Umbruchkompetenz!?

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Eine kleine Nachlese zu 30 Jahren ‚Deutsche Einheit‘

Veränderung war einmal, vor nicht allzu langer Zeit, ein Zauberwort, das viel versprach – ein Hoffnungswort. Seit den 70er Jahren wird über den Fortschritt im großen Singular, welcher die Neuzeit definiert hat, reflektiert und intensiv diskutiert. Dieser geschichtsphilosophische Fortschrittsbegriff in einer Richtung nicht nur zum Neuen, sondern immer auch zum Besseren wird aufgrund seiner Nebenfolgen und der Grenzen des Wachstums zu einem grundlegenden Orientierungsproblem (Koselleck, Lübbe). Denn: Woran soll man sich künftig orientieren: an den jeweils neuesten Trends, an klassischen Traditionen oder am Common sense? An welchem Common sense? Mit den neuen sozialen Bewegungen der 80er Jahre wird die Fortschrittskritik fortschrittlich.

Die Modernisierung der Moderne ist seitdem permanent angesagt, so dass wir gar nicht mehr wissen, in welcher Moderne (der zweiten, der reflexiven, der Post- oder Spätmoderne) wir leben. Die Veränderungsgeschwindigkeit von allem und jedem hat objektiv wie subjektiv zugenommen, weil sich mehrere Mega-Prozesse überlagern (Liberalisierung, Globalisierung, Medialisierung, Digitalisierung). Seit den 80er Jahren gibt es nicht nur die „Überflüssigen“, sondern auch die „Abgehängten“. Die Sprache ist verräterisch, schon Peter Glotz sprach von einer neuen Klassenspaltung. Nicht zufällig ist der Imperativ der Anschlußfähigkeit und die Pädagogik der Umstellungsfähigkeit (Luhmann) allgegenwärtig. Die Agilität ist für die Besetzung von Zukunftsmärkten entscheidend. Nicht umsonst sind die Worte und Konzepte der funktionalen Systemtheorie in die Alltagssprache eingeflossen. Im Zuge dessen wird sogar die spontane Kreativität zu einem Muss und die Resilienz zu einem Modewort, was bezeichnend ist.

Auch der Begriff ‚Transformation‘ hatte schon einmal schärfere gesellschaftliche und politische Konturen, sei es in Richtung einer neuen Gesellschaftsordnung namens Sozialismus, sei es – gerade umgekehrt – bei der Abwicklung des Sozialismus als System. Die Erfahrungen und Erwartungshorizonte der beiden emblematischen 1968 in West und Ost (Prag) unterscheiden sich grundsätzlich mit Folgen bis heute. Seitdem ist einiges durcheinandergekommen, ohne dass es sich wieder einfach sortieren ließe. Wahrnehmungs- und Interpretationsschemata sind oft Phänomene einer bestimmten Generationserfahrung an einem bestimmten Ort, was dazu führt, dass Erfahrungen unangemessen auf andere gesellschaftliche Entwicklungen projiziert werden.

Heute gibt es zweierlei Transformationsforschung: die der 90er Jahre und die neue hoffnungsvolle hin zu einer sozialökologischen Wende. Ein schwieriger Strukturwandel folgt auf den anderen, etwa in der Braunkohleregion Lausitz. Die Denkfabrik ‚PtX Lab Lausitz‘ wird zum Beispiel gerade internationaler Anlaufpunkt und ein Kompetenzzentrum für grünen Wasserstoff: vom Labor auf den Markt, wobei schnelle Umsetzungsfähigkeit gefragt ist. Bis 2024 stehen dafür 180 Millionen Euro aus dem Strukturstärkungsgesetz zur Verfügung. Geld, Ideen und Know-how für eine neue Wissenschafts- und Energieregion sind vorhanden, sie müssen nun von Sachsen und Brandenburg aus gut koordiniert und von realistischen Erwartungsanalysen begleitet werden. Die Politik darf nicht zuviel versprechen.

