Unregierbarkeit? 

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Meine ostdeutsche Schwiegermutter, die nicht auf den Kopf gefallen ist und seit den 80er Jahren harte Veränderungsprozesse erlebt hat, fragt mich, was sie am 23. Februar wählen solle, damit sich „das Chaos nicht noch vergrößert“?

Mit Chaos könnte die drohende Unregierbarkeit gemeint sein, wenn die Politik sich nicht zu den notwendigen Entscheidungen durchringen kann. Damit ist zumeist auch die Skepsis verbunden, dass ein Kanzler Merz zusammen mit der CDU, die mit 10 % vorn liegen, keine starke Regierung zustande bringen werden, nachdem die letzte Regierung, die im Allgemeinen als schwach beurteilt wird, gescheitert ist, sodass es zu den vorgezogenen Wahlen am 23. Februar gekommen ist. In den letzten vier Wochen erleben wir deshalb einen der intensivsten Wahlkämpfe der letzten Jahre. Das stärkt die Demokratie, zeigt aber auch, wie wichtig Parteitaktiken sind. 

Merz kann nur die Flucht nach vorn helfen, mit einem Sofortprogramm, das am 3. Februar auf dem Parteitag in Berlin beschlossen worden ist und die drängenden Wirtschaftsfragen in den Vordergrund rückt. Dort traut man ihm, auch vonseiten der Wirtschaft, die größte Kompetenz zu. Das Programm, auf marktwirtschaftliche Art den Standort Deutschland und seine Wettbewerbsfähigkeit zu stärken, würde er am ehesten mit einer starken bürgerlichen Regierung realisieren können. Daran ist kein Zweifel, aber starke Zweifel gibt es von vornherein, ob sie zustande kommen kann. 

Merz will am ersten Tag quasi als Mini-Trump mit seiner Richtlinienkompetenz als Kanzler seine Politik der Begrenzung irregulärer Einwanderung durchsetzen, die in der letzten Januarwoche zur Moralisierung und Polarisierung zwischen ihm und der SPD und den Grünen, ja geradezu zu einem neuen rot-grünen Lager „gegen Rechts“ geführt hat, einschließlich des Protestes auf den Straßen, der sich nicht nur gegen die AfD richtete, sondern ebenso gegen Merz und seine CDU. 

Das große ‚D‘ wurde durch Greenpeace ebenso abmontiert wie durch den heftigen Widerspruch der beiden Kirchen auch das große ‚C‘. Dabei hatte sich die christliche Volkspartei im letzten Jahr bewusst dagegen entschieden, sich zeitgeistig in ‚Die Mitte‘ umzubenennen. Annegret Kramp-Karrenbauer, die Merkel zur Parteichefin aufgebaut hatte, und der Ministerpräsident von Hessen Rhein, beides Katholiken, kritisierten jedenfalls verärgert die Kritik der Kirchen, die in ihren Gemeinden, was den Umgang mit der AfD betrifft, gespalten sind, aber diese Konflikte, die persönlich oft schmerzhaft sind, immerhin austragen.

Tatsächlich ist in Deutschland ein heftiger Streit um die sogenannte Mitte entstanden. 

Plötzlich sprachen alle von der „demokratischen Mitte“. Vorher wollte man rot, grün, links, konservativ oder liberal sein und derart seine Eigenprofilierung betreiben. In der Abstimmung mit der AfD, die sachlich motiviert war, sah man einen „Populismus der Mitte“ (Habeck), der den Platz der demokratischen Mitte verließ. 

Der Begriff ‚Populismus‘ transportiert inzwischen nach seinem inflationären Gebrauch nur noch Polemik ebenso wie ehedem der Begriff ‚Ideologie‘ nach seiner Universalisierung des Verdachts. Die liberale FDP versuchte am 31. Januar immerhin, eine Mitte-orientierte Lösung als Vermittlerin zwischen den beiden Fronten und Lagern durch Gespräche noch zu suchen. Für mich war Christian Dürr der Held des Tages. 

