Am 15. Juni hielt der ukrainische Präsident Selenski vor der Schweizer Bundesversammlung in Bern eine Rede, per Video zugeschaltet. Die Ratsbüros hatten seinem Ersuchen stattgegeben. Nicht alle fanden das gut.
Die Superpatrioten der Schweizerischen Volkspartei (SVP) fehlten ostentativ mit dem Argument, dies bedeute einen Eingriff in inneren Angelegenheiten. Der Bundesrat sei dafür der richtige Ansprechpartner, nicht das Parlament. Die Veranstaltung sei eine „Showeinlage“.
Die SVP, die erfolgreichsten Direktdemokraten Europas, sind zurzeit wieder auf den Barrikaden für ihre Neutralitätsinitiative, die zur „strikten Neutralität“ zurückführen soll, fest verankert in der Verfassung. Diese steht in der heutigen geopolitischen Lage jedoch einer Neuausrichtung der Neutralität im Wege. Wie wird ihre Glaubwürdigkeit wiederhergestellt? Darauf spitzt sich die sachliche Diskussion zu. Wir kommen darauf zurück
Auch die ‚Freiheitlichen‘, die FPÖ, verließ in Wien während Selenskis Rede das Parlament und hinterließ auf ihren Plätzen Schilder mit den Aufschriften: „Platz für Neutralität“ und „Platz für Frieden“. Die Proteste der Nationalkonservativen in beiden Ländern sind symptomatisch. Ihr Patriotismus ist engstirnig und unsolidarisch geworden, er demonstriert auch keine moderne Wehrfähigkeit mehr.
Die Rede von Selenski ans „liebe Schweizer Volk“, in der er, wohlwissend um die Kontroversen im Land, um Waffen bittet und die Schweiz zu einer Friedenskonferenz auffordert, wird am Schluss von den anwesenden Parlamentariern zurecht mit stehenden Ovationen bedacht.
Selenski bedankte sich auch für die Unterstützung der europäischen Sanktionen, weshalb nun die Schweiz ebenfalls zu den „feindseligen Staaten“ des Putin/Lawrowschen Russland zählt, obwohl sie zweifellos härter gegen russische Oligarchen und Spione vorgehen könnte und sollte.
Die Schweizerische Neutralität ist heute bei wachsender globaler Unsicherheit wieder grundsätzlich umstritten. Sie wurde freilich schon zu meiner Schulzeit kontrovers diskutiert und dann immer wieder, siehe zum Beispiel die Diskussion mit Bundespräsident Koller zur „Stiftung für Solidarität (Wozu noch Solidarität? 1997).
Sie galt als staatspolitische Maxime eines Kleinstaates, mit der die Schweiz mitten in Europa gut gefahren sei und weltpolitisch-außenpolitisch ihre „guten Dienste“ anbieten konnte als Vermittler, wenn Konfliktparteien diplomatisch nicht mehr miteinander sprechen konnten (zum Beispiel der Iran mit den USA). Diese Angebote bleiben bestehen, das Personal, die Erfahrung und Kompetenzen sind vorhanden. Genf ist weiterhin ein guter Ort der Vermittlung.
Ich muss ehrlich sagen, ich habe die Neutralität als eine Eigenheit der schweizerischen politischen Philosophie im Unterschied zur direkten Demokratie und zum Föderalismus, ja sogar zur Konkordanz als Regierungssystem mit der Sozialdemokratie als Juniorpartner (obwohl ich die linke Mitte präferiert hatte) nie verstanden.
In der Armee haben wir immer „blau gegen rot“ geübt. Die Panzer des Warschauer Pakts und ihre Angriffstaktik haben wir gekannt und uns darauf eingestellt. Diesen Preis der „bewaffneten Neutralität“ hat das Volk bezahlt, und den globalen Schutzschirm boten die Nato und die USA.
Ich bin heute noch der Überzeugung, dass die Milizarmee einer Berufsarmee vorzuziehen ist, wofür freilich ein persönlicher Preis zu zahlen ist. 1973, als ich die Rekrutenschule besuchte, putschte das chilenische Militär gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Salvador Allende. Eine lange blutige Militärdiktatur folgte, das war Anschauungsunterricht genug.
Im schweizerischen (durchaus machiavellischen) Republikanismus verband sich der Milizgedanke auch mit einem geradezu mythisch überhöhten Verständnis von Widerstand und Wehrfähigkeit, was auch problematische Aspekte hat. Was immer davon in der medialen Spaßgesellschaft noch übriggeblieben ist, jedenfalls sollte klar und deutlich geblieben sein, dass die Schweiz und die Schweizer das in Artikel 51 der Uno-Charta garantierte Recht auf Widerstand eines Opfers von Aggression teilen.
