Von der Re-Militarisierung zu Armageddon!?

  1. Home
  2. /
  3. Blog
  4. /
  5. Von der Re-Militarisierung zu Armageddon!?

Am 10. April wird zum ersten Mal gemeldet, dass sich ein über 10 Kilometer langer russischer Konvoi dem Donbass nähert. Die erwartete Großoffensive vor oder nach Ostern (das orthodoxe Fest liegt eine Woche später) wird aufgebaut unter der neuen Leitung des Armeegenerals Dwornikow, der in den amerikanischen Medien „the butcher of Syria“ genannt wird. Er hat auch die Erstürmung von Grosny befehligt. Die Ukraine erwartet härteste Kämpfe: „Wir brauchen mehr Waffen, jede Stunde zählt“ (Klitschko).

Was Grosny im zweiten Tschetschenienkrieg war, ist heute Mariupol, beides Städte von ähnlicher Größenordnung. Die ukrainische Armee spricht von der „letzten Schlacht um Mariupol. „Seit mehr als einem Monat wird die Stadt belagert und ist heftig umkämpft. Die strategisch wichtige Stadt ist indes noch nicht erobert, während die Infrastruktur zu 90% zerstört wurde, darunter Krankenhäuser und Schutzräume.

Am 13. April ist der Bürgermeister Bojtschenko für eine Pressekonferenz zugeschaltet, er hat in der Stadt ausgeharrt, die „zu Staub zerbombt worden ist“ und wo nicht alle Bürger „in Sicherheit gebracht werden konnten“; Evakuierungsbusse werden zerstört. Der Bürgermeister spricht von einem „Völkermord“. Er wird nach chemischen Waffen und mobilen Krematorien gefragt. Beweise dafür werden gesammelt.

Der Bürgermeister spricht außerdem von einer „Racheaktion“, weil sich Mariupol seit 2014 zu einer „europäischen Stadt, zu einer modernen Stadt, zu einer Stadt der Zukunft“ entwickelt habe und das russische Angebot zur Integration ablehnte. Bojtschenko hat die Stadt noch nicht aufgegeben, während es der russischen Seite darum geht, endlich die erste größere Stadt unter ihre Kontrolle zu bringen, was ein ’symbolischer Sieg‘ und ein wichtiger Baustein für die „Befreiung“ des Donbass wäre.

Am 13. April verschärft der amerikanische Präsident Biden den Ton, indem er von „genocide“ spricht, womit eine rote Linie überschritten wäre. Damit ist Biden seiner Regierung einmal mehr einen Schritt voraus, wie schon bei der Verwendung des Wortes ‚Kriegsverbrecher‘, gemünzt auf Putin. Der Kreml hält das für „inakzeptabel“ und Selenskyj wiederum für ein Zeichen von „Führerschaft“. Kommt es zu einem Titanenkampf zwischen Biden und Putin, der sich im Krieg mit den USA um Einflußsphären befindet?

Putin sieht sich tatsächlich im Krieg mit den USA. Gewinnt er, verliert die USA, welche die Ukraine seit 2014 für den Kampf um ihre Eigenständigkeit rüstet. Jeden Tag sind zehn Flugzeuge unterwegs, die diese Unterstützung verstetigen. Die Vorstellung, Ukrainer sein zu können, auszulöschen, bezeichnet Biden als Völkermord. Ukrainer, die nicht bereit sind, zuzugeben, dass sie Russen sind, werden von Putin als ‚Nazis‘ bezeichnet. Führt er gegen diese einen ‚Vernichtungskrieg‘ so wie die Nazis gegen Polen und die Sowjetunion? (NZZ, 8.4.).

Putin behauptet immer noch, dass dieser Stellvertreterkrieg den russischen Sicherheitsinteressen dient und gibt sich siegessicher (12.4.). Überdies lasse sich ein so großes Land wie Russland in der heutigen Welt nicht isolieren, sicherlich so lange nicht, als China, Indien, Kasachstan u.a. gemeinsame Sanktionen nicht stützen.

Auf die Überschrift „von der Re-Militarisierung zu Armageddon“ lässt sich auf zweierlei Art reagieren. Einmal: „hoffentlich nicht“. Man setzt als Normalbürger in einer solchen Situation normalerweise auf das Prinzip Hoffnung anstelle der Verzweiflung angesichts einer ohnehin krisengeschüttelten Welt, die wirtschaftlich und politisch ‚out of control‘ ist. Gerade gibt es für die Einzelnen wie die Regierungen zu viele Krisen auf einmal, um sie noch rational bewältigen zu können.

