Bund und Länder, alte Regierung und neue, Merkel und Scholz vereinbaren am 2. Dezember 2021 einen „Akt der nationalen Solidarität“ zur nunmehr entschlossenen Bekämpfung der 4. Welle der Pandemiekrise, vor der schon im Sommer gewarnt worden ist, die aber lange unterschätzt wurde. Gleichzeitig stellt der Spendenrat fest, dass die Deutschen noch nie so viel gespendet haben wie 2021. Das meiste betraf die Flutkatastrophe im Sommer im Ahrtal (SolidAHRität).
2020 kam es darüber hinaus zu einem außergewöhnlichen Akt europäischer Solidarität mit den von Corona besonders betroffenen Ländern Italien und Spanien, der in einer besonderen Anstrengung nationale mit transnationaler Solidarität verband. Die EU rang sich erstmals, unter Führung von Frankreich und Deutschland, zu einer gemeinsam finanzierten Schuldenaufnahme durch – Wiederaufbaufonds als Modell?
Das alles sind historisch einmalige Ereignisse, die im Zusammenhang der größten Krise seit dem 2. Weltkrieg stehen. Seit 2020 stieg Solidarität – national, europäisch und global – wieder zu einem Hauptwort der sozialen und politischen Sprache auf.
Was heißt Solidarität?
Was aber heißt Solidarität? Die scheinbar einfachsten Worte sind bei genauerer Betrachtung oft die schwierigsten. Das geht der Freiheit, Gerechtigkeit, Würde, Gleichheit, Toleranz und Nachhaltigkeit nicht anders.
Solidarität sorgt vor allem innerhalb einer größeren oder kleineren Gruppe für Ausgleich und nicht für Gleichheit, was für eine demokratische (Parteien-)Politik , die bei ihren Problemlösungen von Kompromissen lebt, nur förderlich ist. Sie schafft Solidarität im Sinne von Ausgleich und Zusammenhalt und sie erreicht mithilfe von Solidarität andere Ziele.
Bei allem Gegeneinander in der Konkurrenzgesellschaft und allem Nebeneinander in der arbeitsteiligen differenzierten modernen Gesellschaft und dem zeitlichen Nacheinander der Generationen ist trotzdem Solidarität möglich. Dies ist die Möglichkeit einer zivilen BürgerInnenschaft, bestehend aus Trotzdem–Sätzen einer verantwortungsvollen Zivilität als Zuständigkeit für Prozesse der Zivilisation. Zivilität heisst eine Kombination von Freiheit und Einschränkung, von Selbstzwang und Fremdzwang.
Diese haben es in unserem modernen Verständnis immer mit dem Sozialen und dem Politischen zu tun. Verbindungsteile zwischen beidem sind Bildung und Staat. Bei beidem handelt es sich um Rechte, die erkämpft werden müssen. Bei der Kampfsolidarität von Schwachen gegen Starke wird deshalb nicht zufällig die Betonung der Einheit der Vielen wichtig. Einheit ist in diesem Kontext selber zu einer Forderung geworden, die in der Arbeiterbewegung eine politische Rolle spielte.
Nach dieser Vorstellung sind die Schwachen dann handlungsfähig, wenn es ihnen gelingt, starke Organisationen zu bilden (Gewerkschaften, Parteien, Verbände, Vereine). Für diese Solidarität war und ist die Einheit über Organisation wichtig, weshalb sich nicht zufällig in der Moderne eine ‚Organisationsgesellschaft‘ herauskristallisiert, zu der auch die Verwaltung als Rückgrat des Staates gehört.
Diese Umstände charakterisieren eine moderne Gesellschaft in hohem Masse, gleichwohl unterscheidet die Systemtheorie von Niklas Luhmann die Ebenen: Interaktion, Organisation und Gesellschaft. Zwei Punkte wollen wir festhalten:
Die wirklich Schwachen sind in der modernen Gesellschaft diejenigen, die hinsichtlich Organisationsgrad und Lobby hinten stehen und nicht wirklich konfliktfähig sind. Zweitens ist nicht jede Einheit über Organisation gleichermaßen günstig und förderlich für den Zusammenhang von Freiheit, Toleranz und Solidarität.