„Die Mitte muss erarbeitet werden“, sie ist nicht fix, siehe dazu den Blog vom 11. Februar 2020. Die FDP steht mit ihrem „Migrationspakt der Mitte“ heute buchstäblich in der Mitte des Feuers in diesem sehr deutschen ‚Kampf gegen Rechts‘ und ist auch innerlich zerrissen. Das ist ein bedenkliches Zeugnis für den tatsächlichen Stellenwert des politischen Liberalismus im neuen Deutschland. Um die Liberalität der Republik muss man sich wirklich Sorgen machen. 

„Mitte statt Merz“ plakatiert die SPD. „Die Mitte sind wir“ und fordert zu Demonstrationen auf gegen die Zusammenarbeit von CDU/CSU mit der AfD. „Es ist noch nicht zu spät“. Was suggeriert das? Die Endphase der Weimarer Republik? Aus der kritischen Erinnerung bzw. aufgrund historischer Analogien, die unter Historikern zurecht umstritten sind, soll Handeln werden: „Nie wieder ist jetzt!“ Überdramatisierung mobilisiert, kann aber auch der politischen Klugheit schaden. 

Der dümmste politische Satz in jüngster Zeit stammt freilich von einem gebildeten Mann im Erfolgsrausch seiner Alternative für Deutschland, die 2013 in Hessen gegen Merkels Europapolitik gegründet worden ist: „Der Nationalsozialismus ist ein Vogelschiss in der deutschen Geschichte.“ Der Nationalsozialismus lastet schwer auf der politischen Urteilskraft, er wird politisch instrumentalisiert, je geringer die Geschichtskenntnisse sind, umso wilder. 

Musk variierte den ‚Vogelschiss‘ noch einmal, als er zum Wahlkampfauftakt der AfD in Halle an der Saale zugeschaltet war (16.1.), und Alice Weidel demonstrierte danach (ebenso wie der amerikanische Vizepräsident Vance, der Musk beisprang), was sie im Geschichtsunterricht als Akademiker gelernt hatten an vermeintlich guten Hochschulen. Die politische Bildungskatastrophe beidseits des Atlantiks ist erschreckend. 

Wechselseitig wird mit der Nazi- oder dann der Linksradikalen-Keule munter aufeinander eingeschlagen. Das Verhältnis von reflektierter Zeitgeschichte und guter Politik, Geschichtswissen und Klugheit ist grundlegend für die Orientierung in unserer hektisch-atemlosen Zeit. Solche ideenpolitischen Orientierungen, die gegen die Verführung kurzfristiger Moden immunisieren, gehen zusehends verloren. Anderes ist viel wichtiger. 

Bei der SPD gesellt sich zu „Mitte statt Merz“ die Behauptung, dass eine aktive Regierung der Mitte nur durch Kanzler Scholz möglich ist. War die Fortschrittskoalition keine Regierung der Mitte? Merz hat mit seiner Intervention gegen Verfassung und europäisches Recht verstoßen, heißt es. Indem er mit „Rechtsextremisten“ paktiert hat, hat er erstmals den antitotalitären „Grundkonsens“ aufgekündigt. Das ist das schwerste Vergehen, so die Sozialdemokraten. Eigentlich könnte man mit einer solchen Partei nicht mehr koalieren. Aber es ist Wahlkampf. 

Anfangs Februar hören wir allerdings schon wieder, dass für die moralisch-politischen Gegner Koalitionen mit den Schwarzen vorstellbar bleiben, für Scholz wie für Habeck. Seine Durchsetzungsfähigkeit hat laut Umfragen Merz nicht geschadet, vielmehr seiner Kanzlerfähigkeit in den Augen der Wähler genützt, zumal eine große Mehrheit in der Bevölkerung hinter seinen Vorschlägen inhaltlich steht und die alltägliche Notlage, die nicht nur ein „Vollzugsdefizit“ (Scholz) ist, ähnlich sieht. 