Die neutrale Schweiz darf sich niemals zum Komplizen eines Aggressors machen. “ Die Quellen der Aggression liegen außerhalb unserer Grenzen“ (Selenski). Der militärische Widerstand gegen einen scheinbar übermächtigen Gegner sollte auch und gerade für die Réduit- und ‚Igel‘- Schweiz nachvollziehbar sein.
Der Historiker Marco Jorio erwähnt ein aufschlussreiches Vergleichsbeispiel aus der Zeit des Völkerbundes (1920-1946), dessen Idee von Hugo Grotius 1625 entwickelt worden war. Als das faschistische Italien 1935 Abessinien überfiel als Experimentierfeld entgrenzter imperialistischer Gewalt mit Giftgaseinsatz , erklärte der Völkerbund Italien zum Aggressor und verhängte Wirtschaftssanktionen (NZZ, 4.Juli).
Der populäre Bundesrat Guiseppe Motta (CVP) aus dem Tessin, der für das Außendepartement (Minister kennt der Bürgerstaat nicht) zuständig war, fürchtete nicht nur wirtschaftliche Schäden, sondern vor allem, dass sich Mussolini das italienischsprachige Tessin einverleiben könnte. Der Bundesrat beschloss daraufhin die Übernahme der Sanktionen, soweit sie die wirtschaftlichen Interessen der Schweiz sowie die Neutralität nicht tangierten.
In die massive Kritik kam Motta allerdings, weil er das Waffenausfuhrverbot für Italien wie für das angegriffene Abessinien gleich behandeln wollte. Er begründete dies mit Artikel 9 der Haager Konvention, die eine Gleichbehandlung der Kriegsparteien vorsieht. Die schärfste Kritik artikulierte der griechische Politiker, Diplomat und Völkerrechtler Nikolaos Politis (1872-1942), dessen Argumente noch heute zu überzeugen vermögen. Ich folge hier Marco Jorio (NZZ, 4. Juli).
Das Gleichbehandlungsgebot sei mit dem Völkerbund abgeschafft, und das internationale Recht habe sich verändert, das heißt: Auch der Neutrale müsse jetzt, als Mitglied des Völkerbundes, heute der Uno, zwischen Aggressor und Opfer unterscheiden, so argumentierte der Völkerrechtler stringent.
Politis war Verfechter des “ gerechten Krieges“, für den es verschiedene Theorien und Kriterien gibt, in dem es aber generell untersagt war, dem Aggressor zu helfen. In der frühen Neuzeit sei das an Recht und Ethik gebundene Konzept des “ bellum iustum“ von der unbegrenzten Souveränität der Staaten mit ihrem Recht auf Krieg , dem ius ad bellum, abgelöst worden. In der Haager Konvention von 1907 sei schließlich der Neutrale zur Gleichbehandlung beider Kriegsparteien verpflichtet worden. Nach Politis, der auch als Hochschullehrer gearbeitet hat und französisch schrieb, beendete der Erste Weltkrieg das System des Rechts auf Krieg und Neutralität.
Mit der Gründung des Völkerbundes sei der gerechte Krieg wieder zur Norm des Völkerrechts geworden, und das Recht auf Neutralität obsolet. Jorio, der ein umfassend akribisches Buch zu 400 Jahren schweizerische Neutralitätsgeschichte geschrieben hat (2023), vertritt nun die Auffassung, dass sich die Schweiz in dieser Frage seit 1935 kaum bewegt habe (NZZ, 4. Juli 2023, S.8). Sie hält vielmehr unverändert an der veralteten Haager Konvention und am Gleichbehandlungsgebot fest.
Diese Richtschnur führte dazu, den Verkauf von bereits eingemotteten Leopard-Panzern, die im Widerstandskampf der Ukrainer dringendst gebraucht werden, zu verbieten. Statt einer Neuausrichtung der Neutralitätspolitik „sabotiert die Schweiz mit ihrem extremen, pazifistisch und moralistisch inspirierten Waffenausfuhrverbot, das weit über jede neutralitätsrechtliche Verpflichtung hinausschießt, das in Artikel 51 der Uno-Charta garantierte Recht auf Widerstand des Aggressionsopfers Ukraine“ (Jorio, a.a.O.).
Die Schweiz sollte aufhören, “ weiterhin das tote Ross der Haager Konvention zu reiten“, so die Schlussthese des Aufsatzes, der gegen eine dysfunktional gewordene Neutralität argumentiert, die auch bei wohlmeinenden Kooperationspartnern in Nato und EU zunehmend nur noch auf Unverständnis stößt. Aber auch das merken unsere Superpatrioten nicht, so verbohrt sind sie mittlerweile geworden – Militärköpfe ohne weiteres Verständnis für ein Militär, das die Freiheit des Landes wie der Einzelnen verteidigt.
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