Unfriedliche Koexistenz

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Das Außenminister-Treffen in der Türkei ist am 10. März ergebnislos geblieben, nicht einmal eine 24-stündige Waffenruhe konnte vereinbart werden. Der Krieg geht mit unverminderter Härte weiter, jede Seite will und muss im Kriegsgeschehen Vorteile erzielen.

Lediglich eine Plattform für künftige Gespräche ist geschaffen worden, die beide Seiten nicht ablehnen, aber Kompromisse auf dem Weg zu einem Frieden sind noch in weiter Ferne. Immer mehr Menschen begeben sich derweil auf eine gefährliche Flucht, während die russische Armee die großen Städte bombardiert: Mariupol ist „die Hölle auf Erden“ (Melnyk am 10.3. in Berlin).

Neue Städtenamen kommen hinzu: Sumy, Irpin, Isjuw, Mykoaijw, Dnipro. Die russische Armee rückt weiter vor, vor allem im Süden, aber auch Kiew wird weiter eingekreist. Die Ukraine wird vor den Augen der Welt zerstört – Zerstörung und Entvölkerung. Das Muster ist bekannt: „blanker Terror von erfahrenen Terroristen“(Selenskyj).

Außenminister Lawrow wiederholt am 10. März, was Putin seit zwei Wochen sagt. Er weist alle Vorwürfe zurück, einen Krieg gegen die Zivilbevölkerung zu führen und erhebt seinerseits schwere Vorwürfe gegen das „Kiewer Regime “ und den Westen, insbesondere die USA, antirussisch zu sein und Russland zu bedrohen. Zuerst müsse die Ukraine „entnazifiziert“ und „demilitarisiert“ werden – Begriffe, die nicht verschwunden sind.

Ist also doch der Sturz der Regierung das Kriegsziel, was erst am 9. März überraschend durch das Außenministerium dementiert worden ist. Welche Kriegsgründe findet man noch, weil man sich bedroht fühlt? Die militärische Logik dieser uns gänzlich fremden Welt ist nicht klar.

Ein schneller „Enthauptungsschlag“ gegen die Kiewer Regierung hätte man militärisch auch anders durchführen können, ohne einen flächendeckenden Angriffskrieg gegen ein so großes Land von verschiedenen Seiten aus. Auf dem Boden stockt er aufgrund logistischer Probleme sowie Probleme der Motivation und Führung und vor allem der wirksamen patriotischen Gegenwehr. Aus der Luft ist der Krieg terroristisch gegen schutzlose Städte.

Die Waffenlieferungen, so Lawrow, würden deutlich machen, „wie gefährlich der Westen für Russland“ ist. Nicht zufällig spricht er die Flugabwehrraketen an, die besonders wirksam sind. Russland verlässt am 10. März sogar den Europa-Rat, er sei eine „Narzissmus-Plattform“. Der Westen, einschließlich Ukraine, gegen Russland, die russische Sprache, Kultur und Religion sowie und vor allem gegen die Sicherheit der russischen Föderation lautet das vereinfachende Feindschema.

Der Angriffskrieg ist noch immer kein Krieg, sondern die deklarierte militärische Spezialoperation zur eigenen Verteidigung. Dafür gilt auch die seit Langem bekannte Doktrin von Generalstabschef Gerassimow: „Russland hat das Recht, sich nuklear zu verteidigen. Die USA wie Russland warnen derweil vor dem Einsatz von chemischen und biologischen Massenvernichtungsmitteln.

Aus russischer Sicht geht es im Kern um die Konfrontation zwischen amerikanisch westlicher Zivilisation und russischer Kultur bzw. großrussischem Nationalismus, der verschiedene Aspekte umfasst: wirtschaftliche, militärische, kulturelle, religiöse und politische. Dieser großrussische Nationalismus scheint, analytisch gesprochen, „archäologisch“ zu sein. Die Narrative von Russland als Großmacht und Russland als „Mutter“ der anderen ostslawischen Nationen (Weißrussland und Ukraine) sind im Diskurs tief verankert und haben den Rang eines „Heiligtums“ erlangt, was sich nicht schnell ändern lässt (siehe auch Suszycki, Nationalism in Contemporary Europe, Zürich 2021).