Wahlkampf ist Wahlkampf. Nach dem 23. Februar redet man wieder anders darüber. Ein Drittel der Wähler sind noch unentschieden, der Wahl-O-Mat der Bundeszentrale für politische Bildung, den es seit 2002 gibt und der inzwischen millionenfach genutzt wurde, ist seit dem 6. Februar online und analog eingeschaltet, und das große TV-Quadrell am 16. Februar steht noch bevor. Es ist also noch Bewegung möglich, die Dynamik wird gegen Ende ohnehin immer größer. Migration und Wirtschaft bestimmen den Wahlkampf. 

An eine starke bürgerliche Regierung glauben nur noch die kühnsten Optimisten. Die FDP bangt um den Einzug in den Bundestag, genauso wie ‚Die Linke‘ und das BSW. Vom Erfolg oder Misserfolg dieser kleinen Parteien hängt die neue Mehrheit im Bundestag entscheidend ab, auch bei der Kanzlerwahl. Man darf nicht nur auf das Kanzlerduell schauen. Am 9. Februar treffen Kanzler Scholz und Oppositionsführer Merz zum ersten Mal in zwei geplanten TV-Duellen (ARD/ZDF) aufeinander. 

Die SPD hatte den Wahlkampf von Anfang an auf dieses Duell hin angelegt, das Format entspricht dem. Ist sie noch eine mobilisierende Volkspartei über ihre engere Klientel hinaus? Erreicht sie die sogenannt „normalen Leute“? Reicht theoretisch der Biss gegen die „Reiche-Leute-Ideologie“ (so Scholz gegen Merz am 9. Februar). 

An der Spitze der Kanzlerdemokratie der Kanzlerparteien verwundert es nicht, dass Merz nun sagt: „Vier Prozent für die FDP, sind vier Prozent zu viel“ (6.2.) Und vier Prozent zu wenig für die Union, Merz will den Abstand zu seinen künftigen Koalitionspartnern möglichst groß halten, um viel von seinem Programm radikaler Reformen durchsetzen zu können. Das ist konsequent. 

Es werden doch eher die SPD oder/und die Grünen sein, mit denen sich die CDU verheiratet. Eine Duldung durch die AfD schließt Merz definitiv aus und damit auch eine Minderheitsregierung mit wechselnden Mehrheiten, die in Europa üblich geworden sind. 

Koalitionsverhandlungen für einen neuen Regierungskonsens haben wieder eine andere Sprache und Logik. Sie gehören im weitesten Sinne auf das Gebiet der ‚Verhandlungsdemokratie‘, auf die wir noch einmal zu sprechen kommen werden. In ihr verhandeln primär die Spitzen von Parteien und Verbänden, Machtkalküle spielen dabei die Hauptrolle. 

Die CSU will „mit Garantie“ (Söder) nicht mit den Grünen und als Christlichsoziale wohl eher mit der SPD. Logisch ist das nicht, aber um Logik geht es auch nicht, nicht einmal um die propagierte wirtschaftspolitische Vernunft, denn dafür braucht es einen liberalen Kompass. Das sollte nach dem historischen Warntag der Wirtschaft für alle anschaulich geworden sein. Merz: „Die wirtschaftliche Substanz des Landes steht auf dem Spiel“. 

Wird Deutschland also unregierbar in einer schweren Krise zugleich in wirtschaftlicher, migrationspolitischer sowie europa- und weltpolitischer Hinsicht? Wobei hier Krise und Polykrise noch zu wenig besagen. Kann man so eine „führende Mittelmacht“ in Europa und gar „weltpolitikfähig“ werden, wie die großen Worte des eloquenten Kanzlerkandidaten Merz lauten, der wohl gerne ein neuer Adenauer wäre? Diese Ambition ist ihm unbenommen und im Amt kann man an den Herausforderungen, die wahrlich groß sind, auch wachsen (wie lästerte man damals über die „Birne“ Kohl!), aber wie sehen die realen parteipolitischen Möglichkeiten dazu aus? 

