Von überfordertem Staat ist häufig die Rede, von überforderter Gesellschaft selten. Und die Politik ist ohnehin das ständig umkämpfte Feld und unreine Terrain, deren vielfältige Akteure inzwischen die wüstesten Beschimpfungen gewohnt sind. Hier treffen die guten und schlechten Auseinandersetzungsformen aufeinander, hier müssen sich die Demokraten bewähren, was mehr als eine Wissenschaft für sich ist.
Der Soziologe Armin Nassehi spricht von einem „Unbehagen“, welches die Überforderung der Gesellschaft mit sich selbst meint (München 2021). Mit Gesellschaft ist hier die moderne funktional differenzierte Gesellschaft gemeint, welche Niklas Luhmann ein Leben lang zu seinem Theorieprogramm erhoben hat (siehe nur: Systemtheorie der Gesellschaft, Berlin, 2017). Sie ist zum einen enorm leistungs- und modernisierungsstark und führt zum anderen im Umgang mit den großen Krisen zu Enttäuschungen: Fast alles scheint möglich, fast nichts kann ich verändern!
An Aktivismus fehlt es nicht, „warum aber streben die Handelnden, obwohl die Mittel dazu vorhanden wären, nicht nach dem summum bonum, das alle besserstellen und Lösungen wahrscheinlicher machen würde?“ (S.19). Darüber will Nahessi seine kritischen Studenten aufklären, welche die Geduld verlieren.
Grundlegend für die Systemtheorie ist die Unterscheidung von drei Sinndimensionen, in denen wir die Welt sehen und verarbeiten:
– Sozialdimension
– Sachdimension
– Zeitdimension.
Die Unterscheidung zwischen Sozial- und Sachdimension führt Nassehi zur folgenreichen These, dass die Sozialdimension zu einer Art „Überzeugtsein des Gemeinsamen führt, während die Sachdimension eine Gleichzeitigkeit von Unterschiedlichem erzeugt“ (S. 95). Das heisst auch: die Gesellschaft ist semantisch erreichbar als Großgruppe (mittels nationaler Kraftanstrengung in der Krise); unerreichbar ist sie allerdings in der Sachdimension, “ in ihrem fast verborgenen Eigensinn“. Dabei geht es auch um die Unterscheidung von gesellschaftlicher Struktur und semantischer Verarbeitung.
Nahessi spricht kritisch von den Soziodizeen des Gemeinsamen (Zusammenhalt, Solidarität) in Analogie zum klassischen Theodizeeproblem aus der Geistesgeschichte. In Bezug auf Pandemie und Klimawandel will er indes deutlich machen, dass die Gesellschaft selbst die Quelle des Problems ist und weniger das Ungenügen an Zusammenhalt und Solidarität, welches durch Politik zu kompensieren wäre. Führt das zur „Apologetik der Raute“ (FAZ, 15.10.21) oder zu einer politischen Theorie des Wohlfahrtsstaates (Luhmann 1981) als einer neoliberalen Abwehr überzogener Ansprüche an die Politik?
Tatsächlich geht es um kleine Lösungen oder darum, auf Evolution zu setzen und weniger auf die ‚große Transformation‘ in Worten mit ihrer Wunschliste, gegen die nichts zu sagen ist. Wie setzt sich diese soziologische Abklärung von Aufklärungsillusionen (auch des Wissens und der Bildung), die keine Gegenaufklärung ist, mit der Normalität als Bestie auseinander (siehe den Blog vom 16. August 2022)?
Normalität in der Krise? ist eine Fragestellung, die möglicherweise über den (historisch-sozialwissenschaftlichen) krisenanalytischen Ansatz, wie wir es immer wieder versucht haben (Blogs vom 28.3.,13.5.,16.8.), hinausführt. Bei der Pandemie und dem Krisenwandel wäre es gut, wenn es ’nur‘ eine Krise wäre (Bruno Latour). Und der Krieg fällt ohnehin aus diesem Raster heraus.
Soziodizeen werden entwickelt, um den Anforderungen des ‚modernen Subjekts‘ entgehen zu können, das autonom sein muss und dennoch widersprüchlichen gesellschaftlichen Erwartungen zu genügen hat. Das reicht indessen nicht aus, um die sachlichen Anforderungen der Gesellschaft vermitteln und die Funktionen koordinieren zu können. Das liegt an der Gleichzeitigkeit des Unterschiedlichen in der Sachdimension. Der Eigensinn der Gesellschaft unterscheidet sich vom Eigensinn von Lebensformen“, so die These von Nahessi (S.131).
