Symbole und Taten. Zur amerikanischen Zivilreligion Joe Bidens

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Denken wir an die Symbolhandlung Willy Brandts im Warschauer Ghetto am 7. Dezember 1970, die breit, ja weltweit und nachhaltig wirkte. Zwischen symbolischer, bloß inszenierter, vortäuschender Politik, deren Kritik nötig und berechtigt ist, und symbolischer Arbeit, etwa am Narrativ einer besseren inklusiven Nation, sollte man unterscheiden. Überzeugende Narrative sind von grosser Bedeutung für die Orientierung von Menschen und Gesellschaften. Die ausschliessende Gegenüberstellung ‚Taten statt Symbole‘ ist daher zu grob und zu einfach, was der komplexen symbolisch-politischen Wirklichkeit nicht gerecht wird.

Der 46. Präsident der Vereinigten Staaten Joe Biden spricht oft von Glauben, Hoffnung, Nation, Gott und Engeln. Seit Anfang November arbeitete er an seiner Inaugurationsrede, die er am 20. Januar hielt. Die zivilreligiöse Rhetorik Bidens um die „Seele der Nation“, die er heilen möchte, erreicht tatsächlich viele Seelen über Partei-, Konfessions- und andere Grenzen hinweg. Der emotionale Funke springt über, was der Sinn der transkonfessionellen Zivilreligion ist, von der es verschiedene Varianten gibt. An dieser Stelle kommen zwei Leistungen zusammen, die unterbelichtet sind: Rhetorik und Zivilreligion.

Man kann nicht sagen, dass Rhetorik unwirksam oder bloß listiges Blendwerk (Kant) ist. Worte wirken, freilich gibt es auch eine überhöhte Rhetorik und sogar eine gefährlich-demagogische, auf die Menschen hereinfallen können. Die Politik kommt jedenfalls ohne Rhetorik nicht aus, wenn sie viele verschiedene Menschen überzeugen will. Das geht nur über die Brücke der argumentativen Rede, weswegen man kein brillanter Rhetoriker sein muss; Geschliffenheit ist nicht das Kriterium und nicht das Entscheidende.

Helmut Kohl zum Beispiel war ein schlechter Redner, aber ein erfolgreicher Wahlkämpfer. Angela Merkel ist ebenfalls keine große Rednerin, aber sie hat nicht nur zwei inhaltlich meisterhafte Reden vor dem EU-Parlament gehalten, sondern auch emotional bewegende Appelle an die Bevölkerung während der Corona-Krise zum ‚Ernst der Lage‘ gerichtet. Und jüngst hat am 16. Januar der unterschätzte Armin Laschet mit einer klug konzipierten Bewerbungsrede beim Parteitag der CDU überrascht. Immer wieder gibt es wichtige und weniger wichtige Reden, die einen Wendepunkt darstellen. Aber auch jenseits dieser Rhetorikgeschichte, die sich bis in die Antike zurückverfolgen lässt, ist empirisch festzustellen, dass Politiker in der heutigen kompetitiven Parteienpolitik besonders viel reden, und das ist hier nicht abschätzig gemeint.

Sie müssen geradezu viel , gern und gut reden können, das ist ihr Lebenselixier, nicht nur in wenig wirklich wichtigen Augenblicken, sondern tagaus und tagein, in den verschiedenen Gremien, Ausschüssen, Wahlkämpfen, Ortsverbänden etc., was mitunter anstrengend ist, und viele von der Politik abhält. Die Redekunst oder heute vielleicht angemessener: das Sprechvermögen und die permanent auch öffentliche Sprechfähigkeit muss deshalb objektiv, nuanciert und differenziert betrachtet werden.

Genauso wie die Zivilreligion, von der wir ausgegangen sind. Auch in ihrer Geschichte gibt es helle und dunkle Seiten. Der Religionssoziologe Robert N. Bellah untersuchte sie als erster am Beispiel von John F. Kennedys Inaugurationsrede am 20. Januar 1961 (1967). Er entdeckte eine spezifisch amerikanische Zivilreligion als Weltzivilreligion der Menschenrechte, die nach innen und nach außen wirkte. Ich kann und will hier nicht die ganze Geschichte der amerikanischen Zivilreligion in ihren Variationen nacherzählen, sondern gleich auf den 20. Januar 2021 zu sprechen kommen nach dem Sturm auf das Capitol vor zwei Wochen.

