Toleranz, Diversität, Wokeness

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Toleranz gehört in die alte Welt der klassischen Freiheitsrechte. Diversität hat an der Seite der Toleranz im Kampf gegen Fremdenhass und Rechtsextremismus seit den 90er Jahren eine erstaunliche neue Begriffskarriere hinter sich. 

‚Vielfalt‘ und ‚Haltung‘ sind dabei als Konzepte auffällig in den Vordergrund der Bekenntnisse getreten, ohne Toleranz ersetzen zu können. Stehen heute Haltung gegen Haltung? Ist das der neue Kulturkampf? Sind das Begriffe der Wokeness? Was heißt das? 

Diesen grundsätzlichen Fragen wollen wir im Folgenden nachgehen.

Prämissen liberaler Demokratie

Dabei schicken wir als moralisch-politische Prämissen liberaler rechtsstaatlicher Demokratie voraus: 

– Menschenwürde und Grundrechte 
– Diskriminierung aufgrund von Herkunft, Geschlecht und sexueller Orientierung ist falsch 
– Sprache/Integration sollen respektvoll sein 
– Historische Ausschlüsse wie Kolonialismus, Rassismus und Sexismus müssen benannt und bearbeitet werden. 

Diese Prämissen wurden von Wokeness nicht erfunden, sondern übernommen und radikalisiert. 
Im Folgenden wollen wir grob und schematisch, chronologisch und inhaltlich verschiedene Etappen der Diskussion nachzeichnen, um einen Überblick zu bekommen. Er beansprucht weder Vollständigkeit noch Perfektion. 

Er beginnt mit dem Format, das wir 2oo8 stadtweit begonnen und mit den Ausstellungen ‚Zwischen Toleranz und Entschiedenheit‘ in Potsdam (2023) und (mobil) ‚ToleranzRäume‘ in Brandenburg (2024) fortgeführt haben. 

Es ist ein weiterer theoretischer Versuch zur Kraft aktiver Toleranz.

Toleranzedikt als Stadtgespräch

Im neuen Potsdamer Toleranzedikt (2008) haben wir die ‚ Charta der Vielfalt‘, die aus einer Unternehmensinitiative, mit Unterstützung der damaligen Integrationsbeauftragten des Bundes, hervorgegangen ist, abgedruckt (Seite 98).

Die sechs Punkte der Selbstverpflichtung überschneiden sich mit den Anliegen des neuen Toleranzedikts. 29 Unternehmen haben sich angeschlossen. Im Rahmen des Stadtgesprächs sind seitdem die Punkte in internen und externen Dialogen weiter ausgeführt worden. 

Am 27. Mai 2025 findet sodann zum dreizehnten Mal der bundesweite deutsche Diversity-Tag statt – „Zeit, um Haltung zu zeigen“, heißt es jetzt. Unternehmen vor allem sollen Haltung zeigen. Vielfalt gilt als strategischer Erfolgsfaktor. 

Seit den 90er Jahren gibt es Diversity-Programme. Ein grober Überblick von einer produktivitätssteigernden Maßnahme zu einer stärker normativ aufgeladenen Moral im US-amerikanischen und europäischen Raum ist hilfreich. 

Der Kontext ist natürlich die Globalisierung, die zunehmende Migration sowie die Internationalisierung von Belegschaften. Diversität bzw. Vielfalt wird nicht nur aus moralischen, sondern auch aus ökonomischen Gründen gefordert. 

Sie gilt als Mittel der Effizienzsteigerung, worüber heute noch Manager und Managementwissenschaftler diskutieren, etwa bei SAP (siehe ‚Handelsblatt‘).

Diversität

Die Unternehmenspraxis wird sodann um Trainings, Normenkataloge und Diversitätsbeauftragte erweitert. Die Gleichheit vor der Leistung bleibt unangetastet. Ab 2005 und in den 2010 Jahren kommt es zu einer Ausweitung der Gleichheit für Diversity und damit auch zu neuen Kategorien der Diversität. 

