ToleranzRäume

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„Was ist Toleranz?“  heißt es in der Einladung zur Ausstellung ToleranzRäume in der Landeszentrale für Politische Bildung in Potsdam, die bis zum Frühling nächsten Jahres zu sehen sein wird, genug Zeit also, sie zu besuchen, es lohnt sich.

Toleranz ist kein Selbstläufer, man muss sich für sie einsetzen, heißt es weiter im Einladungstext. 
In der Tat: mit Gleichgültigkeit oder Beliebigkeit sollte man Toleranz nicht verwechseln. Sie hat ein bewusstes und aktives Element. 

Allerdings ist sie als historisch-politischer Grundbegriff, wie jeder andere auch, nicht einfach zu definieren. Das „Wesen der Toleranz“, das über der Geschichte schwebt, gibt es nicht. Genauso wie es das ‚Wesen der Bedeutung‘ nicht gibt (Wittgenstein), denn Toleranz wie Gerechtigkeit, Freiheit oder Demokratie haben eine Geschichte und hoffentlich auch eine Zukunft, was die Semantik der Wörter verändert, die zudem in verschiedenen Sprachspielen verschieden verwendet werden (Mehrdeutigkeit). 

Im neuen Potsdamer Toleranzedikt (2008), das in einem achtmonatigen breiten und intensiven Stadtgespräch zustande gekommen ist, haben wir sie wie folgt definiert: 
1. als Geduld, 
2. als Offenheit und 
3. als friedlich-demokratische Zivilisierung von Differenzen. 

Die Fähigkeit zur Toleranz, die eine Verhaltenstugend ist, wird immer wieder aufs Neue in neuen Situationen herausgefordert, vereinigt diese drei Definitionselemente, die in sich selbst wieder verschiedene konkrete Bedeutungen in der Anwendung haben. Zum Beispiel wurde im Stadtgespräch, auffällig häufig von Ostdeutschen, auf die Geduld des Zuhörens hingewiesen. Auch die scheinbar einfache Geduld hat verschiedene Aspekte. Das Recht, seine eigene Geschichte zu erzählen, gehört auch dazu. 

Die stoische Toleranz des Ertragenkönnens (1.Definitionselement) ist eine zivilisatorische Voraussetzung des komplexen Miteinanderlebens, überall, besonders in den großen Städten der urbanen Zivilisation geworden. Das ist zwar kognitiv trivial im Sinne von elementar, aber keineswegs banal. Urbane Koexistenzphilosophie wäre vielmehr das herausfordernde Thema der heutigen Weltgesesellschaft – auf allen Abstraktions- und Konkretionsebenen. 

Die Öffnung der Welt in der historischen Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts (das 2. Definitionselement) sodann ebnete den Weg zur Religionsfreiheit und den Menschenrechten nach den furchtbaren religiösen Bürgerkriegen, darunter die Hugenottenkriege. 

Letztere sind durch gefährliche Flucht und die Aufnahme der Hugenotten – durch das Edikt von Potsdam 1685 – mit der Entwicklung der Region Berlin-Brandenburg aufs Engste verbunden, was Spuren bis heute hinterlassen hat. Diese Erfahrung ist Teil der europäischen, insbesondere der französisch-deutschen Geschichte. Im Hugenotten-Museum am Gendarmenmarkt in Berlin kann man sie studieren (siehe auch die Blogs vom 25. Mai 2023 und 16. Juni 2023). 

Es gibt mithin regionale historische Anknüpfungspunkte genauso wie neue Herausforderungen für unser Nachdenken über Toleranz. 

Die Weichheit der Toleranz – die auch vom Verdacht lebt, dass der Andere recht haben könnte (Tucholsky), der Revolutionär Lenin sprach bezeichnenderweise von „demokratieweich“ – ist zugleich ihre individuelle und gesellschaftliche Stärke, die erst offene Entwicklungen ermöglicht und unterstützt. Weich bedeutet indessen nicht schwach und bequem. Das ist zweierlei. 

Die von Haus aus liberale moderne Toleranz, in deren Zentrum die Freiheit steht, muss sich in freiheitlichen Gesellschaften und liberalen Demokratien bewähren. Sie erfordert Anstrengungen und mutet allen (einigen mehr als anderen!) viel zu, heute mehr denn je, wenn man gleichzeitig Freiheitsgewinne und erworbene Rechte verteidigen will. Umso wichtiger wird dadurch das dritte Definitionselement: die Zivilisierung von Differenzen. Sie kann allerdings ebenso scheitern wie es unzumutbare Grenzen des Erträglichen gibt. 