Große und kleine Solidarität
Es gibt unterdrückende große politische Einheiten wie Imperien, Diktaturen, autoritäre und totalitäre Regime sowie kleinere totale Gemeinschaften, Religionen, Institutionen und Organisationen, die das Individuum auf eine Rolle fixieren. Die moderne Solidarität beruht dagegen auf Freiwilligkeit: Freiheit ist der zentrale Wert der Moderne bei aller Organisierung, die ihr nur scheinbar widerspricht, denn auch Solidarität organisiert sich und organisiert zum Beispiel spezifische Projekte wie eine Schule, ein Krankenhaus oder die Wasserversorgung. Sie verfolgt außerdem allgemeine Ziele wie mehr soziale Gerechtigkeit.
Im Großen wie im Kleinen existiert ein „Egoismus des Wir“ (Todorov), selbst bei einem vielfältigen und heterogen Wir. Das Ich-sagen und Nein-sagen wollen gelernt sein, Mündigkeit und Autonomie brauchen Räume und Rechte. Es ist normal, dass bei einer so außergewöhnlichen und neuartigen Krise wie einer Pandemie zunächst traditionelle Einheiten wie Familien und Nationalstaaten im Vordergrund stehen und unsolidarisch die Grenzen für Monate geschlossen worden, oft mit wenig Empathie und Hilfsbereitschaft anfangs zum Beispiel Italien gegenüber.
Es war sozusagen ein solidarisch-unsolidarisches Verhalten, was ein Licht auf die Stärken und Schwächen der Solidarität wirft, die auf Großgruppen ebenso bezogen ist wie sie aus spontaner Hilfsbereitschaft entstehen kann. Wir haben es heute in der Krise mit der großen verrechtlichten Solidarität des Sozialstaates (Rente, Sozialversicherung, Kurzarbeitergeld, Überbrückungshilfen u.a.) ebenso zu tun wie mit einem breiten und vielfältigen Spektrum spontaner und kreativer Solidarität Einzelner und kleiner Gruppen. Die Solidarität ist nicht starr und fix, sondern erfinderisch und beweglich wie sich gerade wieder 2020 und 2021 gezeigt hat: Es gab und gibt Hilfsportale im Netz und Menschenketten am Radio usw.. Etwas von dieser Kraft der Solidarität möchte man für die Zeit nach der Krise gerne bewahren.
Es existieren mithin verschiedene Formen und Ausprägungen der Solidarität. Ihre Hintergrundethik und politische Theorie sind unterschiedlich. „Einer trage des anderen Last“ ist zum Beispiel eine solche Ethik, die freilich ganz unterschiedliche praktische Konsequenzen haben kann.
Solidarität heißt weiterhin zum Beispiel in der Philosophie des französischen Solidarismus der Dritten Republik (1870-1940) eine gesellschaftliche Moral der ‚Versicherungsgesellschaft‘, der ’sozialen Demokratie und des ‚Vorsorgestaates‘ (Fiegle 2003). Demgegenüber sind Freiheit und Toleranz die philosophische Quintessenz des Liberalismus, der die größtmögliche Freiheit des Einzelnen anstrebt.
Als sozialer Liberalismus kümmert er sich auch um die Voraussetzungen dieser Freiheit, die im Zentrum der liberalen Moderne steht. Kann sie auch eine solidarische Moderne werden? Wie? In der Theorie ist die Inklusion (Parsons) beziehungsweise die Einbeziehung aller das große Versprechen der westlich-amerikanischen Moderne. Es ist ein anspruchsvolles Friedens- und Wohlfahrtsversprechen, das global ausstrahlt, aber kaum erfüllt wird. Die politisch schwierigen Probleme der Migration und Integration hängen damit zusammen.
