Für eine Argumentation politischer Theorie ist entscheidend, welche Ereignisse sie in welcher Art als Orientierungspunkte nimmt. 1989 fungiert hier ebenso als positiver Orientierungspunkt wie die nach 1996 trotz großer Schwierigkeiten wieder größere Selbstständigkeit der neuen Bundesländer einschließlich der kommunalen Selbstverwaltung und des damit verbundenen Aufbruchs der Städte (Keim 1995).
Das Ende der DDR war kein bloßer Zusammenbruch. Zwei Fingerzeige sind aufschlussreich, und es lohnt sich noch einmal auch für die Zukunft vertiefter darauf einzugehen: das Bürgerengagement einer friedlichen Revolution und die Stadt Leipzig als ein hauptsächlicher Ort des Geschehens. Leipzig galt Vielen als heimliche Hauptstadt der DDR.
Lebensweltlich ging es gegen die Zerstörung der Substanz, gegen die Selbstzerstörung sowohl des äusseren Arbeits-, Lebens- und Wohnumfeldes wie der inneren Person als Subjekt oder ‚Ich-Stärke‘. Die Metapher der Rettung stand im Vordergrund: „Rettet unsere Altstädte!“ (…) Rettet Leipzig, Dresden, Altenburg, Weimar, Meißen, Görlitz, Bautzen usw. (Zwahr 1993, S.11). Und die Menschen?
„Sie waren von innen mindestens so kaputt wie die Städte“ (a.a.O.). Man hatte sich zu sehr an den grauen Alltag gewöhnt, was später umso mehr ins Auge sprang, als man die teilweise restaurierten Städte sah: „Halle ist Spitze“, „Leipzig wieder im Kommen“, Erfurt, Potsdam, Stralsund, Greifswald u.a. ebenso.
Die Wende war auch und vor allem eine Stadtwende, nicht nur in Ostdeutschland. Darauf macht verdankenswerterweise die Wanderausstellung eines Forschungsverbundes unter dem Titel „Stadtwende. Bürgergruppen gegen den Stadtverfall in der DDR“ aufmerksam, die im Potsdam Museum vom 10. Dezember 2022 bis 12. Februar zu sehen war. Dazu gibt es ein informatives Begleitbuch (Links-Verlag, Berlin-Brandenburg 2022). Seine zwei tragenden Begriffe sind ‚Stadtwende‘ und ‚Bürgergruppe‘.
Stadtwende ist „doppelt konnotiert“: einerseits geht es um die staatssozialistische Legitimationskrise der 80er Jahre, andererseits um die auch andernorts, europaweit einsetzende erhaltende Stadterneuerung (S.11). Bürgergruppe bedeutet in der DDR nicht eine formal organisierte Bürgerinitiative, sondern eine informelle Bürgergruppe oder eine Arbeitsgruppe unter dem Dach des Kulturbundes. Die meisten Bürgergruppen gegen Altstadtverfall wurden 1989 und vermehrt noch 1990 gegründet (S.13). Stadtwende ist und bleibt auch Protestgeschichte von Einwohnern, die sich ihre Stadt aneignen.
Der spezifische Teil zu Potsdam findet sich nur in der Ausstellung. Ab 1987 formierte sich hier unter dem Dach des ‚Kulturbundes‘ der DDR die ‚Arbeitsgemeinschaft Pfingstberg‘, die immer mehr Freiwillige anzog und buchstäblich die Sache mit Schaufel und Spaten selbst in die Hände nahm. Der Pfingstberg erlebte im Juni 1989 eine Wiederauferstehung mit einem grossen Fest, trotz zahlreicher Hindernisse, die in den Weg gelegt worden waren. Ebenfalls aus dem Kulturbund heraus entstand 1988 ARGUS, die ‚ Arbeitsgemeinschaft für Umweltschutz und Stadtgestaltung‘.
Sie wurde bald, so die Ausstellung, zu einem „entscheidenden Faktor“ für die baupolitische Opposition in Potsdam, die ihre Spuren hinterlassen hat. So gelang es, am 7./8.Oktober 1989 ein DDR-weites Vernetzungstreffen zu organisieren. Dabei galt es, legale Nischen zu suchen und zu finden. 1989 ging der Protest sodann auch auf die Strasse, an der Dortustrasse 68, als das Wohnhaus Theodor Storm abgerissen werden sollte.
Parallel zu den Aktivitäten der gebündelten Sachkompetenz von Argus griffen ein junger Tischler und ein Restaurator zur Selbsthilfe, indem sie eine Ausstellung „Suchet der Stadt Bestes “ auf die Beine stellten, die von mehreren Tausend in der Nikolaikirche gesehen wurde. Der schöne Satz aus der Bibel (Jeremia 29) gilt noch immer und immer mehr.