Treibende Kräfte sind Antidiskriminierungsgesetze in den USA, die vorangehen, und in EU-Europa. Dies geht einher mit Bewegungen wie Gender-Mainstreaming, LGBTQ-Rechte und sozialen Bewegungen. Sie erzeugen neue Diversitätskategorien wie sexuelle Orientierung, Alter, Behinderung, Religion, Körpergewicht und psychische Gesundheit. 

Die Diversity-Programme selber werden damit komplexer. „Safe spaces“ und Mikroaggressions-Trainings werden eingeführt. Es kommt zu Spannungen mit dem Leistungsprinzip : Quotenregelungen vs. Bestenauslese. 

Ab 2014/2015 findet ein Paradigmenwechsel statt, ausgehend von den amerikanischen Universitäten und ihren geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern. Auf deren interne Entwicklung können wir hier nicht eingehen. Die Kernidee ist der ‚Intersektionalismus‘, das heißt: die Diversity wirkt nun entlang mehrerer Achsen gleichzeitig, zum Beispiel schwarz, weiblich, homosexuell. 

Zentrale Konzepte sind: 
– ’systemische Diskriminierung‘ 
– strukturelle Ungleichheit 
– ‚Unconscious Bias‘ 
– ‚Privilege checking‘ 

Sie beschreiben eine Verschiebung des Fokus von der Chancengleichheit zur Ergebnisgleichheit, das heißt: ‚equity‘ statt ‚equality‘. Der Opferstatus wird zu einer Kategorie sozialer Anerkennung. 

Die USA überschreiten im Kontext der Hochschulen und gewisser Großkonzerne diese Schwelle zuerst und früher als Europa, wo die Übernahme später und mit Reibungen verläuft, zum Beispiel in Frankreich im Widerstand mit dem republikanisch-laizistischen Prinzip. 

Ab 2020 können wir schematisch eine weitere Phase unterscheiden, die durch Trigger-Ereignisse wie George Floyd (die Bilder gingen um die Welt!) und Black Lives Matter sowie ‚Me Too‘ und Gender-Debatten zu tun haben.

‚Cancel Culture‘, Social Media -Sanktionen, Whistleblower-Schutz und weitere Stichwörter stehen für diesen Zeitabschnitt, in dem gefühlt die Sprache (als ein Identitätsmerkmal) hochgradig reguliert wird. 

Diversity-Richtlinien werden Teil von Compliance-Prozessen. Das gesellschaftliche Klima verändert sich merklich durch die Schaffung rigider Normensysteme und Angstkulturen. Neuer Konformitätsdruck wird spürbar. 

Ebenso werden „enge Meinungskorridore“ zu einem Thema, wie überhaupt die Meinungsfreiheit und ihre Grenzen auch in Demokratien wieder auffällig zu einem schwierigen und politisch kontroversen Feld wird, was symptomatisch ist. 

Man merkt – zum Teil überrascht, hinterrücks und zu spät –, dass dies kritische Entwicklungen sind, die es zu reflektieren gilt. Wann und wo liegen die Kipppunkte? 

Natürlich vollzieht sich diese Entwicklung nicht linear und überall gleich, sondern vielmehr in Schüben, abhängig von öffentlichen Skandalen und sozialen Bewegungen. 

Die Schwelle zur ideologischen Überformung wird überschritten, wenn Diversity zur Pflicht und leistungsunabhängigen Kompensation wird. Im Zuge dessen werden individuelle Diskriminierungserfahrungen systemisch verallgemeinert. 

Wokeness

‚Wokeness‘ (wachsames Bewusstsein) beschreibt eine Haltung oder Praxis, die sich durch eine ausgeprägte Sensibilität für soziale Ausgrenzungsprozesse auszeichnet, insbesondere in Bezug auf Rassismus, Sexismus, Kolonialismus, Homophobie, Transphobie und ähnliche Machtasymmetrien. Diese Haltung wird begleitet: 

– von einem Anspruch auf moralische Überlegenheit, 
– der Tendenz zu sozialer Sanktionierung (cancel culture), 
– regulierter Sprache und political Correctness, sowie 
– der Zuschreibung kollektiver Schuld oder Privilegien (white privilege, toxische Männlichkeit). 