Und zweitens wird reagiert, indem gesagt wird, dass es noch nicht so weit sei. Armageddon klingt zu apokalyptisch. Wenn es einen „heiligen Krieg“ der Zivilisationen gibt, dann vielleicht von Russland aus. Man dramatisiert oder wiegelt ab. Beide Seiten lassen sich mit Argumenten überhöhen (mit Werten, Religion und Zivilisation). Wir warnen mit dem Titel vor dem Schlimmsten, um es zu verhindern und hoffen dabei auf die letzten Reste von Rationalität selbst bei Größenwahnsinnigen.

Ein maßloser Wortgebrauch im schnellen Informationskrieg ist leider Tatsache, aber auch angesichts des Schreckens bleiben Augenmaß und Urteilskraft wichtig (NZZ, 8.4.). Zudem sind die völkerrechtlichen Begriffe definiert und werden durch ein minuziöses Verfahren der Ermittlung begleitet. Bei den Massenmorden an den Tutsi 1994 und den Bosniaken 1995 kam das internationale Gericht zum Schluss, dass ein Völkermord nach UN-Konvention vorliegt.

Moral und Klugheit, insbesondere kluge exekutive Macht, stehen im Widerstreit, obwohl man doch gerade jetzt im aktuellen Kriegsgeschehen in der Ukraine, das wir medial in Echtzeit verfolgen, beides dringend benötigt: präzise Kampf- und Solidaritätsmoral sowie kluge Abwägungen. Mehr Moral allein hilft nicht weiter.

Niemand droht Russland die militärische Zerstörung an, und aus den Reihen seiner Militärexperten wird Putin sicherlich schon einmal gehört haben, dass die Nato in der Summe um ein Vielfaches militärisch stärker ist, zumal die Kampfkraft der russischen Armee, einschließlich der gerühmten Luftlandedivisionen, nach den Erfahrungen in der Region Kiew zweifelhaft erscheint.

In der Ukraine ist Putin in der kommenden Phase allerdings noch einiges zuzutrauen, aber global wird er sehr genau überlegen, wo und wie stark seine Kräfte sind. Biden bleibt deshalb bei aller Emotionalität und täglich effektiver Unterstützung für die Ukraine besonnen. Er hat das Wort „Dritter Weltkrieg “ in den Mund genommen, ebenso wie erfahrene Generäle, die vor weiteren schweren Waffenlieferungen warnen. Aber wer soll Putin in Russland bedrohen? Der Mann hat alles und alles gleichgeschaltet, jetzt inhaftiert er sogar Funktionäre vom Geheimdienst FSB.

Inzwischen hat der Prozess zum Nato- Beitritt von Finnland und Schweden begonnen. Finnland hat eine lange Grenze mit Russland und ebenso eine lange schwierige Geschichte mit diesem großen Nachbarn. Laut Außenminister Pekka Haavisto gibt es drei Veränderungen, weshalb jetzt eine Nato- Mitgliedschaft Finnlands die Sicherheit des Landes erhöht, was inzwischen auch die Mehrheit der Landsleute so sieht:

  1. Russland sei jetzt offensichtlich bereit, größere Risiken als früher einzugehen;
  2. Russland ist dazu bereit, ohne Mobilmachung ein Nachbarland mit 100 000 Mann unter Druck zu setzen; und drittens
  3. Russlands Rede in Bezug auf unkonventionelle Waffen ist „lockerer geworden“. Dazu zählen chemische Waffen ebenso wie taktische Atomwaffen. Dies muss in der Ukraine und außerhalb ernst genommen werden.

Das tapfere und kluge Finnland sieht sich deshalb nicht mehr in der Lage, sich allein verteidigen zu können und strebt den Schutz nach Art.5 des Nato-Bündnisses aufgrund gemeinsamer Sicherheit und Abschreckung an. Russland droht bereits und rüstet an der Grenze und in der Ostsee mit U-Booten auf, ist aber aktuell keine reale Bedrohung, da die Kräfte in der Ukraine gebunden sind.

Bildnachweis: IMAGO / ITAR-TASS