Über Klugheit, Moral und Recht

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In der Ukraine und im Nahen Osten scheint nach den barbarischen Angriffen der russischen Armee und der Hamas der Frieden in weite Ferne gerückt. Nur seine Form und Durchführung bleibt klar: um die Wahrheit zu finden, muss man diskutieren und sich verständigen, oft heftig und schwer erträglich; politisch gesprochen: Verhandlungen und Kompromisse sind nötig. Daran führt in einer nicht-idealen Welt früher oder später kein Weg vorbei, um des Friedens und der Freiheit willen. 

Bis es dahin kommt, sind große Hürden der Ignoranz und historischen Verblendung, die ebenso falsch wie gefährlich sind, zu überwinden. Das ist der schwierigere Teil, an dem Menschen immer wieder scheitern, letztlich an sich selber und ihrem „eigenen Sumpf “ an Vor-Urteilen, den sie nicht austrocknen können. 

Wenn wir auch auf der Ebene der großen Strukturen und Entwicklungen direkt nicht viel ausrichten können und uns ohnmächtig (ohne Macht) fühlen, so können wir hierbei doch bei uns selber beginnen – wenigstens im Versuch, mit Aufklärung zu beginnen. Dies wird umso schwieriger, je erbitterter, ja fanatisch die selbsternannten ‚Aufklärer‘, wer immer sie sind: Studenten, Theoretiker, Wissenschaftler, Publizisten, Ideologiekritiker u.a. gegeneinander streiten. 

Wir leben in einer Welt zunehmender wechselseitiger Vorwürfe und der gegenseitigen Überbietung an Besserwissertum und Rechthaberei, zusammen mit geradezu ungeheuerlichen Vorwürfen und Unterstellungen, die nur auf Entwertung aus sind. Die (un)sozialen Medien wirken dabei besonders destruktiv. Mit vielen Worten wird maßlos übertrieben, sie verlieren so ihren präzisen Sinn. Für die Sprache und ihre Verständigungsmöglichkeiten tragen wir jedoch eine Verantwortung. 

Ressentiments und Hass regieren zudem die politische Welt der heutigen Großkonflikte, die sich zu Zivilisationskonflikten zuspitzen. Deren Folgen schlagen bis in den Alltag hinein überall durch und sind für jeden wie untereinander spürbar. Gerade in Zeiten schneller Meinungen und des großen (medialen) Überbietungswettbewerbs steiler Thesen brauchen wir deshalb die kleinen ‚Aufklärungsräume‘ untereinander, in denen wir das Beste herauszuholen versuchen.

Begriffe von ‚Hassverbrechen‘, ‚Völkermord‘, ‚Kriegsverbrechen‘, ‚Kolonialismus‘ und ‚Rassismus‘ häufen sich und erweitern ihre Definition, was uns einfache Menschen im Alltagsleben und erst recht politisch in Schwierigkeiten bringt, Wie kommt man damit noch zurecht? Wie geht man damit um? Vielleicht helfen ein paar einfache Unterscheidungen aus der Philosophie, was wir im Folgenden versuchen. 

Hass und Ideologie

Nicht nur die kritische Analyse mit ihrer „Hierarchie der unterdrückten Identitäten“ ersetzt in weiten Teilen der akademischen und Medienwelt die universalistischen zivilisatorischen Minima, sondern vor allem das Unwissen und die erschreckende Ignoranz, historische Fakten differenziert wahrzunehmen und zu bewerten, lassen die einfachsten gemeinsamen Aufklärungsversuche scheitern ( siehe dazu exemplarisch Montefiore gegenüber der langen und schmerzvollen Geschichte des Gaza-Streifens : Eine historische Verblendung, in NZZ, 2. Dezember, der Artikel erschien zuerst in „The Atlantic“). 