‚Wokeismus‘ wird heute auffällig zur Kritik, durchaus polemisch, einer bestimmten progressiven identitätspolitischen Weltsicht verwendet („woke Kirchen“, „woke Demokraten“). Sie kann als ideologische Ausprägung eines ursprünglich auf Gerechtigkeit zielenden Engagements gesehen werden, das kaum noch Raum für andere Perspektiven und Ambivalenz lässt. 

Wokeness gehört dabei nicht einer bestimmten Bewegung an, sondern ist eher ein ideologischer Kern verschiedener Strömungen: 

– von Teilen des radikalen Feminismus und des Queer-Aktivismus, 
– akademischer Diskurse in der Tradition der Postcolonial Studies, Gender Studies und Critical Race Theory sowie 
– kleinere Netzwerke im öffentlichen und digitalen Raum. 

Sozialer Aktivismus für Gleichberechtigung ist indessen mit Woke-ismus nicht gleichzusetzen. Uns ist es hier wichtig auf kleine Unterschiede aufmerksam zu machen, die große Wirkung haben können. Dabei geht es nicht um akademische Haarspaltereien, sondern um eine begrifflich reflektierte und verantwortungsvolle Verwendung politischer Sprache. 

Mit Begriffen begreifen und arbeiten wir. Sie können – zum Beispiel als aktive Toleranz – in der Praxis fortentwickelt werden. Wir huldigen keinem semantischen Konservativismus, der akademisch beliebt ist, aber nicht innovativ. 

An dieser Stelle ist die Gegenüberstellung von klassischem Liberalismus und Wokeismus hilfreich. 
Die grundlegendsten Begriffe und Konzepte wie Individuum, Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Pluralismus, Meinungsfreiheit werden unterschiedlich gesehen und interpretiert. 

Diskriminierung wird im Liberalismus zum Beispiel individuell benannt und juristisch geahndet, Toleranz gilt auch gegenüber unbequemen und falschen Meinungen, während die Wokeness Toleranz begrenzt gegenüber Meinungen, die als diskriminierend gelten. Der Wokeismus betont kollektive Identitäten, strukturelle Ungleichheit und die moralische Korrektur sozialer Machtverhältnisse.

Toleranz

Der Übergang von ‚Toleranz‘ zu ‚Diversität‘ (im Sinne eines Verdrängungsverhältnisses) und zur ‚Wokeness‘, unsere drei Titelbegriffe, um die es in diesem Blog geht, markiert einen Paradigmenwechsel, und zwar: von der ’negativen Freiheit‘ als prioritär für den Liberalismus (als Abwesenheit von Zwang und Hindernissen) hin zu positiver Identitätspolitik mit tiefgreifenden Folgen für den Diskurs, Normen und Institutionen. 

Toleranz ist nicht Affirmation, sondern Zurückhaltung im Namen der Freiheit des Anderen. Sie erkennt den Anderen als legitimen Träger von Überzeugungen, auch wenn sie diese nicht teilt. 

Toleranz ist damit Voraussetzung für eine offene Demokratie, indem sie das ‚democratic game‘ offen hält für neue Mehrheiten. Sie ist eine letzte kulturelle Ressource gegen die totale Polarisierung. Mit dem staatlichen Gewaltmonopol schützt sie nicht nur die Schwachen, sondern auch die Andersdenkenden. 

In einer Zeit, in der jede Geste nur sich selbst für moralisch hält, ist Toleranz ein Angebot zur zivilen Selbstbegrenzung. 

Dies heißt nicht, dass alles gleich-gültig oder richtig ist (anything goes). Das wäre ein Missverständnis. Nicht die Wahrheit regiert im Liberalismus, sondern der zivilisierte Streit über sie wird durch Verfahren geschützt.

