Linke‘ als „antiwestliche Partei“ (Kowalczuk). Die Zurückhaltung gegenüber Russland im Ukrainekonflikt wird mit Verweis auf die eigene Geschichte erklärt. Festlegungen im Koalitionsvertrag wie zum Beispiel, keine Waffen in Krisengebiete zu liefern, sind jedoch „keine Bibel“, so jüngst der ukrainische Botschafter Melnyk in Berlin. Ist hier „Flexibilität“ möglich und wünschenswert? Werte und Interessen müssen keinen Gegensatz bilden.

Die Linke

‚Die Linke‘ stellt mit ihrem eigenen Kandidaten bewusst eine Kritik an der etablierten bundesrepublikanischen Zivilreligion vor, der im Fokus der Öffentlichkeit demonstrieren soll, dass das reiche Land Deutschland relative Armut kennt und sich mehr leisten kann, was gerne ausgeblendet wird. Auf dieses Defizit sollte schon 2017 mit der ebenso aussichtslosen Kandidatur des Politikwissenschaftlers und Armutsforschers Christoph Butterwegge hingewiesen werden (siehe auch sein neues Buch: Kinder der Ungleichheit 2021). Corona verschärft die Ungleichheit weltweit. Der linke Grundwert der Gleichheit ist immer aktuell.

Dafür steht nun 2022 der parteilose Mediziner Gerhard Trabert, der sich wissenschaftlich und praktisch (Arztmobil für Obdachlose) vor allem mit dem Zusammenhang von Armut und Gesundheit beschäftigt hat und dafür schon vielfach ausgezeichnet worden ist, auch vom Bundespräsidenten. Solche Stachel im Fleisch der Saturiertheit sind wichtig, da es der Zivilreligion als konsensueller und rituell gepflegter Ausdruck von grundlegenden, meist nicht hinterfragten lebensweltlichen Selbstverständlichkeiten schwerfällt, selbstkritisch zu bleiben. Dauerreflexion und Daueraktivismus sind nicht ihr Lebensmodus.

Dies zeigte sich auch bei der diskussionslos schroffen Ablehnung des politischen Asyls von Snowden und Assange, was wohl tiefliegende Beziehungen zu den „Freunden“ in den USA (transatlantische Zivilreligion) berührt hätte, welche die geduldete und/oder geförderte Kooperation von Geheimdiensten einschließt. Mangelnde Distanz und fragwürdige Loyalitäten gehören mit zur historisch gewachsenen atlantisch-bundesrepublikanischen Zivilreligion.


Zivilreligion ohne Gott

Die sogenannte Mitte, die in Deutschland als politischer Stabilitätsanker große Wirkungen entfaltet, ist jedoch keine starre Größe. Sie kann sich verändern, indem Elemente hinzukommen und alte abgestoßen werden. Das sieht man zum Beispiel an der Verwendung der zivilreligiösen Eidesformel „so wahr mir Gott helfe „. Gerhard Schröder war der erste Kanzler, der sich nicht mehr darauf bezog, die Hälfte der neuen Minister/innen lässt sie heute weg. Die bundesrepublikanische Zivilreligion ist weitgehend eine Zivilreligion ohne Gott und Selbstüberhöhung geworden, die dafür als ‚Religion‘ ökumenisch, zurückhaltend, demütig, zuversichtlich und dankbar auftritt. Letzteres wird im Vergleich selber zu einer Auffälligkeit.

Auch in der eidgenössischen Bürgerreligion beten die freien Schweizer (‚Schweizerpsalm‘) inzwischen nicht mehr in der neuen Nationalhymne. Die Säkularisierung ist nicht zu stoppen, was nicht heißt, dass damit die Zivilreligion automatisch bedeutungslos wird, sie verändert sich nur auf signifikante Weise. „Unbedingte Solidarität“ (enduring freedom) gab es auch für Kanzler Schröder. 

Die Zivilreligion bleibt ein Orientierungssystem, das über Ereignisse und Events hinausgeht und nicht über jedes Stöckchen springt. Sie ist mehr Traditionsbildung als Trend, wobei die orientierende Tradition nicht traditionalistisch interpretiert werden muss. Sie kann sich vielmehr fortlaufend erneuern, indem sie sich aktualisiert. Es wäre ein progressiver Kurzschluss, der die Lebenswelten der Menschen unterschätzt, zu denken, dass es einen Fortschritt ohne Traditionen gibt. Der neuzeitliche Fortschritt ist selber eine Tradition, und Traditionen können neu erfunden werden.


Die Rechte

Der nationale Konservativismus der AfD hat darin allerdings keinen Platz, weil er im Sinne der bundesrepublikanischen Zivilreligion nicht bürgerlich ist. Er gehört in Deutschland vielmehr zu den Extremen, so wie früher die konservative Revolution, die in Frankreich sogar – nicht aussichtslos – mit Éric Zemmour zur Wahl des Staatspräsidenten antritt.

Der ehemalige Ostbeauftragte Wanderwitz (CDU) fordert ein Verbot der AfD (12.1.22), denn im Blick auf Sachsen sei diese Partei „rechtsextremistisch“. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht schon die NPD 2017 nicht als verfassungswidrig eingestuft, obwohl das entscheidende Kriterium der „Affinität zum Nationalsozialismus“ erfüllt war. Die Auseinandersetzung mit der AfD muss politisch erfolgen im Ringen um ihre Wähler.

Die AfD ist im Bundestag und den Landesparlamenten weitgehend isoliert. Was indes die „Russlandfreundlichkeit“ angeht, ist sie nicht allein: „Dem pazifistischen Internationalismus der Linken sowie der Entspannungseuphorie mancher Sozialdemokraten setzt die AfD Russland- und ganz generell Außenpolitik als reine deutsche Interessenvertretung gegenüber – versetzt mit einem starken Schuss antiwestlicher Systemkritik “ (NZZ, 21.1.22, S.2).