Montefiore geht in seiner Analyse von der auffälligen „herzlosen Unmenschlichkeit“ gegenüber Hassverbrechen aus, am Beispiel der barbarischen Attacke der Hamas vom 7. Oktober und fragt sich, wie gebildete Menschen so etwas rechtfertigen können. Er nimmt dabei die „modische Ideologie der Entkolonialisierung“ aufs Korn, die auch eine politische Lösung des Konflikts durch Verhandlung ausschließen würde. 

Wirkliche und nicht bloss deklarierte Friedensstifter leben gefährlich. Der Slogan „Vom Fluss bis zum Meer“ heißt nicht weniger als „die Tötung oder Deportation von neun Millionen Israeli implizit gutzuheißen“ (a.a.O.). Merkwürdig ist, dass man „heute wieder sagen muss“, dass „das Töten von Zivilisten, alten Menschen, sogar von Babys immer falsch ist“. 

„Wir sind doch alle Menschen“, diesen einfachen, wichtigen und gewichtigen Satz sagte die 102-jährige Holocaust-Überlebende Margot Friedländer kürzlich an einem Solidaritätsabend in Berlin. Sie besucht heute, nachdem sie nach Jahrzehnten in den USA in ihre Heimatstadt zurückgekehrt ist, Schulen, um mit jungen Menschen zu reden. 

Grunderfahrungen aller Menschen

Der Physiker und Philosoph Eduard Kaeser spricht von „Grunderfahrungen„, um diesen von Margot Friedländer ausgesprochenen Universalismus zu bekräftigen (siehe: Was bleibt jetzt noch von unserer schönen Moral?, NZZ, 28. Nov., S.14). „Menschen haben das Recht, eigene Identitäten zu entwickeln, dieses Recht stützt sich aber auf das universelle Vermögen, bei Gelegenheit von trennenden Identitätsmerkmalen zu ‚abstrahieren‘ „. Er nennt dies auch ‚molekularen Universalismus‘, den wir alltäglich erleben können nicht nur im urbanen multikulturellen Umfeld. 

Eine andere Grunderfahrung hatte schon Kant in seiner Schrift ‚Zum ewigen Frieden‘ (1795) angesprochen: “ Da es nun mit der unter Völkern der Erde (…) überhandgenommenen (…) Gemeinschaft so weit gekommen ist, dass die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird: so ist die Idee eines Weltbürgerrechts keine phantastische und überspannte Vorstellungsart des Rechts, sondern eine notwendige Ergänzung (…) zum öffentlichen Menschenrecht überhaupt.“ 

Kaeser korrigiert: Die Idee der Menschenrechte ist nicht nur eine notwendige Ergänzung, sondern eine notwendige universelle Basis für eine moralische Gemeinschaft aller Menschen. Sie mag naiv erscheinen, aber die Verletzung bleibt eine „punktuelle Evidenz„, von der man sich „als Mensch“ nicht abwenden kann. Das trifft ins Schwarze. 

Kaeser spricht von der „Stimme des Körpers„, denn die Verbrechen der Menschheit widerfahren konkreten Körpern. Nichts berührt uns mehr als gequälte, verletzte und ausgemergelte Körper. Wir sind nicht nur vernünftige Wesen, sondern vor allem auch verwundbare Menschen: „Das Gedächtnis unseres Körpers befähigt uns (und zwingt uns oft), universelle Werturteile zu fällen: Dies ist besser als das. Nahrung ist besser als Hunger. Mitgefühl ist besser als Aversion. Ein Wort ist besser als eine Faust ins Gesicht.“ Auch da können die meisten mitgehen. 

Das sagen uns vielleicht auch die Stimmen der Vernunft, des Glaubens oder der zufälligen historischen Identität. Umso besser, sie sollen erhalten, gepflegt und verteidigt werden. Kaeser behauptet darüber hinaus in der Sprache des Physikers, dass sie dem Grundton, den die Stimmen der Körper liefern, „aufmoduliert“ sind. Der Körper widersetzt sich der totalen kulturellen Vereinnahmung. 

