Die in Moskau geborene Schriftstellerin Sonja Margolina schreibt, dass Putin, der Russland zu alter Größe zurückführen wolle, das Land als Kulturnation abschaffe (NZZ, 7.4.2022): „Die ‚Heim, ins Reich‘- Holung der abtrünnigen Ukrainer bewirkt im Ergebnis das Gegenteil dessen, was beabsichtigt war: nämlich die Entwertung und Ächtung der ‚russischen Welt‘ als Folge einer kollektiven moralisch-psychologischen Reaktion der ganzen zivilisierten Menschheit.“
Auf Antrag der Ukraine wird am 7. April Russlands Mitgliedschaft im UN – Menschenrechtsrat ausgesetzt mit 93 Ja- Stimmen, 24 Nein-Stimmen und 58 Enthaltungen.
Selbst der Gründungsmythos des postsowjetischen Russland, der Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“ gegen Nazideutschland gerät nun ins Wanken. Das große Ehrenmal in Berlin-Treptow ist schon besprüht worden. Breschnew hatte diesen Feiertag 1965 eingeführt. Putin übertrifft mit seinem Kriegskult die sowjetischen Paraden noch, indem er die neuesten Interkontinentalraketen auf großen Wagen mit zehn Achsen über den Roten Platz rollen lässt.
Die Botschaft an das eigene Volk und die Welt ist: Seht her, wir sind wieder wer, wir sind die einzige Weltmacht, welche die Weltmacht USA zerstören kann. Das spielt in den gegenwärtigen Konflikt hinein, vor Putin hat man Angst.
Gerhard Schröder war der einzige Kanzler, der bisher zu dieser Siegesfeier eingeladen wurde.
Putin muss bis zum 9. Mai einen Sieg vorweisen, nachdem der direkte Angriff auf Kiew ein strategischer Fehlschlag gewesen ist. Die russischen Truppen sind anfangs April aus der Region Kiew abgezogen und hinterlassen eine Spur der Verwüstung.
Die Vorfälle und Bilder aus Butscha lösten weltweit Entsetzen aus. Mit Panzerkolonnen wie zu Breschnews Zeiten (Prag 1968) und anschließender Siegesparade ist der Krieg nicht zu gewinnen. Offenbar hatten die Soldaten ihre entsprechenden Uniformen schon im Gepäck, neben längst abgelaufenen Feldrationen, was besonders vielsagend ist für den Zustand der Armee und ihrer Soldaten.
Der russische Generalstab will sich nun auf den Donbass konzentrieren, womit eine zweite entscheidende Phase des Krieges beginnt. Dafür brauchen die Ukrainer dringend schwere Waffen, vor allem Panzer und Flugzeuge. Stinger und Panzerfäuste genügen nicht mehr angesichts der Schlachten, die erwartet werden: „Berlin hat Zeit, wir haben keine“ (Kuleba). „Die härtesten Sanktionen gegen Russland sind die Schlachten auf dem Schlachtfeld“ (Selenskyj).
Tatsächlich haben die Gelder, Waffenlieferungen, Berater und Ausbildner der USA seit 2014 die ukrainische Armee besser gerüstet. Die Armee ist inzwischen stark und nicht schwach, was neben den Waffen vor allem an der Kampfmoral derer liegt, die wissen, wofür sie kämpfen. Hinzukommen Taktik, Training und neue Soldaten, ohne die ein Krieg nicht zu gewinnen ist (siehe auch ‚Zeit online‘, 8.4.).
Die NATO geht davon aus, dass der Krieg noch lange dauern kann. Sie unterstützt die Ukraine nun auch mit Panzern, womit die Unterscheidung zwischen Defensiv- und Offensivwaffen entfällt. Dabei operieren die NATO-Mitglieder unterschiedlich. Die Briten unterstützten vorausschauend schon für Kiew und jetzt für Odessa mit schwerem Gerät, die Tschechen liefern T 72 Panzer, und die Australier lassen ‚Bushmaster‘- Panzerfahrzeuge einfliegen.
Auf dem Wunschzettel für die Deutschen stehen die Schützenpanzer ‚Marder‘. Die Industrie wollte sogar den Flugabwehrpanzer Gepard liefern (Die Zeit, 7.4., S.22). Das sind effektive Waffen, welche die Ukraine jetzt braucht, um die russische Armee zurückdrängen zu können. Aufklärung über Waffen tut not. Für eine genauere Analyse siehe Georg Häsler (NZZ, 8.4., S.2). Die NATO unterstützt weiterhin, ohne Kriegspartei sein zu wollen. Das ist eine Gratwanderung, die immer schwieriger wird, je länger der Krieg dauert.