Wir wollen analytisch noch einmal versuchen aufzuhellen, in welch inniger interner Verbindung Politik heute zu Recht, Moral und Demokratie steht, um die verschiedenen Dimensionen der Kontroversen, die wir im letzten Blog als Moralisierung und Polarisierung beschrieben haben, deutlicher zu machen: 

  • Politik und Recht/Verrechtlichung, Verfassungsrecht, europäisches Recht 
  • Politik und Moral/Erinnerung, Wertekonsens, Grundkonsens 
  • Politik und Demokratie/Mehrheit, handlungsfähige Mitte, demokratische Regierung 

Demokratische Politik ist bei allen Differenzen auf einen tragenden Konsens angewiesen. Woher aber kommt dieser heute bei anhaltender Differenzierung, Moralisierung und Polarisierung? Der erforderliche, historisch entstandene und historisch begründete, grundsätzliche Wertekonsens oder sogenannte Grundkonsens bündelt sich im Verfassungskonsens als oberster Rechtsebene. Er definiert normativ das demokratische Spektrum, innerhalb dessen gestritten werden kann. Das Verfassungsgericht ist erfolgreicher Hüter der Grundrechte und allein befugt, ein Parteiverbot auszusprechen. Das fällt nicht in die Kompetenz von Professoren. 

Dabei ist Politik nicht identisch mit Recht bei aller weitgehenden Verrechtlichung moderner Politik. Von ihr wird vielmehr ein problemlösendes Handeln erwartet, welches Recht ändert oder neue Gesetze durch die Legislative schafft. Dabei kommt es zu einem demokratischen Kampf ums Recht, der auch Verfassungspositionen betreffen kann, europäisches Recht ohnehin, da es hier Konflikte mit dem nationalen Recht und nationale Notstände gibt. 

Der notwendige Regierungskonsens, der von Wahlen und Parteien abhängt, ist wieder etwas anderes und bei Koalitionsregierungen mit mehreren Parteien zunehmend etwas durchaus Schwieriges und Fragiles. Eine gescheiterte Regierung ist insofern keine politische Katastrophe, sondern in Europa demokratische Normalität geworden, so wie die Abwahl, die demokratisch immer möglich sein muss. 

Regierbarkeit von Demokratien

Das Regieren in Demokratien ist schwierig, das ist nichts Neues. 1975 erschien der Bericht der Trilateralen Kommission: The Crisis of Democracy: Report of the Governability of Democracies (Crozier u.a., New York 1975), der eine reichhaltige internationale Diskussion über Regierbarkeit auslöste, auf die wir hier nur hinweisen können. 

Sie kannte Im Wesentlichen zwei hauptsächliche Antipoden: die liberal-konservative Seite, die von den Grenzen des Wohlfahrtsstaates sowie der expansiven Politik in der Demokratie (Anspruchsinflation) ausging, und die linke-neomarxistische Seite, die bei der Legitimationskrise des Spätkapitalismus ansetzte (Offe, Habermas). Bei der ursächlichen Diagnose der Regierbarkeitsproblematik gab es Überschneidungen, bei den politischen Therapien nicht. Dabei ging es analytisch immer um zwei Hauptaspekte gleichermaßen: staatliche Effektivität und demokratische Legitimität, die man sodann theoretisch noch weiter ausdifferenzieren konnte. 

Politische Systeme sind historisch stark pfadabhängig, insbesondere der Föderalismus sowie das Regierungs- und Parteiensystem. Man kann nicht einfach, sozusagen ingenieursmäßig, das eine System durch ein anderes ersetzen – etwa das deutsche Proporzsystem durch das britische Westminstermodell – oder einzelne wichtige Elemente wie bei einem Motor austauschen, etwa den deutschen Bundespräsidenten durch den französischen Staatspräsidenten. 