Oft, gerade in schwierigen unübersichtlichen Situationen erweist sich unser moralischer Kompass als sprachlos, was wir schnell lediglich moralisch überkompensieren, während wir offenbar einen „viszeralen Sinn“ dafür haben, was richtig und falsch ist. 

Sogar Kant, der alles begründet sehen wollte, gestand: 
Eigentlich bedürfe es „keiner Wissenschaft und Philosophie, um zu wissen, was man zu tun habe, um ehrlich und gut zu sein“; man könne es nicht „ohne Bewunderung ansehen, wie das praktische Beurteilungsvermögen (im gemeinen Menschenverstand) dem theoretischen (…) sogar viel voraus habe“ (a.a.O., zitiert von Kaeser). 

Johann Gottfried Herder (1744-1803) gilt vielen in der europäischen Aufklärung als Widerpart von Immanuel Kant (1724-1804) und als Vorläufer der ‚Cultural Studies‘, der die Identität und ebenso die Moral als Teil der menschlichen Identität kulturell und ethnisch durch Gruppenzugehörigkeit geprägt sieht. Diese historischen Prägungen sind gegeben und keinesfalls zu unterschätzen, aber die Verbindlichkeit allgemeiner Normen darf damit nicht unterlaufen werden. 

Gleichheit gibt es nicht nur unter Gleichartigen. Normen (Rechtsnormen, Verfassungsnormen) sind stärker als Werte und Tugenden, die für die moralische Identität der Einzelnen und das zivile Zusammenleben der Vielen auch eine Rolle spielen. Die Moral ist ebenso komplex wie die Identität. Klugheit (phronesis, prudentia), Moral und Recht werden bei Kant (auch und gerade in der Friedensschrift) genau unterschieden, und ihre Zusammenhänge differenziert erwogen. Verbindliches Recht muss dabei durch legitimen Rechtszwang durchgesetzt werden können

Das wollen wir hier nicht noch einmal referieren. Die kleine große Schrift (76 Seiten) gibt es als gelbes Reclam-Bändchen für alle erschwinglich, und man kann darin lesen. Auch von der „Bösartigkeit der menschlichen Natur“ ist bei Kant an vielen Stellen die Rede. Ein Schwärmer ist er nicht, vielmehr werden Realismus und Idealismus in seiner politischen Theorie vermittelt

Das Böse kehrt zurück

Die barbarische Kriegsführung gegen die Zivilbevölkerung und die furchtbaren Terrormassaker haben dazu geführt, dass das Böse in die Politik zurückgekehrt ist. Und mit ihm auch die Unterscheidung zwischen dem gewöhnlich Bösen und dem radikal Bösen. Radikal böse ist jemand, der trotz des Wissens darüber, was gut und böse ist, sich für das Böse entscheidet. Hannah Arendt knüpft an Kant an. 

Dieses Böse, mit dem man sich nicht mehr versöhnen kann, kommt für die Jüdin und politische Theoretikerin mit dem Nationalsozialismus in die Welt. Es ist mit anthropologischen Begriffen nicht zu fassen und wurde sichtbar, als die Moral bei den ganz gewöhnlichen Leuten zerbrach, was “ nie hätte geschehen dürfen“. Die Grundannahmen der Moralphilosophie haben „dem Sturm der Zeit nicht standgehalten.“ 

Arendt (1906-1975) setzt sich von Kant ab, indem sie die Wurzeln des radikal Bösen nicht im Täter und dessen Motiven vermutet, sondern in der neuartigen totalitären Großideologie, der es gelingt, den Anderen bzw. die Pluralität außer Kraft zu setzen. Diesem voraussetzungsvollen Vorgang widmet sie ihr dreiteiliges politisches Hauptwerk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“, englisch 1951, in deutscher Übersetzung 1955. 

Seit der Beschäftigung mit der Person Eichmann (1961/1964) meint sie zudem mit der „Banalität des Bösen“ den Mangel an Einbildungskraft, die Verweigerung des eigenen Urteils sowie die Unfähigkeit, sich eine Sache vom Standpunkt von Anderen her vorzustellen. Die Indifferenz des Bösen behandelt sie in ihrem Werk zunehmend als Gedankenlosigkeit und Abwesenheit des Denkens. Dieser Zusammenhang ist wohl das ethisch-politisch schwierigste Problem. 

