Toleranzedikt als Stadtgespräch

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Es gibt genug zu tun: Einfach, aber schwer. Toleranzedikt als Stadtgespräch ist eine Tradition (seit 1685) und zugleich eine Idee und städtische Aktualität (seit 2008), an die wir anknüpfen können.

Es ist ein bürgerschaftlicher Weg, der die Offenheit des Dialogs mit der Verbindlichkeit von Werten und Normen, wozu auch Freiheit, Toleranz und Solidarität gehören, verknüpft – immer wieder. Das ist anlassbezogene Aufklärung: einfach, aber schwer.

Brandenburg hat nicht viel Besseres als diese Tradition und diesen Weg, der Eingang gefunden hat in die neue, vom Volk beschlossene Verfassung von 1992. Sie bildet den historischen antitotalitären Grundkonsens über die heutige schnelle Zeit der Ereignisse und Events hinweg, zu dem – bei allem Streit und Dissens – die kämpferische Toleranz als demokratische Minimalethik gehört.

Dieser Weg ist offen und unabgeschlossen, er kennt kein geschichtsphilosophisches Ziel. Auf der Facebook-Seite des Toleranzedikts und andernorts sowie im Verein ‚ Neues Potsdamer Toleranzedikt‘ kann man/frau sich daran beteiligen.

Was wäre das Bessere? Um in Brandenburg zu bleiben: Vielleicht sans souci für alle? Das würde schwierig, denn bedenken wir, dass „Wohlstand für alle“ (Ludwig Erhard) für die heutige Zeit nur ein Aspekt davon wäre. Hat die bundesrepublikanische Wohlstandsgesellschaft mit ihren großen Ungleichheiten des Einkommens, des Vermögens, der Bildung usw. dieses Ziel erreicht? Und werden die Nachahmer und Nachzügler, wie versprochen, dieses Ziel (nur schon in der EU) jemals erreichen? Wenn sie ihm näherkommen wollen, dann jedenfalls geht dies nur mit viel Anstrengung, Anpassung und Hektik – nicht mit sans souci, sondern dem genauen Gegenteil davon: mit Stress und Disruption.

Sanssouci war die gelebte Utopie eines Philosophenkönigs (Friedrich ll.). Es war sein Garten Epikurs, der sich nur schwerlich demokratisieren lässt. Unsere Freizeitgesellschaft von heute ist der Mühsal der Arbeit abgerungen. Die Zeitsouveränität bleibt weiterhin ein emanzipatorisches Ziel, und die freie Zeit sollte dabei nicht zum Stressfaktor für die Familie werden.

Die Sorge ist ein großes deutsches Wort, das beständig mit großem Ernst und im Orgelton ausgesprochen wird: man ist in Sorge um den Industriestandort, die Demokratie und die Welt. Vor allem die Rechten sind wieder in großer Sorge um Deutschland (Höcke). Mit viel Pathos wird dies zelebriert.

Die Sorge ist nicht zufällig ein zentrales Wort in der Philosophie Martin Heideggers, des Meisterdenkers aus Deutschland. Er bestimmt und erläutert die Sorge als „Sein des Daseins“ (in: Sein und Zeit, 1927, ab Paragraf 39 ff.). Das “ eigentliche Ganzseinkönnen des Daseins“ und die Zeitlichkeit werden als der “ ontologische Sinn der Sorge“ bezeichnet. Ein eigener Paragraf (64) beschäftigt sich mit „Sorge und Selbstheit“. Weniger überraschend als die originellen Zeitlichkeitsanalysen (ab Paragraf 65ff.), die dann folgen, ist der Paragraf über das „Gewissen als Ruf der Sorge“(56).

Das Dasein ist also auf diesem (religiösen?) Hintergrund ständig besorgt und weniger ein Dasein ohne Sorge. Wer hat Interesse daran? Kein Wunder, dass die Kirche in der Philosophiegeschichte wenig tolerant war mit der epikuräischen Philosophie und ihren materialistischen Auswirkungen (siehe Greenblatt, Die Erfindung der Intoleranz, 2019). Friedrich ll. demonstrierte dies und genoss es! Er konnte es sich leisten, und er hat es sich geleistet, weshalb man ihn guten Gewissens den Großen nennen darf.

Wir kleinen Massenbürger von heute hingegen wünschen uns ein möglichst sorgenfreies Leben, wenigstens materiell und im Alter. Was ist verwerflich daran? Eine deutsche Kulturkritik hat dies immer wieder als oberflächlichen ‚Materialismus‘ gebrandmarkt, was in Wahrheit eine Demokratisierung des Hedonismus auf Erden ist. Jeder hat ein Anrecht auf sein Glück, so schwer Glück zu definieren ist. Oder, um das Beste aus Brandenburg-Preußen zu zitieren: „Jeder nach seiner Façon“(1740), nicht nur für Friedrich ll.. Wohlstand und Wohlfahrt mussten historisch erlitten und erstritten werden.

Auch heute wieder im Wahlkampf 2021 geht es um Wohlstand und die Angst, ihn zu verlieren. Bewusst werden in der parteipolitischen Polemik Ängste geschürt (um den Arbeitsplatz, das Auto, die Flugreise, den Urlaub, das Eigenheim u.a.), um Stimmen zu gewinnen. Das ist dann die Mitte im Sinne der Wahlforscher und nicht schon die ethische Mitte des richtigen Maßes, um die demokratisch gerungen wird bis ins Detail. Andererseits werden für die große Masse in den Städten die Mieten immer unerschwinglicher und die Renten unsicherer. 

Ist Verzicht die Lösung? Wohl nicht, wenn es um Bodenpreise, Finanzspekulationen und Tariflöhne geht. Das gesellschaftliche Klima bleibt grundlegend auch für eine gelingende Klimapolitik. Klimagerechter Wohlstand für künftige Generationen ist ein anspruchsvolles Ziel, das ebenso den ‚Moral-‚ wie ‚Technologieweltmeister‘ fordert. Verzicht auf Überflüssiges im Konsum und mehr Aufmerksamkeit darauf, was man konsumiert, ist dagegen sinnvoll.

Die soziale Marktwirtschaft ist für das gesellschaftliche Klima wichtig. Aber weiß heute noch jemand, was Ordoliberalismus bedeutet, der sich selber begrenzt? Wie der Staat den Rahmen setzt für wirtschaftliche und technologische Entwicklungen? Welcher Staat? Darüber sollte eine lebendige Demokratie entscheiden, nicht gegen den guten Staat, sondern mit ihm, was schwerfällt.

Die Demokratie ist eine gute Lösung und gleichzeitig birgt sie Probleme: sie ist anstrengend, vielstimmig, konfliktreich und komplex, weshalb die kämpferische Toleranz, die urteilsfähig bleibt, grundlegend und nicht nebensächlich ist. Sie wird als Verhaltenstugend von Personen verkörpert und gelebt und nicht von Systemen oder Institutionen. Die Demokratie muss in ihrer zivilen Komplexität allerdings auch verstanden werden, um sich erhalten und verteidigen zu können. Das moralisch Überschwängliche und Bessere ist oft der Feind des politisch Guten. 

Guter Wille allein genügt nicht. Wir wissen nicht sicher, ob die freiheitliche Demokratie den Belastungen, die aus einer liberalen Gesellschaft hervorgehen, standhalten kann.