Die Schweiz eignet sich als politologisches Labor. Sie ist klein und kleinteilig, aber (genauer: dadurch) zivilpolitisch komplex. Sie hat als kleines Land das anspruchsvolle Zweikammer-System von den USA (Repräsentantenhaus und Senat), die erstmals in der Geschichte eine große föderative Republik wurden, übernommen (Nationalrat und Ständerat) und ist weitgehend direktdemokratisch organisiert. Das hat Folgen für das schwierige demokratische Regieren. Im Anschluss an Franz Lehner ‚Grenzen des Regierens‘ (1979) untersuchten Kurt Nüssli die ‚Regierbarkeit durch Föderalismus‘ (1983) und Erwin Rüegg die ‚Regierbarkeit durch Konkordanz‘ (1983). 

Es fehlte noch die ‚Regierbarkeit durch direkte Demokratie‘, die für die politische Identität der Schweizer konstitutiv ist. Leonhard Neidhart untersuchte in seiner Dissertation an der FU Berlin in den 60er Jahren (Plebiszit und pluralitäre Demokratie, Bern 1970) die direkte Demokratie der Schweiz, motiviert auch aufgrund seiner Auseinandersetzungen mit idealpolitischen Vorstellungen über sie im Gefolge von Liebknechts Räterepublik im SDS. Der Zeitgeist an der Uni wehte damals von links, und man glaubte, die parlamentarische Demokratie der Parteien durch eine direkte Demokratie revolutionär ersetzen zu sollen und zu können. 

Neidhart zeigte den Wandel der realen direkten Demokratie auf, die im 19. Jahrhundert durch die demokratische Bewegung im Kanton Zürich erfunden worden ist (Referendum und Volksinitiative). Der Wandel von der Abstimmungs- zur Verhandlungsdemokratie setzt in den 50er Jahren ein. Als beschleunigende Faktoren nennt Neidhart den Abbau von politisch-ideologischen Polaritäten und parallel dazu die zunehmende Differenzierung und Organisation der gesellschaftlichen Interessen. Beides beeinflusst die Aktivbürger, die nicht nur eine Wählerrolle, sondern auch eine Mitentscheidungsrolle in der Gesetzgebung wahrnehmen. 

Die Klagen über zunehmende Stimmabstinenz werden denn auch in diesen Jahren erstmals laut, und die oppositionelle Arbeiterbewegung setzte in der Folge mehr auf Kooptation in die Regierung (Konkordanz) und Verhandlungen der Sozialpartner (Arbeitsfrieden) als auf die direkte Demokratie der Bürger. 

Dazu kommt der wachsende Problemlösungsbedarf einer hochdifferenzierten Gesellschaft, welcher zu einer Substitution der plebiszitären Ja-Nein Entscheidung durch differenziertere Muster der Problemlösung führt (S.288ff, a.a.O.). Die Antwort auf die Ausgangsfrage von Neidharts Untersuchung, „wie denn ein teilplebiszitäres System mit seinen im Referendum möglichen Majoritätsbeschlüssen der Aktivbürgerschaft“ noch Antworten auf die vielschichtigen Probleme findet, lautet: im Modell der Verhandlungsdemokratie (S. 313). 

Verhandlungsdemokratie heißt ein institutionelles Muster des legislatorischen Bargainings. Das bedeutet: neben der plebiszitären Mehrheitsbildung wird die Verständigung zu einem komplementären Legitimationshintergrund moderner demokratischer Politik (siehe dazu ausführlich : R .Voigt ( Hg.), Der kooperative Staat, Krisenbewältigung durch Verhandlung?, 1995). 