In unseren Kriegen mit Terrorattacken im Krieg und dem Abschlachten friedlicher Menschen im Kibbuzim ist ebenso die Monstrositätdes Bösen zurückgekehrt (man lese nur den Bericht: www.rnd.de, 2.12.2023). Nach diesen detailliert geplanten Gräueltaten steht fest, dass es keine Zukunft des Nahen Ostens mit der Hamas und auch keine Zukunft der Hamas in Gaza geben kann und darf.

Das ist nicht nur eine israelische, sondern ebenso eine internationale Aufgabe, insbesondere auch für die Arabische Liga. Die Kämpfe intensivieren sich derzeit unmittelbar nach dem Einstellen der Feuerpause im Süden des Gazastreifens. Die USA versucht durch Abschreckung einen Flächenbrand durch die Verbündeten der Hamas, der „Achse des Widerstandes“ der drei großen H‘s: Hamas, Hisbollah, Huthi, die alle von Iran unterstützt werden, zu verhindern, genauso wie es 70% der Unterstützung der Ukraine leistet. 

Der amerikanische Verteidigungsminister und ehemalige General Austin mahnt an, dass der Schutz der Zivilbevölkerung sowohl ein moralisches Gebot als auch eine strategische Verantwortung bedeutet. Kamala Harris, die amerikanische Vizepräsidentin, und der französische Staatspräsident Macron äußern von Dubai aus eine deutliche Kritik an Israels Kriegszielen wie am militärischen Vorgehen, das „zu viele zivile Opfer fordert“ (2. Dezember). 

Regieren unter Bedingungen des Krieges

Regieren bedeutet Prioritäten setzen, das gilt auch für demokratisches Regieren unter erschwerten Bedingungen von Wahlen, Koalitionsbildungen und Protesten. Die Parteien priorisieren gerne diejenigen Aufgaben, die sie zur Erhaltung ihrer Klientelbeziehungen und Popularität für zentral halten; je schwächer der Rückhalt ist, desto stärker wird die Priorität. In Deutschland läuft derzeit ein Experiment dazu ab. 

In Zeiten des Krieges setzen die laufenden Kriege die Prioritäten mit, nicht nur für den leidigen Verteidigungshaushalt. Es sind nicht nur Zeitenwenden, sondern auch gewaltige Mentalitätsumbrüche, die wiederum, nicht so wie die schnelle Zeit, von heute auf morgen erfolgen, sondern sich allmählich, freilich unter dem Druck der Umstände einschleifen. So erwägt in diesen Tagen der ehemalige grüne Außenminister Fischer bereits die Atombewaffnung Europas gegen Russland. 

Kriegführende Länder wie die Ukraine und ihre Unterstützer müssen ihre Entscheidungen den Erfordernissen des Krieges anpassen. Europa kann nicht nur mit den USA rechnen, es muss auch selber verteidigungsfähig werden. Die flächendeckende russische Invasion in die Ukraine war ein Schock genauso wie die spektakuläre Falle, welche die Hamas Israel und dem Westen gestellt hat. Es wird für Israel immer schwieriger, gleichzeitig die eigene Bevölkerung und die Zivilbevölkerung im Gazastreifen zu schützen. 

Dem Recht und der Pflicht zur Selbstverteidigung gebührt der Vorrang gegen Gegner, die einen vernichten wollen. Berechtigte Forderungen von außen nach ‚Verhältnismäßigkeit‘, die Beachtung von Konventionen und Regeln werden in diesem Zusammenhang ’nachrangig‘, auch wenn sie beachtet werden, so doch nicht ohne unschuldige Opfer. Diese Verantwortung liegt vor allem in den Händen der Kommandeure und Soldaten, die nicht blindwütig agieren. 