Am 7. April gibt der Kremlsprecher Peskow erstmals öffentlich bekannt, dass die russische Seite „bedeutsame Verluste“ erlitten habe. Vermutlich sind es ähnlich Viele wie im Afghanistan-Krieg 1979 bis 1989. Das sei „eine Tragödie“, und die Militärs würden versuchen, die „Spezialoperation“ möglichst bald zu beenden. Was meint er damit? Mit welchem Ziel und welchen Mitteln?
Eine Großoffensive unter dem einheitlichen Kommando von General Dwornikow wird erwartet, deren Ziel eine Landverbindung zwischen der Krim und der Donbass-Region sein könnte, was eine Siegesmeldung für den 9. Mai wäre. Das erklärt auch den äußerst erbitterten Kampf um die strategisch wichtige Hafenstadt Mariupol am Asowschen Meer.
Medwedjew, Adlatus und Intimus von Putin, droht derweil in einem Artikel Ukrainern im Westen mit Mord. Das ist freilich nicht nur seine private Meinung und unterstreicht noch einmal die Radikalisierung eines Denkens, das den Ukrainern die Staatlichkeit bestreitet. Es wirft auch ein Licht auf die verlogene Propaganda, Auftragsmorde (Tiergartenmord, Nawalny u.a.) regelmäßig zu dementieren und Kriegsverbrechen dem Gegner als „Inszenierung“ (Butscha, Kramatorsk) in die Schuhe zu schieben.
Diese schlechte, aber wirksame PR hat Methode insbesondere gegenüber der eigenen Bevölkerung im größten Flächenstaat der Erde. Sie schafft medial vor allem durch das Staatsfernsehen ein eigenes Paralleluniversum der Worte, Bilder und Argumente. Wer sind die Mitarbeiter dieses ‚Imperiums‘ im Imperium? Sie gehören genauso zum System Putin wie die Geheimdienste, das Militär und die Oligarchen. Indem sie breite Zustimmung schaffen, reißen diese Superpatrioten die ganze Nation mit in den Abgrund.
Inzwischen sind Facebook, Instagram, Twitter und Youtube gesperrt, sie würden ein „Meinungsmonopol“ schaffen, heißt es, und den „Prinzipien der Demokratie“ schaden, so die offizielle Begründung. Aus- und Umwege aus diesem Orwellschen Totalitarismus sind schwer zu finden. Es bleibt nur die Exit-Option nach außen und innen, wenn Opposition und Widerstand ausgeschlossen sind. Eine wirksame politische Opposition ist derzeit nicht in Sicht.
Selenskyj auf der anderen Seite wirbt vor den Parlamenten der Welt weiterhin emotional und klug für Unterstützung. Vor dem griechischen Parlament stellt er einen Bezug zum zerstörten Mariupol her, wo gerade eine jahrhundertelange Tradition der Verbundenheit, die blühende orthodoxe Gemeinde ausgelöscht werde. Er lässt zwei ethnische Griechen sprechen, die in Mariupol kämpfen.
Im finnischen Parlament (8.4.) erinnert er an den Winterkrieg 1939/40 gegen die brutale Invasion Stalins: „Ihr Mut ist unser Mut.“ Er bedankt sich für die frühzeitige Unterstützung des Landes, das eine 1340 Kilometer lange Grenze mit Russland teilt und in die NATO eintreten will. Russland droht bereits, und Finnland rechnet mit einem massiven hybriden Krieg. Selensky lädt das Land dazu ein, vor allem beim Wiederaufbau des Bildungssystems zu helfen, was zurecht als ein Kompliment gewertet werden darf.
Der grausame Raketenangriff auf den Bahnhof von Kramatorsk am 8. April, wo arglose Zivilisten, Frauen mit Kindern, auf den Zug warteten, der sie aus dem Kriegsgebiet herausführen sollte, ist ein Vorbote auf die kommenden Schlachten, die Außenminister Kuleba mit dem 2. Weltkrieg vergleicht. Die Regierung hat deshalb vorsorglich zur Flucht aufgerufen und Fluchtkorridore eingerichtet.
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