Biden hat als Anti-Trump – „Trump ist das Virus“ – mit einem historischen Rekordergebnis an Stimmen (popular vote) die Wahl gewonnen. Insofern war der 3. November 2020 ein doppelter Sieg der Demokratie. Die Republikaner unter Trump, die ebenfalls ein Rekordergebnis erzielten, planten eine letzte Störaktion bei der Verkündigung des Wahlergebnisses am 6. Januar. Die Toleranz der Demokratie sollte auch das aushalten, obwohl verstörende Bilder um die Welt gingen, die ihr Schaden zugefügt haben. Sie beruht nämlich auf der robusten Zivilität zahlreicher verschiedener Individuen – einer zivilen Menge (multitudo), die kein gewalttätiger Mob ist – sowie der Robustheit von Institutionen wie Wahlen, Parlamenten, Gerichten und der Verfassung. Man muss für den Sturm auf das Capitol den amtierenden Präsidenten verantwortlich machen, der mit seiner Rede dazu angestiftet hatte. Er wollte den konstitutionellen Prozess stoppen, was zuvor mehr als 50 Gerichte nicht zugelassen haben. Der Mob stürmte schließlich die heiligen Räume und machte Jagd auf Nancy Pelosi und Mike Pence, der noch in der Nacht das Verfahren verfassungstreu zu seinem ordentlichen Ende brachte.

Der Kontrast zu diesem Ereignis war der 20. Januar, an dem Trump als erster Präsident in der amerikanischen Geschichte nicht teilnahm. Damit wurde der Traditionsbruch offensichtlich. Ein friedlicher Machtwechsel als elementarer Vorgang der Demokratie sieht anders aus, weshalb die Hauptstadt aus Angst vor Anschlägen einem gespenstischen Heerlager glich. Dennoch ging die traditionelle Inaugurationsfeier als Ritual der amerikanischen Demokratie friedlich über die Bühne. Bidens Rede war erstaunlich gut mit viel unterschiedlicher Religion: persönlicher Glaube (Biden ist der zweite Katholik im Amt nach Kennedy), Zivilreligion, Bürgerglaube an die Demokratie. Dieser Bürgerglaube (democratic faith) ist nicht dasselbe wie bürgerlicher Glaube; er ist breiter, weiter und diffuser.

Die amerikanische Zivilreligion ist zwar transkonfessionell eine Religion des Bürgers, aber sie ist eine unter Gott. Für die amerikanische Politik spielt sie als Klammer eine ähnliche Rolle wie die Idée républicaine für Frankreich. Letzteres ist eine republikanische Bürgerreligion, bei der die Laizität bestimmend ist. Zivilreligion lässt sich meines Erachtens aber auch als Bürgerglaube definieren und ohne expliziten Gottesbezug verallgemeinern. Ihr Glaube, ihre Symbole und Rituale indes haben religiöse Konnotationen mit freilich unterschiedlichen Hintergründen und Traditionen, die nicht immer bewusst sind. In liberalen Demokratien gibt es allerdings eine Zivilreligionsfreiheit genauso wie garantierte Religionsfreiheit. Zivilreligion als Religion der Bürger und Bürgerinnen kann Einheit stiften, wo keine ist, was schwierig, problematisch und fragil bleibt.

Bidens Rede wurde durch ein Gebet unterbrochen im Gedenken an die 400 000 Corona-Toten. Diese Religiosität oder Spiritualität ist ein weiterer Aspekt sowohl der Zivilreligion wie des Bürger/innenglaubens, der auch im sechsminütigen Poem „The Hill We Climb“ der jungen Dichterin Amanda Gorman zum Ausdruck kam. Er ist nicht an religiöse Strukturen und Einrichtungen gebunden. Der Bezug zum gläubigen Präsidenten wiederum wurde durch die Rede des Jesuiten Leo O‘ Donovan hergestellt, der sogar den Papst erwähnte und das auf dem Capitol! Der Katholizismus ist inzwischen die häufigste Denomination im ‚weißen protestantischen Amerika‘ mit 22 % Bevölkerungsanteil; er ist so vielfältig und gespalten wie die Bevölkerung insgesamt: von Abtreibungsgegnern bis zu Befreiungstheologen. Vieles kommt so im religiös-symbolischen Bereich zusammen. Das ist den Deutschen zu pathetisch, den Franzosen zu religiös. Es ist aber noch nicht alles!