Die Frage ist nur: Wie? Nach welchen Gesichtspunkten, Kriterien und Leitbildern finden wir das Beste der Stadt? Diese ändern sich, seitdem es Städte gibt, und sie sind vielfältig. Und wer ist dieses Wir? Wir werden am Schluss ‚Bürgerkommune als Beteilgungskommune‘ auf diese Frage noch einmal zurückkommen.
Ein Abrisstopp wurde schliesslich von der Stadtverordnetenversammlung am 1. November 1989 beschlossen. Die Zweite barocke Stadterweiterung veränderte das Gesicht der Stadt. Die Hausbesetzungen trugen ihren Teil dazu bei, den Verfall der Häuser zu stoppen (Warnecke 2019).
Die Entscheidung „Rückgabe vor Entschädigung“ hatte zu grossen Schwierigkeiten in der Nachwendezeit geführt. Um die Jahrtausendwende waren dann schon neue Entwicklungen in Gange. Neben die Sanierung der Altbausubstanz trat die Wiederherstellung des historischen Stadtgrundrisses.
Die originalgetreue Rekonstruktion der historischen Mitte führte zu grossen, teils unversöhnlichen Kontroversen, insbesondere um das ‚Landtagsschloss‘ – „Demokraten bauen kein Schloss!“ hiess die Gegenposition. Heute findet sich am rosaroten Schloss witzigerweise in goldenen Buchstaben der Schriftzug „Ceci n’est pas un château“. Eine heftige Grundsatzdebatte entzündete sich (nicht nur in Potsdam, ausgehend von Dresden) um die Frage: Ist kritische Rekonstruktion überhaupt noch zeitgemäss? Die Frauenkirche ist das Beispiel.
Die Frage, was in der Stadt erhaltenswert ist, beschäftigt nicht nur Architekten und Planer. Ebenso wichtig ist die Frage, wer darüber entscheidet, und was schliesslich ‚Demokratie als Bauherr‘ (Hämer) bedeutet. Bis heute ist diese Diskussion, mitsamt der besonderen Diskussion um die Ostmoderne (Klusemann 2016), nicht abgeschlossen, sondern kommt anlasshalber immer wieder auf. Sie begleitet das Leben der Städte und unterfüttert ihre zahlreichen Konflikte.
Die lange und heftige Auseinandersetzung um den Abriss der Fachhochschule in Potsdams Mitte hat dies ebenso gezeigt hat wie jüngst die Wiederaufnahme der Erörterung um den beschlossenen Abriss des Staudenhofs unter klimapolitischen Gesichtspunkten. Selbst die Grünen sind hier bis hinein in die ‚persönliche Verfeindung‘ gespalten. Muss dies wirklich sein? Potsdam hat den „Klimanotstand“ ausgerufen.
Glücksfälle und Problemfälle liegen in Potsdams Mitte dicht beieinander. So ist das ‚Minsk‘ am Brauhausberg ein gelungenes Zeugnis der Ostmoderne. Auch das Museum Barberini am Alten Markt ist ein Glücksfall aus anderen Gründen. Beide Male verdankt Potsdam dem SAP-Gründer und Mäzen Hasso Plattner entscheidend viel, der damit aber auch engagierte Bürgergruppen (wie ‚Mitteschön‘) unterstützen wollte, die nicht so schnell aufgeben.
Die Sammlung von DDR-Kunst im Minsk versteht er als eine Art „Wiedergutmachung an die DDR-Bürger“. Ein langjähriger und schwieriger Problemfall bleibt der Wiederaufbau der geschichtsträchtigen Garnisonkirche, die 1968 gesprengt worden war. Es war das größte Kirchenbauprojekt der Evangelischen Kirche in Deutschland. Hält sie daran fest bei mehr als 80% Konfessionslosen in Potsdam?
Prioritär ist der hohe Turm, der ohne Haube schon steht, und noch fertiggebaut werden soll. In ihm wird eine Ausstellung als Lernort der Geschichte installiert. Ob auch ein ‚Haus der Demokratie‘ – als Kompromisslösung zwischen den drei Gebäuden Turm, DDR-Rechenzentrum und Kirchenschiff – zustande kommt und wie, wird sich zeigen und viel offenbaren über den tatsächlich erreichten Stand der Demokratie in Potsdam.
Im gebauten Haus der Demokratie (Leipzig und Berlin haben schon eines) müsste sich idealerweise zeigen, was Demokratie im Herzen einer Bürgerkommune bedeutet: Es müsste ein architektonisch originelles, offenes und zugängliches Gebäude sein, über das letztlich die viel genannte ‚Stadtgesellschaft‘ breit diskutiert und entschieden hat.