Die verschiedenen Perspektiven der moralischen Akteure als Beobachter und im Geschehen verstrickt Handelnde werden maßgeblich, schwierig und entscheidend. Der Zeitfaktor erhöht zusätzlich den Druck. Im Fall von Israels Selbstverteidigung führen vor allem die zahlreichen Luftschläge und die inzwischen ausgeweitete Bodenoffensive, vor der man lange zögerte, gegen das dichtbesiedelte Gaza in ein ethisches Dilemma. 

Die Terroristenorganisation Hamas hat dort in Chan Yunis, der zweitgrößten Stadt, nicht nur eine Hochburg, sondern benutzt auch die Zivilbevölkerung als Schutzschilder und ihre Einrichtungen wie Schulen und Spitäler als Stützpunkte, was ein Kriegsverbrechen ist. 

Die Ukraine wiederum versucht, die russischen Kriegsverbrechen akribisch zu dokumentieren und juristisch zu verfolgen. Zur Friedensformel gehören deshalb neben dem Abzug der Truppen ebenso die Reparationen und ein Tribunal gegen die Kriegsverbrechen. Die Bilanz für 2023 und die Aussicht für 2024 lautet folgendermaßen: „Die Ukraine erwartet das härteste Kriegsjahr: Angesichts westlicher Unentschlossenheit liegen 2024 die Vorteile bei Russland – doch auch dieses blutet aus“ (NZZ, 4. Dez., S.5). 

Selenski bezeichnet Russland als einen “ Terrorstaat“ und Putin als einen „Kriegsverbrecher“, mit denen man nicht verhandeln kann. Vermittler scheinen zu fehlen. Der Krieg hat in seinem konkreten Verlauf zunehmend deutlich gemacht, dass er genozidale Züge trägt, während die Kriegsgegner Israels die Auslöschung des Landes offen und explizit zum Ziel haben, von dem sie nicht abrücken werden, soviel ist gewiss. 

Politische Klugheit und legitimer Widerstand

So kommt es zu einer barbarischen Kriegsführung, obwohl auch der Krieg Regeln kennt . Nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs gehört Letzteres übereinstimmend zum Verständnis von Zivilisation. Man glaubte sogar, partei- und länderübergreifend an die ‚Zivilisierung des Krieges‘. 

Die vier Genfer Konventionen von 1949, die zwei Zusatzprotokolle von 1977 und das Zusatzprotokoll von 2005 bilden den Kern des humanitären Völkerrechts, das Zivilisten, die nicht an Kampfhandlungen beteiligt sind, schützen soll. Kriegsgefangene sodann dürfen weder gefoltert noch getötet werden. 

Verstöße werden seit 2003 vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, der allerdings durchsetzungsschwach von den USA, Russland und China nicht anerkannt wird, geahndet. Er kann lediglich die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Individuen feststellen, nicht jedoch von Staaten. Trotz internationalen Haftbefehls wegen der Entführung ukrainischer Kinder reist Putin am 6. Dezember in die Emirate und nach Saudi-Arabien. Themen sind der Ölpreis, der Nahost-Konflikt und der Ukraine-Krieg. Zudem wird der iranische Präsident Raisi in Moskau erwartet, wo es um Waffenlieferungen gehen wird, – alles „Friedensstifter ohne Frieden“, siehe dazu den Blog vom 27. November. 

Paul Betts spricht in seinem Buch „Ruin und Erneuerung“ (Berlin 2022) von der „Wiedergeburt der europäischen Zivilisation“ nach dem Zweiten Weltkrieg. Er belegt eindrücklich, wie viele Akteure, auch die Sowjetunion, den zivilen Aufbau ermöglichten. Diese Zivilisierung war und ist mehr als der sogenannte Westen. Es sind progressive und konservative Kräfte daran beteiligt. Die Ruinen auf unserem Bild sind auch die Ruinen der damaligen Städte, die alle wiederaufgebaut worden sind. 