Beide Ideenströmungen kennen historisch unterschiedliche Facetten und Überschneidungen, auf die wir hier nicht eingehen können. Der Grundkonflikt zwischen den Potentialen des Liberalismus einerseits und des Solidarismus andererseits bricht in ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Krisen aber immer wieder auf, und erst recht in einer Pandemie, die sich zuspitzt., wie wir es in der heftigen Diskussion über die Impfpflicht als Weg aus der Pandemie in die Freiheit gegenwärtig sehen. Solche Diskussionen, die selbst Familien und Freundschaften spalten, haben stets existentielle und politische Dimensionen, die miteinander verknüpft sind. Was spaltet mehr: die Impfpflicht oder die Impfgegner, die gegen die Corona-Diktatur mobil machen?
Welche Solidarität ist hier geboten, und welche ist falsch? Wer strikt nur libertär oder nur kommunitaristisch denkt, hat es einfach. Für eine liberale Position der verantworteten Freiheit (Zivilität) wird es schwieriger, sie muss eine Balance finden zwischen Freiheit und Solidarität sowie urteils- und handlungsfähig bleiben im Hinblick darauf, was die konkrete Lage erfordert, um aus Krisen herauszukommen.
Freiheit und Solidarität
Alles hängt davon ab, wie man Freiheit als zentralen Wert versteht. Die Autonomie spielte beim Lockdown tatsächlich überhaupt keine Rolle. Es war reines Regierungshandeln mit Verordnungen, Ausnahmesituation und Notrecht auf der einen Seite; auf bürgerschaftlicher Seite waren Einsicht, Vertrauen, Disziplin und Solidarität gefordert, wofür freilich moralische Ressourcen vorhanden sein müssen, an die die Politik appellieren kann.
Diesen Rückhalt kann eine Regierung durch zu viele Pannen und Versagen verlieren, weshalb die Demokratie systemrelevant bleiben muss. Staat und Regierungen sind Krisenmanager von Krisen geworden, die zur Moderne gehören. Vor diesem Hintergrund wird das Vertrauen zurecht als das wichtigste politische Kapital, das über die Zeit erarbeitet werden muss, aber schnell wieder verspielt werden kann, bezeichnet (so die Aussage von Angela Merkel nach 16 Jahren Regierungszeit bei der Verabschiedung am 2.Dezember 2021).
Isaiah Berlin (1969) unterscheidet in den Spuren von Benjamin Constants berühmtem Aufsatz über die Freiheit der Alten (Antike) und der Freiheit der Modernen (1819) zwischen positiver und negativer Freiheit. Für den Liberalismus postuliert der Ideenhistoriker Berlin eine Priorität der negativen Freiheit (Freiheit von). Wenn es tatsächlich vor allem um diese Freiheit geht, wird eine Vermittlung mit der gemeinschaftlichen gesellschaftlichen Solidarität (Durkheim, Parsons), die moralischen und sozialen Druck ausübt, schwierig, wenn nicht gar unmöglich.
Ab Rousseau und Kant wird Freiheit positiv gefasst (Freiheit zu), teils mit antiliberaler Stoßrichtung, teils aber auch Liberalismus-konform. Rousseaus freier Wille und Kants guter Wille lassen sich dann über den Rechtsbegriff bzw. die Legalität einer wohlgeordneten und demokratischen Freiheit vermitteln, verbunden mit dem Recht des Staates zu zwingen (Kant, Rechtsphilosophie).
So baut sich der Rechts- wie der Sozialstaat politisch auf. Dahinter steht der Leviathan von Hobbes (1651), der mit seiner irresistiblen Macht den Bürgerkrieg verhindert und im Verfassungsliberalismus von heute konstitutionalisiert ist: die Zähmung des Leviathan-Staates. Zu Recht wird deshalb der demokratische Rechtsstaat als wichtigste zivilisatorische Errungenschaft bezeichnet, der auch und gerade Ausnahmesituationen verrechtlichen kann.