Die Politik Putins verteidigt und fördert den großrussischen Nationalismus, der ein Imperialismus ist, von Anfang an seit Beginn der 2000er Jahre und erteilt dem autokratischen Herrscher mit vertikaler Macht die Legitimation. Putin ist nicht allein. Es ist auch nicht die kommunistische Diktatur, die hier wieder aufersteht, sondern ein eigener militärisch-industrieller Komplex, ein autokratisches Netzwerk, deren zahlreiche maßgebliche Personen, die Karriere gemacht haben, man mit Namen aufzählen kann: eine hybride Autokratie mit populärer Unterstützung. Putin lachte, als man ihm vorwarf, die Sowjetunion wiederherstellen zu wollen.

Die politische Logik wird immer klarer, was zu einer unfriedlichen Koexistenz führen wird, wenn man Putins Narrativ übernimmt, dass die Nato-Erweiterung eine Bedrohung Russlands sei. Lawrow will diplomatisch die friedliche Koexistenz des kalten Krieges unter neuen Umständen wieder etablieren, bei der Russland als ordnende Weltmacht anerkannt war. Schon vorher gab es dieses Denken in Kategorien des kalten Krieges über die Köpfe der ukrainischen Bevölkerung hinweg, wenn gesagt wurde: Entweder Nato-Beitritt oder „Finnlandisierung“. Was aber heißt Letzteres? Wir kommen darauf zurück.

In der ukrainischen Verfassung sind der NATO- und EU-Beitritt als Ziele vorgesehen. Wird der NATO-Beitritt von der demokratisch legitimierten Regierung in möglichen Verhandlungen wieder zur Disposition gestellt? Man hört verschiedene Stimmen. Eine Art Neutralität mit der Perspektive eines EU-Beitritts wäre sicherlich hilfreich, eine Entmilitarisierung käme indessen einer Kapitulation gleich. Dafür hatte man nicht so opfervoll gekämpft, um sich wieder entwaffnen zu lassen.

Es würde zur begrenzten Souveränität der ehemaligen Breschnew-Doktrin aus Sowjet-Zeiten zurückführen, in die niemand mehr möchte. Die mittel- und osteuropäischen Staaten haben sie nach 1989 mit demokratischen Revolutionen historisch überwunden. Darum haben sie auch eine besondere Souveränitätsempfindlichkeit, auf die auch die EU Rücksicht nehmen muss.

Die Polen kämpfen, als ob sie Ukrainer wären. Die Bevölkerungen von Belarus und der Ukraine holen die demokratische Revolution nach mit Russland als direktem militärischen Gegner. Welche Kompromisse wird Selenskyj mit seiner Bevölkerung im patriotischen Widerstand schließen können? Er sagt selbst: wir sind Realisten. Das müssen gerade Kämpfer auch sein, jedes militärische Detail wird in einer solchen Situation wichtig. Auch territoriale Verzichte bezüglich Donbass und Krim sind prinzipiell im Verhandlungsangebot, wobei offen bleibt, ob hier die Bevölkerung mitgehen würde.

Selbst in Zeiten des kalten Krieges war das neutrale Finnland, nach dem heldenhaften Winterkrieg 1939/40 gegen den brutalen Stalin, eingeklemmt zwischen den Militär- Blöcken, immer darauf bedacht, Assoziationen sowohl mit der EG als auch mit der RGW zu suchen. Trotz informeller Einflussnahme der übermächtigen Sowjetunion wurde Finnland durch die EU und dem Euro schließlich ein fester Bestandteil des Westens. Die demokratischen Regierungen von Paasikivi und Kekkonen haben es verstanden, auf russische Interessen Rücksicht zu nehmen, was aus heutiger Sicht auch kritisch gesehen wird. Die Zustimmung zu einem Nato-Beitritt wächst.

Mariupol, das seit zehn Tagen eingeschlossen wird, wirft Lawrow am 10. März vor, Menschen als Schutzschilder zu benutzen. Selbst den Angriff auf die Kinderklinik, der weltweit für gesteigerte Empörung gesorgt hat, stellt er anders dar. Im russischen Fernsehen gibt es darüber andere Versionen. Zivile Ziele stellt der informierte Außenminister sodann generell in Abrede, während Selenskyj von Völkermord spricht – viele Wahrheiten, ein Krieg, von Anfang an bis zum bitteren Ende.

Bildnachweis: IMAGO / Ukrinform