Alexander Gauland beruft sich auf Bismarck: er ist im nationalen Interesse für ein enges Verhältnis zu Russland und gleichzeitig gegen einen Nato-Austritt (2016).

Die AfD tritt für eine Direktwahl des Bundespräsidenten ein, das Kompetenzgefüge soll jedoch nicht hin zu einer Präsidialverfassung verändert werden. Wie schon 2017 stellt sie auch 2022 einen eigenen Kandidaten auf. Mit Max Otte, dem Vorsitzenden der WerteUnion, will sie die Union ärgern und Anspruch auf den bürgerlichen Konservativismus erheben. Die WerteUnion ist eine konservative Bewegung innerhalb der CDU/CSU seit 2017 mit ca. 4000 Mitgliedern, die sich auch für den neuen Vorsitzenden Friedrich Merz stark gemacht hat, der kürzlich mit fast 95% der Stimmen gewählt worden ist.

Die Fortschrittsrhetorik dominiert zurzeit auf Seiten der Ampel-Regierung. Von Aufbruch spricht auch die CDU, den sie mit einem neuen Grundsatzprogramm und neuem Personal aus der Opposition heraus zustande bringen will. Wohin? Mit der WerteUnion? Wieder: Freiheit statt Sozialismus? Ist somit eine Verschiebung der Mitte nach rechts möglich? Sicher ist nur, dass man sich auf den surfenden Zeitgeist nicht verlassen kann.

Die liberale Gesellschaftspolitik können indes wohl auch die Christdemokraten in einer säkularisierten Gesellschaft nicht mehr zurückdrehen. Die Wirtschaftskompetenz reklamiert Merz jedoch weiterhin für die bürgerliche Mitte. Ohne wettbewerbsfähige (Export-)Wirtschaft ist alles nichts. Das Pensum der neuen Fortschrittsregierung ist ohne Zweifel ein Wagnis, woran sie – für alle messbar- scheitern kann. Dazu kommen die Herausforderungen und Schwierigkeiten in der Außen-, Europa-, Sicherheits- und Migrationspolitik. Sie sind zwar absehbar, aber schwer einzuschätzen und enthalten Spaltungspotential.


Grundwerte als Zivilreligion

Die Stellungnahmen zur Wahl Steinmeiers als „Staatsspitze“ verdeutlichen meines Erachtens, vergleichend und exemplarisch, direkt und indirekt, die Konturen einer spezifisch bundesrepublikanischen Zivilreligion, die eher latent im Hintergrund wirkt. Als ein spezifischer Komplex der Religion des Bürgers wird sie selten explizit und ist nur umständlich explizierbar, weil sie zum Glück, sofern man sie teilt und von ihr letztlich überzeugt ist, weitgehend selbstverständlich geworden ist – „Grundwerte als Zivilreligion“ (Luhmann).

Diese (europäischen) Werte lauten heute, häufig wiederholt, unstrittig und umstritten: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Nachhaltigkeit; die europäische Solidarität kommt hinzu. Zivilreligion ist das, was nicht zur Debatte steht und eine klare Haltung ermöglicht, die in der Geschichte begründet liegt. Die Lehren aus der Geschichte lassen sich freilich so oder anders ziehen, selbst in Bezug auf Krieg und Frieden (Appeasement, Krieg gegen Serbien 1999, Afghanistan, Irakkrieg).

In den zahlreichen Ansprachen und Reden des Bundespräsidenten wird die bundesrepublikanische Zivilreligion ausgesprochen. Es scheinen Selbstverständlichkeiten zu sein, die jedoch nicht selbstverständlich und als Letztbegründungen (re-ligio, Ligaturen) nur schwer begründbar sind, weil sich dahinter komplizierte Geschichten verbergen, in die wir involviert sind, ob wir wollen oder nicht. Sie wirken mehr über Prägungen als über Reflexion – Geschichte und Identität.

In den häufigen Ehrungen, Ordens- und Preisverleihungen, die der Bundespräsident vornimmt, wird sie in kleiner Münze ausgelegt und alltäglich bekräftigt. Ebenso in den ständigen Erörterungen darüber, was das Wörtchen ’sozial‘ im grundlegenden Konzept der ’sozialen Marktwirtschaft‘ bedeutet. Das ist eine bleibende Herausforderung für das christliche Menschenbild ebenso wie für den demokratischen Sozialismus und den Chancen-Liberalismus.

Selbst der neue Vorsitzende der CDU spricht wieder vom „alten Versprechen der katholischen Soziallehre und evangelischen Sozialethik“, die Arbeitnehmer zu beteiligen (Merz, 22.1.22). Wie? Woran? Wofür?

Der Bundespräsident und seine Schreibstube würden wahrscheinlich statt von Zivilreligion lieber von „aufgeklärtem Patriotismus“ reden, was richtige und wichtige Worte sind. Das klingt gut und besser. Aber solche Worte allein beantworten nicht die Frage, was heute eine aufgeklärte Haltung ausmacht, die urteils- und handlungsfähig bleibt gegenüber einer unsicheren und unbekannten Welt voller Informationen und Ereignissen.

Schon gar nicht wird damit die Frage geklärt, wie ein demokratischer Patriotismus entsteht, wenn die Demokratie auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene schwindet und die Machtpolitik weiter im Vormarsch ist. Wohin gehen dann die emotionalen Identifikationen der Menschen, die im Kognitiven nicht aufgehen? Dafür benötigen wir eine breite, wenngleich heterogene Bürger/innen-Identität, die von und durch demokratische Auseinandersetzungen robuster geworden ist.

Bildnachweis: IMAGO / Jochen Eckel