Halt geben, wollen und müssen nun auch die Grünen, die weder links noch rechts, sondern vorne sein wollen. Klimaneutralität heißt ihr politisches Generationenziel und „Halt durch Veränderung“ ihr neues regierungsambitioniertes Programm. Halt und Haltung gehören zur Umbruchkompetenz, sie widerstehen Verantwortungslosigkeit und einer Flexibilität bis hin zur Charakterlosigkeit. In der liberalen Moderne, wo die Freiheit des Individuums zum Zuge kommt, wird es allerdings schwierig, eine Balance zu halten (Haltung!) zwischen Offenheit und Tugend. Aber was gibt Halt? Und ist Halt eine Tugend? Vertrautheit, Geborgenheit und Heimat sind mehr als Tugenden. Vertrauen bildet sich zudem nur über gemeinsam geteilte Erfahrungen, es kann weder verordnet noch eingeklagt werden. Und nicht jede Haltung ist eine vernünftige Tugend, Haltung tendiert zu Borniertheit.

Wir aber fordern heute Empathie, Offenheit und Flexibilität; Lernfähigkeit ist das Mindeste, wozu jeder fähig sein sollte, weshalb Weiterbildung ein sozialpolitisches Schlüsselthema ist. Die wissenschaftlich-technologische Zivilisation ist für uns zu einer Black Box geworden, was nicht zufällig zur Inflationierung des Vertrauensbegriffs geführt hat (als Reduktion von Komplexität), während die natürlichen Lebensgrundlagen durch uns bedroht sind, freilich nicht durch alle Akteure gleichermaßen. Die linke soziale Kritik ist auch auf ökologischem und gesundheitspolitischem Gebiet nicht obsolet.

Demokratische Toleranz wird bei allen Differenzen deshalb so grundlegend, weil sie trotz Haltung und Positionsbezug offenbleibt für die richtige Richtung, ja diese erst ermöglicht. Das macht den Bürgerglauben der Demokratie aus, in dem sich Toleranz und Entschiedenheit nicht ausschließen. Politikwenden kennen wir inzwischen schon einige: darunter mehr proklamierte und vor jeder Wahl wiederholte Wenden und solche, die meist nicht prognostiziert sind und mit historischer Wucht daherkommen – Revolutionen eben.

Die mittelosteuropäischen Revolutionen waren solche Umbrüche von und für viele Menschen, die eine deutliche Zäsur zwischen Vergangenheit und Zukunft bedeuteten, während die jüngere bundesrepublikanische Geschichte, obwohl voller Proteste (oder gerade deswegen) von erstaunlicher Kontinuität war im Zeichen von sozialer Marktwirtschaft, Wohlstand und stabilen Institutionen.1989 stand vor allem im Zeichen von demokratischer Legitimität sowie Freiheit und Wahrheit im rigorosen Sinne. Viele, wie auch immer Beteiligte von damals haben das nicht vergessen und messen mit diesen Maßstäben die gegenwärtige Situation, was zu weiteren Dissonanzen in Deutschland und Europa führt.

30 Jahre nach 1989 haben die Worte Transformation und Wandel ihren evolutionär-revolutionären Reiz verloren, selbst der positive Begriff der Reform. Überraschender, manchmal beschleunigter Wandel (freilich in unterschiedlichen Zeitmaßen) gibt es überall in Natur und Gesellschaft. Bergmassive wandeln sich ebenso sichtbar wie Arbeitsformen und Studiengänge. Wandel und Veränderung sind Konstanten geworden, und die intelligenten Konservativen mit ihrer Parole “ Rettet die Bestände!“ die Progressiven.

Doch auch diese Intervention kommt meist nachträglich, weshalb der moderne Konservativismus in einer Grundlagenkrise steckt. Vorherrschend ist in der Moderne vielmehr die flexible Anpassungsfähigkeit an das, was vermeintlich ohnehin kommt (die Bologna-Reform beispielsweise, die Globalisierung, die Digitalisierung usw.). Traditionsverlust und Kontingenzsteigerung gehören zu ihren generellen Merkmalen. Der moderne flexible Mensch ist per se umbruchkompetent, mit Veränderungen verbindet er Perspektiven und Chancen. Auf der einen Seite kann man sagen, er sei dadurch ein Orientierungswaise geworden, auf der anderen Seite ist seine selbstbestimmte Urteilskraft mehr denn je herausgefordert, worin ein tieferer Bezug zur Demokratisierung liegt, die notwendig, riskant und utopisch zugleich ist.