Diskurs- und Konfliktfähigkeit sind heute in der differenzierten, pluralistischen und individualisierten modernen Gesellschaft besonders gefragt, nicht nur an Universitäten.

Sie gehören zur allgemeinen politischen Bildung als Demokratiebildung zusammen mit der Medienkompetenz. 

Toleranz konfrontiert nicht im Sinne einer Parteimeinung. Parteien mobilisieren polemisch und durch Polarisierung. Sie kämpfen gegen abweichende Meinungen, sie wollen sie nicht ‚ertragen‘.

Sie überschreiten dann liberaldemokratische Grenzen, wenn sie nur noch Freund und Feind kennen, tertium non datur. Zur politischen Toleranz der Demokratie gehört dagegen die plurale Koexistenz. 

Toleranz, die nicht mit Gleichgültigkeit verwechselt werden darf, ermuntert nicht zur Parteinahme, sondern zur Zurückhaltung in dem Sinne, dass auch der/die Andere/n recht haben könnten. Ihr Minimalprogramm lautet mit dem altrömischen Rechtssatz: audiatur et altera pars. 

Wokeness dagegen, wenn sie sich mit staatlicher Normierung verwechselt, verwandelt Toleranz in ein Anerkennungsdiktat. Freiheit und Toleranz, die einander bedingen, sind heute von zwei Seiten gleicherweise bedroht: vom Überforderungsstaat und den alten und neuen Extremisten. 

Die Erosion staatlicher Neutralität im Namen der Moral ist eine schlechte Entwicklung für die liberale rechtsstaatliche Demokratie, gerade wenn man sie verteidigen will. Toleranz im liberalen Sinne ist unmöglich ohne staatliche Zurückhaltung. Sie benötigt deshalb den neutralen und agnostischen Staat, der keiner Weltanschauung verpflichtet ist.

Er schützt sie geistig und physisch. Die Verfolgung Andersdenkender und Andersgläubiger auf der Welt hat nicht aufgehört. Die politisch und ideologisch motivierte Gewalt nimmt zu. 

Die Staatsidee ist daher heute ebenso kritisch zu reflektieren wie die selbstbestimmte Freiheit. Die Anspruchshaltung hinter dem Überforderungsstaat, die immer mehr Anerkennung verlangt ohne Ende, zerstört die liberale Demokratie, indem sie die Selbstverantwortung wie die Verantwortung als Staatsprinzip preisgibt. 

Der Staat als Hüter der legitimen und legalen Verfahren ist kein Sinnstifter. Das ist den Antiliberalen zu wenig. So entsteht das paradoxe Projekt von verschiedenen Parteien aus: Postliberale Politik unter dem Banner des Liberalismus. Der Liberalismus ist noch zu prestigeträchtig, um offen verworfen zu werden, aber zu hinderlich, um voll akzeptiert zu sein.

Schluss

Es gilt deshalb überall, Toleranzräume zu erkämpfen, offenzuhalten, zu verteidigen und zu schützen. Sie sind durch aktive Toleranz neu zu beleben, was gleichzeitig die Demokratie von unten und in der Breite durch Bürgerbeteiligung stärkt. 

Auch und gerade für schwierige Versammlungen, etwa wenn es um Flüchtlingsunterkünfte oder Nutzungskonflikte geht, zu denen viele verschiedene Leute kommen, die reden wollen, so wie ihnen „der Schnabel gewachsen ist“, mit allen Emotionen, die dazugehören. 

Grundsätze der Beteiligung wie Frühzeitigkeit, Informationsbeschaffung, Niedrigschwelligkeit, Verbindlichkeit u.a. sind hierbei zu beachten und einzuüben.

Toleranz ist keine Harmonieveranstaltung, sondern erfordert oft unbequeme Konfliktfähigkeit und damit eine belastbare Zivilität.

Bildnachweis: Neues Potsdamer Toleranzedikt, Gerolf Mosemann