Überlebenskämpfe

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Letztes Jahr wurde bereits weitherum und deutlich vernehmbar die Befürchtung geäußert, dass der große Kachowka-Staudamm am Dnipro gesprengt werden könnte, um den Ukrainern die Zurückeroberung von Cherson zu erschweren. 

Das südukrainische Cherson war als erste Stadt von den Russen besetzt worden. Auch die nicht-erfolgte, international stets geforderte Demilitarisierung um das AKW Saporischschja, des größten in Europa, blieb als in Kauf genommener Super-Gau bestehen (Kühlwasserproblem, Verminung, Beschuss, Terrorakt). Das war und ist alles andere als bloßer Alarmismus. 

Mit der Flutkatastrophe hat sich die reale Gefahr noch vergrößert, weshalb man sich auf alle möglichen Szenarien mit Übungen der ABC- Abwehr, die Journalisten einschließt, vorbereitet. Die (Umwelt-) Katastrophe indes, der ‚Ökozid‘, ist eingetroffen. Das befreite Cherson wird überflutet und gleichzeitig wird es während der Rettungsmaßnahmen beschossen. Der furchtbare Zerstörungskrieg geht in neuen Dimensionen weiter. „Wir müssen uns darauf einstellen, dass der Krieg noch sehr lange dauern wird “ (Scholz, 2. Juli).

Putin ist noch nicht am Ende trotz der Meuterei von Prigoschins Truppe, die in 30 Ländern aktiv ist. Prigoschins Rebellion richtete sich gegen die militärischen Versager: den Verteidigungsminister Schoigu, ein Nichtmilitär, der mit dem völlig verkalkulierten Angriffskrieg auf das größte Land Europas zum Marschall geworden war, und den Generalstabschef Gerassimow (siehe auch: Edward Luttwak, in: NZZ, 1.7. , S.16). Die heutigen „Helden Russlands“, die schlimmer und erfolgreicher sind als alle Fremdenlegionäre zusammen, bestehen in einem internationalen Unternehmen mit Sitz in Sankt Petersburg. 

Putin selber hatte das „Frankenstein-Monster“ Prigoschin herangezogen (Rüesch, NZZ, 1.7.). Allein in Moskau verfügte er über keine Machtbasis, während Putin selber, militärisch inkompetent, ein schlechter Stratege, gewiefter Taktiker und alter Bürokrat geblieben ist.

Erfolgreich waren die Wagner-Söldner nicht nur im ehedem französischen Kongo, in Syrien und Libyen, sondern auch in Mali, siehe dazu die Dokumentation von Bettina Rühl im Deutschlandfunk: „Eure Demokratie wollen wir nicht“. Es gibt heute bei knapp 200 Nationen sage und schreibe schätzungsweise noch gut 30 liberale Demokratien, Tendenz abnehmend.

„Die Schwächung des Putin-Regimes bedeutet keineswegs, dass es vor dem Fall steht“, so die These von Andreas Rüesch (NZZ, 1.7.). Die Drahtzieher der Entmachtung müssten aus dem Regime selbst kommen. Der gewiefte Diktator hat jedoch alle wichtigen Schlüsselpositionen mit seinen Leuten, auf deren Loyalität er zählen kann und die er oft aus Sankt Petersburger Zeiten noch kennt, besetzt. 

Er hat bewusst auch keinen ‚Kronprinzen‘ aufgebaut, wie es die ‚dynastische Diktatur‘ in Nordkorea oder die ‚Parteidiktatur‘ in China tun müssen. Putin benötigt das Image der ‚Unersetzlichkeit‘, was er durch die Garantie von Stabilität im riesigen Land aufrechterhalten muss, die wiederum schnell Risse mit ungeahnten Konsequenzen bekommen kann.

Über bewaffnete Einheiten verfügt zudem nicht nur die Armee, sondern ebenso die Nationalgarde, der Inlandgeheimdienst und die präsidiale Leibgarde (siehe NZZ, a.a.O.) : “ Zur archaischen Moskauer Herrschaftspraxis gehört, ständige Rivalitäten zwischen diesen Teilen des Sicherheitsapparates zu schüren, damit sich deren Exponenten nicht verbünden“ (Rüesch).