Bekommt also der Vorsokratiker Heraklit, der nach einem Verständnis der Natur suchte, recht: „Nichts ist beständiger als der Wandel“, und „Man steigt nicht zweimal in denselben Fluss“. Der zweite Satz ist schon weniger überzeugend, während Wandel genauso wie Transformation inzwischen zu hohl klingenden Worten geworden sind. Denn so gut wie alles ist ständig im Fluss, es gibt eher zuviel als zuwenig Wandel. Die hauptsächliche Herausforderung für viele und damit auch für die demokratische Politik bleibt der Konnex von Sicherheit (in ihren verschiedenen Dimensionen) und Wandel, der Lebensperspektiven eröffnet. Das einzelne Individuuum benötigt für seine Entwicklung eine Kombination von Sicherheit und Anregungen und nicht bis zum Zerreissen gespannte Zusammenhänge der Solidarität. Die Legitimität des modernen Staates, der hier in die Bresche springt, zehrt von seinen Sicherheits- und Wohlfahrtsversprechen für alle, was insbesondere für die Schwachen und weniger Schnellen von großer Bedeutung ist. Diese Leistung ist ebensowenig selbstverständlich wie der gesellschaftliche Zusammenhalt.

Elon Musk ist schneller (und mutiger) als die Brandenburger Politik und ihre Behörden, die Tesla Gigafactory in Grünheide soll noch schneller gebaut werden als in Schanghai, was auch zeigt, wie sehr wir die technologische Konkurrenz zwischen China, das die absolute Armut für besiegt erklärt, und den USA um die Spitze des weltweiten Fortschritts bereits internalisiert haben. Deshalb wollen überall auch die Konservativen an der Spitze dieses Fortschritts marschieren, weil sie so nicht nur den technischen Fortschritt diktieren, sondern auch die normativen Fortschritte insgesamt nötigen können.

Womit hängt der Eindruck des schnellen und permanenten Wandels heute zusammen (manche sagen ‚rasanter Stillstand‘ dazu)? Mit der Vielzahl der Ereignisse, in die wiederum ständig überraschende Ereignisse von außen intervenieren, so dass zwischen passivem Erleben und intentionalem Handeln eine bisweilen resignierende Kluft entsteht. Der politische Streit dreht sich dann vor allem um die Zurechenbarkeit von oft nicht-intendierten Folgen des Handelns. Dazu kommt die Informationsflut durch die allgegenwärtige Mediengesellschaft, die Medienereignisse (!), die uns überwältigen und Bewusstsein enteignen. Sie bilden inzwischen eine eigene Realitätsebene des Fürwahrhaltens, über die oft mehr diskutiert wird als über die realen Probleme. Up-to-date ist, wer sie kennt.

Insofern dürfte es sich lohnen, noch einmal über die Transformationserfahrungen der Ostdeutschen nachzudenken und ihre Erfahrungsgeschichten auszutauschen. Dabei hat jeder das Recht, seine eigene Geschichte zu erzählen. Dem sollte auch der Tag der deutschen Einheit am 3. Oktober 2020 dienen, aus dem – coronabedingt – eine vierwöchige Einheitsexpo wurde mit einem Stadtspaziergang durch Potsdam, das durch zahlreiche Konflikte hindurch zu einer Ost-West-Bürgerstadt geworden ist. Das Motto war: „Deutschland ist eines: vieles“. Die Pavillons der 16 Bundesländer markierten den Weg, und die 5 Verfassungsorgane waren präsent. Gerne hätten wir mehr diskutiert und zu Gedanken provoziert. Immerhin hat die Stadt Potsdam ein digitales Fenster der Zivilgesellschaft organisiert, welches so auf das vielfältige Handlungskonzept ‚Tolerantes Brandenburg‘, das neue Potsdamer Toleranzedikt und das Bündnis ‚Städte sichere Häfen‘ aufmerksam machen konnte.