Siehe auch unseren Blog ‚Zivilisation‘ vom 22. August 2022. Das Zivilisatorische steht hier konträr gegen das Barbarische. Wenn wir von barbarischer Kriegsführung sprechen, so ist evident, was das in der heutigen Ukraine und beim Massaker von unschuldigen israelischen Zivilisten bedeutet. Auch darf man die Kausalität von Ursache und Folgen nicht verkehren und muss hier genau sein. Schwierigere Abwägungsfragen stellen sich beim Recht auf Selbstverteidigung, welches militärische Gewalt, die per se zerstörerisch ist, einschließt.

Russland hat nachweislich der Bilder, die wir zur Kenntnis genommen haben, zahlreiche zivile Ziele beschossen, die nicht-militärisch zweckentfremdet waren. Daneben gab es fehlgeleitete Raketen von beiden Seiten und sogenannte ‚Kollateralschäden‘ aufgrund des Luftkrieges, wie sie während des Jugoslawienkrieges in Deutschland moralisch diskutiert worden sind. 

Mit dem heute häufig und wechselseitig erhobenen Vorwurf des Genozids darf indes nicht leichtfertig umgegangen werden. Juristen und Richter sind diesbezüglich vorsichtiger. Der polnische Jurist Raphael Lemkin führte den Tatbestand ‚Völkermord/genocide‘ 1943 ein, um ihn auf den nationalsozialistischen Massenmord an den europäischen Juden zu beziehen. 

Weder die schiere Zahl noch die Tatsache, dass Nicht-Kombattanten getötet werden, noch die Brutalität sind für seine strenge Definition ausschlaggebend, sondern die offensichtliche Intentionalität, alle Juden eines bestimmten Gebietes zu ermorden, die bewiesen werden muss (siehe Konstantin Sakkas in: Tagesspiegel, 3. Nov., S.12). Das Protokoll der Wannseekonferenz und andere Dokumente haben dies bewiesen. Zwischen Kriegsverbrechen und Völkermord ist zu unterscheiden. 

Wir sehen und hören täglich zahlreiche Berichte und Bilder, unabhängig überprüfen können wir das Wenigste. Wir können lediglich verschiedene Medien und Quellen zur Kenntnis nehmen, vergleichen und nachforschen. Die politische Klugheit gebietet es, von außen vorsichtig zu bleiben im permanenten Informations- und Propagandakrieg von allen Seiten. 

Gedankliche und moralische Kurzschlüsse sind zu vermeiden, auch wenn die politische Positionierung klar ist. Sie ist hier auf Seiten derjenigen, die sich verteidigen gegen einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg und eine barbarische Terrorattacke. 

Ihnen gehört unser Mitgefühl und die Unterstützung, was eine sorgfältige und selbstkritisch bleibende Analyse mit Fragen und Zweifeln nicht ausschließt, sondern vielmehr laufend im Austausch mit anderen nötig macht. Kritik an Regierungen und Protest, solange er friedlich bleibt, ist in unserer rechtsstaatlichen Demokratie nicht nur erlaubt, sondern notwendig. 

Das ist eine große zivilisatorische Errungenschaft, die auch im demokratischen Israel unter schwierigen Bedingungen gegeben ist, jedoch nicht in Russland, Iran, China oder unter einer Hamasregierung, die ihre palästinensischen Rivalen ausgeschaltet hat. Sie wäre mit einer Zwei-Staaten-Lösung weder ideologisch noch politisch zufriedenzustellen. 

Diese Kritik muss Andersdenkende aushalten, solange sie nicht zur Vernichtung des politischen Gegners aufrufen und Terrorpropaganda verbreiten. Die Kriminalisierung des Protests ist zu vermeiden. Sie ist, trotz markiger Worte, kein Ausdruck demokratischer Wehrfähigkeit und legitimen Widerstands, so wie die Selbstverteidigung der Ukrainer und der Israelis als Bürger/innen in Uniform.

Bildnachweis: IMAGO / APAimages