Das führt zu Aggressionen im Dichtestress und zu Wut, Hass und Gewalt. Vorurteile und Ressentiments, die immer nur die anderen haben, sind ebenfalls nicht verschwunden. Wie baut man sie ab? Das Thema der Religionsfreiheit und Menschenrechte ist zudem historisch nicht erledigt, denken wir nur an die Uiguren und Jesiden. In den Konflikten der Migrationsgesellschaft treiben sodann die Emotionen und Identitäten auseinander. Die jüngsten Ausschreitungen in Amsterdam, einer Stadt mit großer liberaler Tradition, zeigen es wieder drastisch. 

Überall gibt es Rückschritte und Blockaden. Auch die ideologisch legitimierte Gewalt in der politischen Auseinandersetzung ist im Kleinen wie im Großen nicht aus der Welt, im Gegenteil. Militarisierung und unkontrollierte Rüstung schreiten voran. Niemand weiß, wie man dagegen noch ankommt. 

Konflikt- und Diskursfähigkeit

Toleranz schließt Konflikte nicht aus, sondern ein. Eine Harmonieveranstaltung ist sie nicht. Sie darf nicht zur Selbstverleugnung führen, sondern muss sich selbst behaupten mit Ich-Stärke und eigenem Urteilsvermögen, am besten im Austausch und der Begegnung mit anderen. 

Sie muss heute viel wissen und neugierig bleiben. Dafür braucht sie anregende ToleranzRäume. Und sie muss wieder kämpferisch werden gegen Gleichgültigkeit und Ignoranz. Dabei muss sie ins Handgemenge der alltäglichen Konflikte gehen und sich nicht zu schnell entmutigen lassen.

Auf politischer Ebene gilt dies insbesondere für die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem sogenannten ‚Populismus‘, der oft Neuland ist. Prävention und Bekämpfung des Extremismus und seiner verschiedenen Varianten, die man kennen muss, sind noch einmal etwas anderes. Man sollte nicht alles in den gleichen Topf werfen und vorschnell etikettieren, zur eigenen Entlastung. 

Das Gespräch, das wir sind, darf nicht abbrechen, sondern muss gerade in der Demokratie gesucht werden, auch das konfrontative Gespräch, das persönlichen Mut erfordert. So haben jüdische Studenten an der Uni unter großen Schwierigkeiten, über den Nahost-Konflikt aufzuklären versucht. So gibt es ebenso kluge Initiativen von Muslimen, in Kreuzberg zum Beispiel Dervis Hizarci „Zwischen Hass und Haltung“(2024). Sie setzen auf Austausch und gemeinsame Lösungsfindung.

Konflikt- und Diskursfähigkeit erfordert zusätzliche andere Haltungen und Fähigkeiten, mit Toleranz allein kommt man nicht weiter. In verhärteten Situationen muss man sie zunächst einfordern, vor allem dürfen keine AngstRäume entstehen. Dagegen sind die ToleranzRäume zu verteidigen. 

Als Mindestbedingung gilt der alte Römische Rechtssatz: Audiatur et altera pars, auch die andere Seite muss gehört werden. Oder Voltaire (1694-1778), der auch in Potsdam war: „Ich bin zwar nicht deiner Meinung, kämpfe aber dafür, dass du sie äußern kannst.“ Bestimmte Minimalbedingungen eines zivilisierten Verhaltens sind zu beachten und durchzusetzen. Ein funktionierender Rechtsstaat schafft Vertrauen in die Demokratie. 

Gewaltandrohungen und Redeverhinderungen gehen nicht. Niederbrüllen bringt nichts, Zwischenrufe sind nicht unanständig, Transparente ohne gewalttätige Symbolik auch. Vernünftig diskutieren indes lässt sich nur ohne Druck, indem Emotionen, Gebrüll, rüpelhaftes Verhalten und moralische Vorwürfe gegen Personen nicht dominieren. Ständig nur gegeneinander demonstrieren, bringt alle auf die Dauer nicht weiter.