Der Abschlussbericht der Kommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“
(224 Seiten, mit Studien im ausführlichen Anhang), die 22 Mitglieder unter dem Vorsitz des ehemaligen Ministerpräsidenten Platzeck zählte, liegt seit Dezember 2020 vor. Auf dem Titelbild prangt das Einheitsherz im Stadtkanal von Potsdam, das für Spott gesorgt hatte. 1990 war noch die euphorische Vorstellung weit verbreitet, es werde mit der „Vollendung“ der Einheit in Deutschland und Europa (quasi als Nationalstaatsersatz) schnell weitergehen. Verfassungsmäßiges Ziel waren “ gleichwertige Lebensverhältnisse“ zwischen Ost und West. 
Ein dynamischer Veränderungsprozess über drei Jahrzehnte, der nach zunächst sehr hoher Arbeitslosigkeit und dem Scheitern ambitionierter Großprojekte in den 90er Jahren schließlich in allen neuen Bundesländern auch viele Erfolge zeitigte, führte gleichwohl nicht
zur Zielvollendung.

Liegt hier der Grund für die deutlich höheren Unzufriedenheitswerte der Ostdeutschen? Ein weiterbestehendes Gefälle im Lebensstandard mag manche von ihnen ebenso nerven wie die fortbestehende, allgegenwärtige westdeutsche Dominanz bei Funktions-Eliten und gesellschaftlichen Schlüsselpositionen. Als erstaunliches (kollektives) psychologisches Phänomen kommt hinzu, dass offenbar viele Ostdeutsche ihre Biographien und Lebensleistungen im vereinten Deutschland als abgewertet und geringgeschätzt sehen. Im Ergebnis betrachten sie sich selber laut Umfragen als „Bürger/innen zweiter Klasse“.

Andere Ostdeutsche halten dies für übertrieben und verengt. Sie bejahen den bundesdeutschen Föderalismus und kanalisieren Unzufriedenheit in eigene politische Aktivität. Tatsächlich haben die neuen Bundesländer die politische Landschaft der Republik bereichert. Sie haben selbst erarbeitete Verfassungen, eigene Verfassungsgerichte und besondere Regierungskoalitionen hervorgebracht. Hier wirken Akteure mit, die nicht nur Umbruchkompetenz, sondern auch spezifischen Erfahrungsreichtum aus zwei gesellschaftlichen Systemen für sich reklamieren. Es besteht kein Zweifel: Ein Teil von ihnen ist – infolge verinnerlichter SED-Staats-Erfahrungen – für demokratiegefährdende und antiliberale Trends stärker sensibilisiert als der Rest des Landes.

All dies sind Errungenschaften, Potentiale und Sensibilisierungen, die dem ‚wunderbaren Osten!?‘ Prägung geben – und wohl noch viel mehr geben könnten. Zur Ost-Realität gehören aber auch zahlenmäßig schwach aufgestellte und gesellschaftlich wenig verankerte Parteien, schwach ausgeprägte zivilgesellschaftliche Strukturen sowie überdurchschnittliche Affinitäten zu Ausländerfeindlichkeit, Rechtspopulismus und Rechtsextremismus. Nirgends trat dies stärker hervor als während der sogenannten ‚Flüchtlingskrise‘ ab 2015. Die inzwischen dezidiert auf ‚Überfremdungsängste‘ setzende „Alternative für Deutschland“ nutzte das Vakuum radikal aus und stieg zur stärksten Oppositionspartei in allen ostdeutschen Landesparlamenten auf. Dieser Aufstieg birgt Konfliktpotential auch für die bundespolitische Ebene, siehe jüngst die Regierungskrise in Thüringen 2020, während zahlreiche andere Probleme und strukturelle Disparitäten (Land–Stadt, arme Kommunen, Überalterung, Abwanderung) überall und in ganz Deutschland zu finden sind. 

Es ist die Summe dieser Probleme – einschließlich der wachsenden Entfremdung vom 
aktiven Politikbetrieb der Parteien -, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht nur zwischen Ost und West, sondern in der Berliner Republik insgesamt gefährden und am Ende nachhaltig schädigen können. Die Platzeck- Kommission blickt nach vorn und will vor allem die Transformationserfahrungen der Ostdeutschen besser nutzen. Dafür empfiehlt sie ein Zukunftszentrum, um Kompetenzen diesbezüglich zu bündeln, Lebensleistungen zu würdigen, vermehrt Bürgerdialoge zu führen und Zusammenhalt zu organisieren, was eigentlich eine sinnvolle inter- und transdisziplinäre Querschnittsaufgabe an mehreren Orten zwischen Ost und West, die miteinander kooperieren, sein sollte.