Ausführlicher: „Die größte Quelle des Unbehagens in einer modernen Gesellschaft ist die Spannung zwischen ihrer in der Sachdimension begründeten funktionalen Differenzierung und dem Erfordernis, am Lebensverlauf orientierte, kontinuitätsstiftende Institutionen herzustellen“(S.174).
Kann Organisation den Himmel wieder auf die gesellschaftliche Erde zurückholen? Die Systemtheorie gilt vielen als die Gesellschaftstheorie der Organisationsgesellschaft. Obwohl Luhmann sein bestes bahnbrechendes Buch zu diesem Thema geschrieben hat: ‚Funktionen und Folgen formaler Organisation‘ 1964, geht Gesellschaft auch bei ihm nicht in Organisation auf. Das wäre ein Missverständnis. Vielmehr werden folgende Ebenen folgenreich unterschieden:
– Gesellschaft,
– Funktionssysteme,
– Soziale Systeme,
– Organisation,
– Interaktion.
Die moderne Gesellschaft ist ohne Organisationsbildung nicht denkbar, sie ist geradezu die Voraussetzung jeder Handlungsmächtigkeit geworden. Im Unterschied zu modernen Funktionssystemen wie Recht, Wirtschaft, Wissenschaft, Politik usw. mit ihren binären Codes, die fast grenzenlos viel ermöglichen, können sich Organisationen selbst konditionieren, indem sie sich eine „entscheidbare Welt“ schaffen.
Sie etablieren Verfahren und formale Strukturen und erleben an sich selbst, dass sie nicht auf alles, was sie organisieren, einen direkten Zugriff haben (S.223). Wenn Gesellschaft verändert werden soll, so müssen zumeist Organisationen und ihre Entscheidungsroutinen verändert werden, zum Beispiel Parteien für die Politik.
Überall wird deshalb von lernenden Organisationen gesprochen, niemand kommt daran vorbei. Auch der vermeintliche Organisations- und Verwaltungsweltmeister Deutschland nicht. Wäre es dann nicht wünschenswert, dass die Gesellschaft eine Organisation ist? Das würde die Perfektionierung der Menschen als Mitglieder voraussetzen. Die Mitgliedschaftsrolle ist aber nicht die einzige Rolle, die Personen haben.
Es ist zweifellos das Bestreben von autoritären Regimen, Gesellschaften so zu führen wie Organisationen. Das Durchregieren zur Bewältigung von Krisen ist allerdings eine gefährliche politische Utopie, die mehr Probleme schafft als sie löst. Nicht nur die Covid-Krise hat dies weltweit wieder gezeigt.
Demgegenüber setzt Nahessi auf die Annahme, dass die liberale Moderne Ergebnisoffenheit voraussetze, ja geradezu erzwinge. Wenn die Gesellschaft als Einheit nicht existiert, muss man den grundlegenden Funktionssystemen erlauben, in inkrementellen Prozessen des Trial and Error zu experimentieren, statt mit überzogenen Erwartungen die Gesamtgesellschaft wie die Freiheit der Einzelnen zu drangsalieren. Zu den typisch modernen Optionssteigerungen wie zur Technologieoffenheit und kreativen Modernisierungsprozessen würde man so nicht kommen.
Das „trade-tested betterment“ (der liberalen Ökonomin Mc Closkey, 238ff), an das der Systemtheoretiker überraschend anschliesst, um die normativen Errungenschaften der liberalen Moderne zu retten, kennen wir seit langem auch als offene Gesellschaft mit den kleinen Lösungen des kritischen Rationalismus (Popper). Sie haben nicht einmal die Sozialdemokratie befriedigt. Wie steht es aber mit der paradox anmutenden These von der „erzwungenen Ergebnisoffenheit“?
Der abschließende resümierende Satz lautet: der Krisenmodus ist nicht unbedingt geeignet, Krisen besser meistern zu können (S.339). Die Covid-Krise hat gezeigt, dass man politisch nicht durchregieren kann im Sinne von „Organisation“. Die Gesellschaft hat sich vielmehr als unregierbar herausgestellt. Die Problembeschreibung ist schwierig.
Die moderne funktional differenzierte Gesellschaft ist keine im Ganzen politische Veranstaltung. Nach dem 9. März 2020 konnte man sich aber auf die Nationalstaaten, wo immer man gerade war, die Familien, eine (gerade für Soziologen) überraschende gesellschaftliche Solidarität aus Einsicht und Disziplin sowie die vielen Einzelnen verlassen. Das ist politisch relevant.
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