Verhandlungsdemokratische Strukturen spielen dabei sowohl innerhalb als auch außerhalb des Regierungssystems eine Rolle. Drei Formen von Verhandlungsdemokratie lassen sich unterscheiden: All-Parteien-Regierung, föderale Politikverflechtung und liberaler Korporatismus, der sich von den autoritären Varianten der Zwischenkriegszeit unterscheidet (Schmitter/Lehmbruch 1979 und 1982). 

Der demokratische Verantwortungszirkel wird durch die Realität dieser verflochtenen Politikformen durchbrochen (Scharpf 1993). Dem Verlust der inneren Souveränität durch Koalitionsregierungen, kooperativen Föderalismus und den Einbau organisierter Interessen in den Staat, was zum Gegensatz Korporatismus/Pluralismus (Gruner) führt, folgt die Erosion (genauer: die Teilung und das Pooling) äußerer Souveränität zum Beispiel durch die EU als Staatenverbund. Der Nationalstaat wird im Zuge dieses Prozesses zwar nicht postnational ohne nationale Interessen, aber transnational in einer neuen supranationalen Einheit. Das schafft zusätzliche politische Konflikte und anspruchsvolle Abstimmungsprozesse. 

Wir wollen hier aber nicht die politische Kunst der Interessen-Vermittlung (die etwas anderes ist als Interessen-Vertretung) in den Fokus nehmen, sondern im Hinblick auf den 23. Februar und danach die Problematik der Parteien in Koalitionsregierungen. 

Die Problematik der Parteien(demokratie) 

Am kleinen Parteitag der CSU in Nürnberg am 8. Februar wird noch einmal deutlich, in welcher Selbstfesselung Merz und seine CDU liegen. Merz betont in seiner Rede, dass es keine Zusammenarbeit, Koalition oder Duldung mit der AfD geben werde: „Sie ist unser wichtigster Gegner“. Dadurch sind bestimmte Möglichkeiten des Regierens, zum Beispiel die Minderheitsregierung, von vornherein ausgeschlossen. 

Es wäre schon eine Leistung, wenn die CDU die AfD am 23. Februar nicht über 20 % klettern ließe. Interessant zu wissen ist, welche Wählerwanderungen es gibt. CDU und SPD müssen um die Zustimmung der AfD-Wähler werben, in deren Regionen und Hochburgen, die man kennt, mit wirtschafts- und sozialpolitischen Thesen, die ansprechen. Mit einer tatsächlichen Migrationswende könnte der AfD ihre Existenz- und Wachstumsgarantie genommen werden. In der Zeit der Ampel-Regierung hat sich die Zahl der AfD-Wähler verdoppelt. 

Mitte-Rechts-Regierungen, wie sie in Europa häufiger geworden sind, kommen für Deutschland erst gar nicht infrage, nicht einmal in Thüringen. Die schrill radikale Rhetorik der Rechten würde nur verschwinden mit der Übernahme von Regierungsverantwortung wie in Italien, wo Meloni inzwischen zu einer Stütze der EU geworden ist, nachdem sie davor ihre größte Kritikerin war. 

Andererseits ist auffällig, dass Merz in seiner Rede in Nürnberg am 8. Februar weniger scharf gegen die SPD spricht wie gegen die Grünen, zum Beispiel in der zentralen Migrationspolitik: „Erstere können es nicht, letztere wollen es nicht“. Söder seinerseits betont noch einmal, dass die Grünen nicht regierungsfähig seien. 

Auch die Liberalen unter Lindner schließen an ihrem Parteitag in Potsdam am 9. Februar eine Koalition mit den Grünen aus: „Eine wirtschafts- und migrationspolitische Wende sei mit ihnen nicht möglich“. Für eine Koalition von Union, SPD und FDP hingegen ist man offen. Lindner glaubt noch immer, dass die „entscheidende Frage ist, ob Lindner oder Habeck im Kabinett sitzen.“ 

Also läuft alles auf eine kleine neue Groko hinaus unter Führung von Kanzler Merz. Dazu müsste er ein Glanzresultat (bei 35 %) erzielen, und die SPD eine historische Niederlage (unter 20 %) erleiden, die eine Zäsur bedeutete und eine personelle Neuaufstellung erfordern würde. Will Merz den Minitrump spielen, womit er sich jetzt im Wahlkampf profiliert, dürfte er bei der späteren Regierungsbildung der SPD höchstens soziale Ministerien zugestehen.