Die staatliche Einheit war ein Erfolg – die Kommission spricht vom „Glück der Einheit“ -, aber nicht nur eine Erfolgsgeschichte (Woidke). Das wäre tatsächlich aufzuarbeiten auch im Blick auf gegenwärtige Kommunikations- und Politikdefizite und im kritischen Rückblick auf zu schnellen fremdbestimmten Wandel, der an Grenzen des Zumutbaren stößt. Die frühzeitige Einbeziehung der Menschen in Veränderungsprozesse erfordert gleichermaßen ein Wachstum der Zivilgesellschaft und eine neue Sensibilisierung für die Demokratie. Die diskursive Vernunft braucht Zeit, unter Druck funktioniert sie nicht. Die Kriterien der Zumutbarkeit müssen im Rahmen einer rechtsstaatlichen Demokratie geregelt sein, sie werden in der Anwendung freilich umstritten bleiben, was zu den neuen Fortschrittskonflikten um Akw’s, Endlager, Ende Gelände, Windräder, Naturschutz und Fridays for Future führt. Die Technologiefolgenabschätzung wird sie nicht gänzlich auffangen können.

Die Debatte über die sogenannte innere Einheit ist auf eine neue Grundlage zu stellen, die gleichzeitig die Demokratie mit neuen Formen der Bürgerbeteiligung, darunter auch Kinder- und Jugendbeteiligung, stärkt. Neben der Betonung des bürgerschaftlichen Engagements muss dies allerdings ein erstes Anliegen auch von Parteien und Verwaltungen werden, damit wirklich demokratische Beteiligungseffekte entstehen, die mehr als nur Informationsveranstaltungen und Konsultationen sind. Ansonsten bleibt es bei der gut gemeinten Rede von „unserer Demokratie“, die riskant ist, denn erfahrene Demokratie ist mehr als eine Vertrauensfrage in Eliten, was zu vertrauensselig ist, wenn es um Wandel mit Konsequenzen geht. Die Innovationsexperten von heute sind der diskursiven Vernunft stets um zwei Schritte voraus, es gilt das alte Vorurteil für das Neue. Innovativer heißt aber nicht nur unternehmerischer.

Auch attraktive Lern- und Erinnerungsorte der Demokratie sind nötig sowohl für die schulische wie die außerschulische politische Bildung, die Eindruck hinterlässt und haften bleibt. Ein zentraler Erinnerungsort für die demokratische Revolution 1989 ist vom Bundespräsidenten vorgeschlagen worden, er wäre mit der Frankfurter Paulskirche 1848/49 als Lernort der Demokratie zu verbinden. So könnte man einen lehrreichen Bogen der Verfassungsgeschichte schlagen, der heute auch auf die europäische Ebene Bezug nehmen kann (Grundrechtecharta). Die geistige Orientierung fehlt nicht, sie macht vielmehr den tagespolitischen Streit nicht nur aushaltbar, sondern nötig. Demokratie muss zugleich sichtbarer, erfahrbarer und begreifbarer werden, was ein Prozess ist, der aktive Demokratiepolitik einschließt.

Solche Zusammenhänge anschaulich herzustellen und zu verstehen, ist in unserer schnellen oberflächlichen Zeit besonders wichtig, denn nichts wächst bei diesem Tempo automatisch nach. Die Kommission hält zurecht auch eine breite Debatte nationaler Symbole für erforderlich. Hier darf kein Vakuum entstehen, das neurechte Kräfte nutzen können. Der Coup am Reichstag mit Fahnen einer falschen Vergangenheit eine Woche vor den Einheitsfeierlichkeiten sollte dafür die Augen geöffnet haben. Die Bilder gingen um die Welt. Es war ein Schock ebenso wie der Sturm auf das Kapitol am 6. Januar. Selektive Wahrnehmung und große Naivität darf man sich diesbezüglich nicht leisten. Die liberalen Demokratien sind heute von innen gefährdet, was alle zivilen Kräfte fordert. Dies gilt es zu begreifen: Es gibt bessere Gründe für einen geteilten demokratischen Patriotismus als einseitig nationalistische.

März 2021