Es gibt also keinen „eleganten institutionellen Weg“ der Machtablösung im Putinismus. Jede Diktatur muss deshalb gesondert analysiert werden genauso wie jede Demokratie, die nicht frei von Macht und Machiavellismus ist.

Ebenso wird am Boden der infanteristische Kampf am langen Frontabschnitt in den annektierten Gebieten täglich härter und verlustreicher. Im kompletten Osten des Landes ist außerdem immer noch und immer wieder Luftalarm. Die Russen bekommen Nachschub an iranischen Drohnen, und die Drohnenangriffe hören nicht auf. Geht ihnen bald die Munition aus?

Buchstäblich um jeden Quadratmeter wird um ukrainisches Land gekämpft, auch immer noch um Bachmut, man glaubt es kaum. Einzelne zerstörte Dörfer erobert die ukrainische Armee zurück, sie kann somit Nadelstiche setzen. Zum Beispiel wird ein Brückenkopf am Dnipro errichtet.

Für den Durchbruch einer Großoffensive in Richtung Krim fehlt indessen die Lufthoheit, dazu kommen die russischen Kampfhelikopter, die ‚Alligatoren‘, die man mit Infanteriewaffen nicht frühzeitig genug erreichen kann. Die russische Armee hatte Zeit, starke mit Beton und Stahl verstärkte Verteidigungsanlagen, oft Mehrfach-Zickzack- Gräben, wie aus der Luft ersichtlich, mit Minenfeldern und Panzersperren aufzubauen. Sie sind nur schwer zu überwinden.

Starke ukrainische Panzerverbände sind noch nicht in Sicht, obwohl „brennende Leoparden“ für die russische Propaganda bereits eine große Rolle spielen. Infanteristen statt Minenräumpanzer robben derweil durch die ausgelegten Minenfelder. Die furchtbaren Verletzungen junger Männer werden täglich häufiger. Minenpläne (auch für die Zukunft der Minenräumung) sind sicherlich keine erstellt worden. 

Die dringend benötigten Kampfjets (F16) sollen nun geliefert werden, die Ausbildung von Piloten, die mindestens 5 Monate dauert, ist im Gange. Diese rote Linie, wozu die Polen schon 2022 gedrängt haben, ist am Gipfel in Hiroshima vom 19. bis 21. Mai von den Amerikanern aufgegeben worden. 

Die letzte rote Linie hat Präsident Biden offenbar am 30. Juni mit der Bewilligung von ballistischen Raketen, die 300 Kilometer Reichweite haben und damit die ganze Krim und russisches Kernland (Rostow, Woronesch) erreichen können, überschritten. Obwohl die Ukraine von Anfang an hartnäckig auf dieser Forderung bestanden hat, bremsten die Amerikaner immer wieder mit Bedacht, um den Krieg einhegen zu können. Wie wird Russland darauf reagieren? Mit einer neuen Eskalationsstufe, mit der von Anfang an gedroht worden ist?

Putin ist nicht allein, und vor allem: er ist es nicht allein. Von den militanten Dauergästen des Staatsfernsehens einmal abgesehen, beginnt der Krieg gegen den Westen im Kopf mit Vorstellungen von der “ Zivilisation der Zivilisationen“ und“ großen Ideen für große Nationen“, die überdreht sind (siehe auch Dugin, Blog 2.Mai). 

So empfiehlt der bekannte Politikwissenschaftler und Politikberater Karaganow, jetzt mit der nuklearen Eskalation zu beginnen, die viele Stufen kennt (Juni 2023). Er habe die amerikanische Nuklearstrategie studiert, sie „würde für Posen nicht Boston opfern“. Europa sei kein Modell mehr für Russland, das vielmehr Zentrum eines neuen Eurasiens werden müsse.

Er ist ein Mann Putins, um den Westen, besonders Europa und dabei insbesondere Deutschland, das man politisch spalten will, einzuschüchtern. Posen liegt nahe bei Berlin. Die Polen wissen das. Ein polnischer Freund nannte Karaganow, den mächtigen Akademiker, von denen es in Russland viele gibt, deshalb treffend einen „glatzköpfigen Lawrow“. 

Den Ukrainern hilft im Moment nur , dass sie weiter rüsten und schneller vom Westen gerüstet werden. Sie brauchen jetzt vor allem Waffen, Munition und Luftüberlegenheit. Die Taktik kennen sie selbst.

Bildnachweis: IMAGO / UPI Photo