Mit einem grünen Außenministerium wird es ebenso endgültig vorbei sein wie mit einem Wirtschafts- und Finanzministerium, auch wenn die Grünen vor der SPD am 23. Februar auf dem dritten Platz landen sollten. Wird es noch ein Klimaministerium geben? Wichtig für eine Gerechtigkeit zwischen Generationen ist auch die Schuldenbremse, welche finanziellen Lasten in der Zeit fair zu verteilen sucht. Sie wird voraussichtlich auch unter Merz reformiert oder geschleift werden, damit die Parteien ihre Klientel bedienen können. 

Beim ersten TV-Duell zwischen Scholz und Merz am 9. Februar waren die Differenzen bei Wirtschaft und Finanzen am größten, aber sie sind überbrückbar. Die Richtlinienkompetenz des Kanzlers wird Merz wieder stärker ausschöpfen, was den Erwartungen an die deutsche Kanzlerdemokratie entspricht, auch in Richtung Brüssel. Seinen Ministern wird er dort „Präsenzpflicht“ verordnen. 

Merz kombiniert diesen Punkt vor dem Wahlvolk geschickt mit der populären EU-Kritik an deren Überregulierung im Detail: „Was macht ihr denn da. Das kann doch kein Mensch gebrauchen“, so in Nürnberg direkt an den Fraktionsvorsitzenden der EVP, Manfred Weber (CSU) gewandt. Oder ist populäre Politik auch schon Populismus? 

Verstehen sich die Parteien in der Demokratie als ‚Parteienstaat‘ noch als ‚Agent‘, der dem ‚Principal‘ Rechenschaft abzulegen hat, oder haben sie inzwischen ein paternalistisches Verhältnis zwischen Wählern und Abgeordneten, die Partei -, Fraktions- und Koalitionszwängen folgen trotz Art. 38 im Grundgesetz. Parteien und ihre Apparate leben mittlerweile in ihrer eigenen Wirklichkeit, abgehoben vom Volk und von der Bürger- und Volkssouveränität. 

Die direkte Demokratie kann das korrigieren. Für die Kanzlerpartei CDU führt dies auf Bundesebene seit je direkt in die „Unregierbarkeit“ (Rupert Scholz), in diesem Punkt bleibt sie konsequent; SPD und Liberale schließen das im Grundsatz zwar nicht aus, gehen aber nicht in die Offensive; die Grünen haben – nach dem Brexit-Schock – in ihrem neuen Grundsatzprogramm die direkte Demokratie zugunsten losbasierter Bürgerräte verabschiedet; einzig die AfD plakatiert im laufenden Wahlkampf noch „mehr Demokratie „. 

Schluss 

Was habe ich nun meiner lebenserfahrenen Schwiegermutter in Gommern bei Magdeburg empfohlen? Nichts, sie braucht keine Nachhilfe von mir, ebenso wenig wie meine Familie. Sie werden ihre eigene Wahlentscheidung treffen. Taktische Wähler sind sie nicht. Wählen gehen sie jedoch, wie immer, auf jeden Fall. Sicher ist auch, dass sie nicht AfD wählen werden. Das haben sie nie gemacht, und sie wussten auch wieso. Was sie wählen, ist diesmal allerdings nicht so festgelegt wie auch schon. Die Skepsis für die Zeit nach dem 23. Februar teilen sie mit mir. Meine 23-jährige Tochter sagte zu mir: das wissen wir doch schon längst.