In dessen Zentrum müsste das Kommunalparlament sein, umrahmt von den verschiedenen
Räten und Beiräten (Beteiligungsrat, Gestaltungsrat, Klimarat, Digitalrat, Migrantenbeirat, Seniorenbeirat, Behindertenbeirat, Ernährungsrat u.a.), die so nicht nur mit den Bürgern und Politikern, für die sie da sind, sondern endlich auch einmal unter- und miteinander in Austausch kommen.
In früheren Zeiten sprach man noch in verschiedenen Ländern von ‚Volkshäusern‘ mit sozialen und kulturellen Aspekten. Heute könnten sie ein Treffpunkt für das vielfältige ‚bürgerschaftliche Wir‘ werden – neben und zusätzlich zu den Bürgerhäusern und Quartierzentren in den Stadtteilen.
Bürgerkommune als Beteiligungskommune
Die Beteiligungsangebote sind in den letzten zehn Jahren zahlreicher, vielfältiger und transparenter geworden. Kaum einer kennt sie alle (Beteiligungsrat 2020). Die Internetseite der Stadt informiert inzwischen aktuell und übersichtlich. Darüber hinaus wird zusätzlich kostenlos ein Newsletter zugestellt.
Es gibt nicht viele Städte, die seit langem ein funktionierendes Stadtforum (Kleger u.a. 1996) mit über 60 Sitzungen zu allen Themen der wachsenden Stadt (seit 1998) und einen Bürgerhaushalt mit dezentralen Bürgerbudgets hat. Letzterer ist inzwischen nach anfänglichen Schwierigkeiten in der Stadt mit mehr als 17 000 Teilnehmern gut etabliert.
Dazu kommt seit 2013 die strukturierte Bürgerbeteiligung (Jakobs/Kleger 2013) zusammen mit der Verwaltung und einer externen Werkstadt für Beteiligung, welche die schwächeren zivilgesellschaftlichen Vereine und Bewegungen unterstützen soll, sowie ein Beteiligungsrat, der in mehr als 70 Sitzungen weitere Impulse gegeben hat.
Das alles sind Schritte vielfältiger Demokratie, die indes nicht alles abdecken, was in der Stadtgesellschaft in Bewegung ist: an Vereinen, sozialer Bewegung, Protesten, Bürgerbegehren, Werkstätten usw.. Die moderne differenzierte Stadtgesellschaft, insbesondere größerer Städte (die größten sind posteuropäische Megacities!) ist von großer ziviler Komplexität. Keine politische Urbanität kann sie noch einfangen.
Die neuen informellen, eher kleinen (deliberativ-partizipativen) Verfahren schaffen oft nicht nur besser vorbereitete und konsensfähige Lösungen, sondern auch positive Identifikationen mit dem Ort, in dem man lebt. Das betrifft zumeist den eigenen Stadtteil. Der ökologische Umbau von Drewitz zur Gartenstadt mit Bürgerbeteiligung zum Beispiel ist bundesweit ein Vorbild geworden. Viele sind interessiert und engagiert dabei, weil ihnen derart die Gestaltung der eigenen Stadt als Ort der Vertrautheit und Nähe am Herzen liegt.
Diese produktive Verortung im Kleinen in einer großen Welt, die immer komplexer und unübersichtlicher wird, ist lebensweltlich wichtiger geworden in unserer kurzen Lebenszeit. Es gibt aber auch eine objektive Verbindung zwischen der kleinen und der großen Welt in den Städten, die über wirtschaftliche, kulturelle und politische ‚Glokalisierung‘ läuft. Diesbezüglich spielen aktive Städte, ob klein oder groß, weltweit eine werkstattspezifische Rolle, auch in themenspezifischen Allianzen.
Sie machen einen Unterschied, denn sie haben jeweils eine urbane Agenda, um die man demokratisch streiten muss. Städte sind Zufluchtsorte und Orte des produktiven Austauschs zugleich. Sie sind die Zentren der Konflikte und innovativer Problemlösungen in sachlicher, sozialer wie prozeduraler Hinsicht.
Literatur:
Keim, Karl-Dieter (Hg.): Aufbruch der Städte, Berlin 1995
Zwahr, Helmut: Ende einer Selbstzerstörung. Leipzig und die Revolution in der DDR, Göttingen 1993
Hassenpflug, Dieter (Hg.): Die europäische Stadt – Mythos und Wirklichkeit, Münster 2001
Warnecke, Jakob: „Wir können auch anders“, Berlin-Brandenburg 2019
Klusemann, Christian (Hg.): Das andere Potsdam, DDR-Architekturführer 2016
Jakobs/Kleger (Hg.): Auf dem Weg zu einer strukturierten Bürgerbeteiligung 2011-2013, Norderstedt 2013
Kleger u.a.(Hg.): Vom Stadtforum zum Forum der Stadt, Amsterdam 1996
Beteiligungsrat: Potsdam aktiv mitgestalten, 2020
Bildnachweis: Daniel Wetzel (2018)