Wird Freiheit als Autonomie verstanden und Solidarität als wechselseitige Anerkennung von Subjekten, die ihr Handeln an der Autonomie ausrichten, ist es nicht mehr weit zur Solidarität, wie sie Axel Honneth in den Spuren eines (kantianisierenden) Hegel als höchste Stufe der Anerkennung bezeichnet hat (Kampf um Anerkennung 1994). Hegel beschäftigt sich in seinen Jenaer Jahren in der Realphilosophie 1805/06 mit dem Kampf um Anerkennung.
Bei Kant (1724-1804) wiederum kommt Solidarität nicht vor. Der Begriff war damals nicht weit verbreitet. Im Wesentlichen findet er sich bei Autoren des sogenannten französischen Ultrakatholizismus (de Maistre, Ballanche, Châteaubriant). Wie überhaupt Solidarität nicht nur im französischen Republikanismus, sondern ebenso im katholischen Solidarismus bis heute als Wort häufig und als Konzept zentral ist. Bei den Liberalen hingegen spielt Solidarität bezeichnenderweise kaum eine Rolle.
Bedingt im politischen Raum
Tiefergehend kann man sagen, dass Kant die Pflicht in der Autonomie des Subjekts verankert, während die Solidaristen, einschließlich der nicht-marxistischen Sozialisten, die Pflicht aus dem Gemeinschaftsgefühl, dem Gemeinsinn und der daraus resultierenden Gemeinwohlorientierung ableiten. Der Einzelne hat hier eine Schuld gegenüber der Gemeinschaft.
In Verbindung mit der Schutzpflicht des Staates (Hobbes) ergibt sich dann zum Beispiel beim gegenwärtigen epidemiologischen Wissensstand eine Impfpflicht, die einem Impfzwang gleichkommt, wobei die Verhältnismässigkeit der eingesetzten Rechtsmittel in Betracht gezogen werden muss. Der Staat ist im Krisenfall die Solidargemeinschaft.
Ich würde allerdings die Solidarität insofern von der Anerkennung (Hegel, Honneth) unterscheiden, als ihr ein spontanes Gefühl des Mitleids und der Hilfsbereitschaft sowie moralisch-pragmatisch eine Ethik des Könnens zugrunde liegt, welche der Anerkennung fehlen. So können und sollen heute Städte sichere Häfen für Migranten sein, wenn Staaten versagen. Gleichwohl birgt Solidarität keine Garantien für Unerschöpflichkeit, nicht einmal für Beständigkeit. Sie ist politisch bedingt.
Der Solidarität ist nicht gedient, wenn man mit der großen moralischen Keule schwingt, statt die Probleme sachlich-differenziert zu diskutieren. Solidarität ist ein knappes Gut, das im politischen Raum zwischen Bürgern und Bürgerinnen entsteht, die sich verantwortlich verhalten und aus dieser Verantwortung heraus ein Gefühl gegenseitigen Verständnisses und Hilfsbereitschaft entwickeln. Sie ist notwendigerweise begrenzt und bedingt.
Die Rede von Unbedingtheit ist allenfalls politische Theologie, aber keine politische Theorie. So wie die Toleranz bleibt die Solidarität eine stets neu auszuhandelnde Größe und bewegt sich nicht selten im Spannungsfeld von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik.
Literatur:
Heinz Kleger, Die Zukunft welcher Solidarität, in: Gedankensplitter ll, 2021, S.252-285
Heinz Kleger/Thomas Mehlhausen, Unstrittig und doch umstritten – europäische Solidarität in der Eurokrise, in: Politische Vierteljahresschrift (PVS), 1/2013, S.50-74
Thomas Fiegle, Von der Solidarité zur Solidarität. Ein französisch-deutscher Begriffstransfer, Münster 2003
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