Bündnisse der Aufklärung

Die Freiheit in Kontexten braucht die Toleranz wie die Luft zum Atmen, sie ist ihr notwendiges ziviles Komplement. Freiheit bleibt dabei prioritär bei allen schwierigen Abwägungsprozessen: Freiheit und Verantwortung, Freiheit und Gerechtigkeit, Freiheit und Sicherheit, Freiheit und Frieden. 

Toleranz hat ebenso ihre Grenzen, die durch das Nicht-Tolerierbare markiert sind, was mehr ist als bloße Intoleranz. Intolerant sind wir alle an gewissen Punkten, wir sind alle keine Toleranzengel und stecken in einem Toleranztunnel, was man wechselseitig kritisieren und korrigieren kann. 

Das Nicht-Tolerierbare geht darüber hinaus. Darüber müssen wir uns ebenso klar werden wie über Toleranz, die noch nicht Wertschätzung bedeutet und etwas anderes ist als Respekt oder Empathie, obwohl es Zusammenhänge gibt. Eine unüberlegte, ungenaue und geschönte Wortwahl dekultiviert die politische Kultur, wofür wir eine Verantwortung tragen. 

Wahrnehmung, Aufmerksamkeit und Unterscheidungsvermögen sind Voraussetzungen der eigenen Urteilskraft, die man üben muss, sonst schläft sie ein. Der Mangel an Urteilskraft ist das, was man Dummheit nennt (Kant). Oder Voltaire: „Man kann die Menschen zur Vernunft bringen, indem man sie dazu verleitet, selbst zu denken.“ Das wäre die Kunst, bloß dabei nicht langweilig werden.

Der Ausgangspunkt der Toleranz bzw. des Nicht-Tolerierbaren aus historischer Erfahrung des Leids mit Fremdenhass, Antisemitismus, Fanatismus und ideologisch begründeter Gewalt führt zu mehr sachlicher Aufklärung, die in unseren Zeiten der Kriege und drohender Bürgerkriege, selbst in Demokratien, gleichermaßen zu einer intensiven geistigen und politischen Auseinandersetzung geworden ist. Toleranz ist noch wichtiger, aber auch schwieriger geworden, das mussten wir in den letzten Jahren hautnah erfahren. 

Für die neue Aufklärung braucht es breite parteiübergreifende Bündnisse, die schon in sich tolerant und produktiv sein müssen, um viele Verschiedene erreichen zu können, wie das demokratiepolitische Handlungskonzept ‚Tolerantes Brandenburg‘ seit 1998, das Bündnis ‚Potsdam bekennt Farbe‘ seit 2002 oder den zivilgesellschaftlichen Verein ‚Neues Potsdamer Toleranzedikt‘ seit 2008/2009.

Diese Vielheit handelt, wenn es nötig wird. Beispiele sind: „Potsdam baut eine Synagoge“, „Potsdam trägt Kippa“, „Potsdam hat Platz für eine Moschee“.  Und sie kann über Demonstrationen hinaus Überraschendes zustande bringen wie das Flüchtlingshilfeportal HelpTo in 12 Bundesländern oder die erste bundesweite Kampagne gegen Hasspropaganda im Internet (2014/15). Auch ‚Pogida‘ konnte 2016 in der Stadtgesellschaft nicht Fuß fassen. 

Ich bin dem Verein Toleranz-Tunnel e.V. dankbar für seine Mitmach-Ausstellung. Sie ist kurzweilig, nützlich und anregend. Dieses Jahr konnten wir mit ihr durch Brandenburg ziehen. 

Ich freue mich, dass die Landeszentrale für Politische Bildung das Projekt übernommen hat und daraus eine freundliche Indoor-Ausstellung gestaltete, die bis Frühling 2025 besucht werden kann. Sie übt ein, in die nötige Urteilskraft, die wir heute für unser komplexes Zusammenleben dringend brauchen. 

Ich wünsche der Ausstellung viele Besucher und noch mehr Lehrer mit ihren Schulklassen. 

(Rede zur Eröffnung der Ausstellung ToleranzRäume am 6. November 2024, Brandenburgische Landeszentrale für Politische Bildung, Heinrich-Mann-Allee 107 (Haus 17), 14473 Potsdam).

Webseite: https://www.politische-bildung-brandenburg.de/ausstellungen/toleranzraeume