Dazu kommt die gewachsene Diversität, nicht nur auf der Bühne des Capitols mit Lady Gaga, die Biden im Wahlkampf unterstützte, Jennifer Lopez, die auch spanische Sätze sang, und dem bekannten Countrysänger, der wiederum andere Gruppen ansprach. Diese Diversität findet sich ebenso in Bidens neuem Kabinett mit Kamala Harris als erster, schwarzer Vizepräsidentin mit indischen Wurzeln, die eine Schlüsselrolle spielen wird, möglicherweise in vier Jahren wieder, und der ersten Indigenen Deb Haaland als Innenministerin und Lloyd Austin, dem ersten schwarzen Verteidigungsminister. Das ist eine Nation im Werden, die sich seit den 70er Jahren durch Migration und in der Demographie stark verändert und von Europa wegbewegt hat. Es geht um Geschichte und zugleich um einen Neuanfang in düsterer Zeit – united in diversity. Man sollte die Kraft zur Selbsterneuerung (awakening) der USA nicht unterschätzen. Sie hat einen starken Glauben an Möglichkeiten, Chancen und Fairness und bleibt gleichermaßen eine Idee – ein Hybrid sondergleichen: säkularisiert und doch religiös, wirtschaftlich und politisch.

Dafür ist die Einheit der Nation – Bidens zentrales Thema – notwendig, und das geht nur zusammen, in einer Demokratie gemeinsam mit den politischen Gegnern, die bei allen intensiven Gegensätzen und Spaltungen in der Gesellschaft keine (Bürgerkriegs-) Feinde sind. Die politische Polarisierung kann maßlos werden und so die liberale Demokratie von innen zerstören, was für Europa ein mahnendes Beispiel sein sollte. Die Einheit der Nation, Republik und Demokratie hat viele Facetten, die Politik des Zusammenhalts ist eine Kunst. An erster Stelle stehen jetzt für die neue Regierung die Corona-Krise und der Umgang mit ihr, außerdem rücken die Probleme des strukturellen Rassismus und des Klimawandels in den Vordergrund. Zudem wird ein 2 Billionen Hilfspaket aufgelegt – Hilfe für alle!?

Biden war als langjähriger Senator ein gemäßigter Demokrat und Vermittler, nicht für alle Demokraten war er deshalb die erste Wahl, der linke Bernie Sanders war ihr Kandidat. Die realpolitische Hoffnung besteht nun darin, dass Biden einen neuen New Deal aus der Not zugunsten der Abgehängten, Resignierten und Wütenden, zusammen mit Teilen der Republikaner, zustande bringt. Zumindest das Bildungs- und Gesundheitssystem müssen endlich gerechter werden in diesem reichen Land mit seinen großen Ungleichheiten, was Alexis de Tocquevilles Zivilreligion der (imaginären) Gleichheit widerspricht (1831). Die soziale Mobilität ist inzwischen in den USA geringer als in Europa. Erfahrung und Knowhow bringt Biden mit, er ist kein Anfänger im Washingtoner Politikbetrieb, was seine aktuellen Personalentscheidungen demonstrieren. Politik ist ein Zusammen-Handeln auf allen Ebenen. Angesichts der Mehrfach-Krise und der Krisensteigerung in der Welt gilt es ganz besonders, besonnen, klug und bündnisfähig zu bleiben.

Rituale und Symbole sind unverzichtbar, aber Taten ebenso. Biden beginnt seinen ersten Arbeits-tag gleich mit 17 Erlassen, die er unterzeichnet. In ihnen macht er einen Teil der Politik von Trump wieder rückgängig: den Mauerbau zu Mexiko, den Ausstieg aus der WHO und dem Pariser Klimaabkommen, den sogenannten Muslim-Bann, das Einwanderungssystem u.a.. Der neue Präsident, der sich als Mann des Übergangs versteht, muss und will alle Krisen und alle Krisen auf der Welt gleichzeitig lösen, was unmöglich ist. Die Erwartungen von Deutschland und Europa aus sind riesig. Das Problem ist nicht die überhöhte Rhetorik, sondern die überhöhte Erwartung sowie die Hypermoral, die dahintersteht. Wir sollten aber nicht nur das Handeln anderer, sondern auch die eigenen Erwartungen einer realistischen Analyse unterziehen. Der 78jährige älteste Präsident ist aufgrund seiner persönlichen und politischen Erfahrungen der richtige Mann zur richtigen Zeit, aber er ist kein Heilsbringer. Er kann öffentlich trauern und versöhnen, ohne dass es aufgesetzt wirkt, und er ist ehrlich. Bidens zivilreligiöse Rhetorik einer ‚Nation unter Gott‘ lehrt Mut und Demut, Toleranz und Zuversicht. Aufwärtsgehen ist anstrengend – The Hill We Climb.

Photo by Rom Matibag on Unsplash