Nach den Wahlen am 14. März in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg eröffnen sich plötzlich wieder neue politische Szenarien, die wahrscheinlich sind. Die Kanzlerpartei CDU hat in beiden Ländern, in denen sie lange regiert hatte, historische Verluste erlitten.
Droht also die Stimmung gegen die Corona-Politik und die regierende CDU zu kippen, wobei durch die frühzeitige häufige Briefwahl die Maskenaffäre noch nicht voll durchschlagen konnte? Dennoch ist in der Bundesrepublik das alte Thema der Käuflichkeit der Politik(er) wieder in aller Munde, zumal es die Parteienpolitik in den letzten Jahren versäumt hat, für ein transparentes Lobbyregister zu sorgen. Man wundert sich ohnehin, woher die Parlamentarier die Zeit nehmen für so viele Nebentätigkeiten.
Malu Dreyer und Winfried Kretschmann haben jedenfalls mit großem Abstand (fast 10%) gewonnen. In beiden Fällen liegt es mehr an den Personen als an den Parteien. Die SPD hat mit Dreyer geworben „Wir mit Ihr“ und die Grünen mit Kretschmann „Ihr kennt mich ja“, so hatte schon Angela Merkel Wahlkampf gemacht. Beide Ministerpräsidenten sind nahe bei den sogenannten ’normalen Leuten‘ und verkörpern den Common sense auf ihre Weise.
Die SPD ist im eher strukturkonservativen Rheinland-Pfalz (trotz Biontech) als „gut gelaunte Wir-Maschine“ (taz) noch eine Volkspartei, und die Grünen sind im ‚Ländle‘ nicht nur wegen Kretschmann, sondern auch wegen der jahrzehntelangen guten Kommunalarbeit zur Volkspartei geworden. Die Grünen fühlen sich zu recht als Sieger dieser Wahlen, sie verdoppeln ihr Resultat auch in Rheinland-Pfalz auf fast 10%.
Auch die Bundes-SPD, die im 15% – Keller verharrt, hat wieder einmal einen Grund zur Freude aufgrund des Resultats von Frau Dreyer (35,9%), die am Abend des 14.März nur noch strahlte und nun ihre Ampelkoalition, wie angekündigt, fortsetzen kann. In Baden-Württemberg ist ebenfalls eine Ampel möglich. Ist diese Regierungskoalition ein Modell für den Bund? Denn auch die FDP ist gestärkt aus den Wahlen hervorgegangen. Wird deshalb eine Koalition mit der CDU wieder wahrscheinlicher? Müssen gar die optimistischen Grünen, die sich nur noch selber ein Bein stellen können, bangen? Der Bundestagswahlkampf ist wieder offen.
Bekanntermaßen wäre die FDP der Wunschpartner von Laschets CDU, mit der sie in NRW regiert. Und umgekehrt sieht Lindners FDP die größte inhaltliche Schnittmenge mit der CDU. Lindner hatte zuvor die Generalsekretärin Linda Teuteberg mit Kalkül zugunsten von Volker Wissing, dem Wirtschaftsminister von Rheinland-Pfalz und seiner wirtschaftspolitischen Kompetenz ausgetauscht, um im Wahlkampf punkten zu können.
Wissing sagte schon am Wahlabend unmissverständlich, dass für die neue Bundesregierung im Herbst bei der Bewältigung der Coronakrise Herkulesaufgaben bevorstünden. Die Lösung sieht er jedoch keinesfalls auf dem Weg des linken Wahlprogramms der SPD (‚big government‘) oder mit der ausschließlichen Klimapolitik der Grünen (Kretschmann: „Klima, Klima, Klima“). Diese FDP sieht vielmehr parallele Aufgaben zusammen mit einer dynamischen Wachstumspolitik und weniger Staatsdirigismus: Der Staat darf auf die Dauer nicht die Wirtschaft finanzieren, sondern umgekehrt, was natürlich Folgen hat.
Die Linken setzen hauptsächlich auf staatliche Unterstützungen, etwa bei der gemeinwohlorientierten Infrastruktur, die Liberalen auf marktwirtschaftliche Lösungen. Schließt sich das künftig aus? Oder bildet die regierende Christdemokratie (sozial, liberal, konservativ) wieder neue Kompromisse? Hier dürften die politischen Grundpositionen (liberal, sozialdemokratisch, christdemokratisch) bei den offenkundig riesigen Dimensionen der Coronafolgen aufeinanderprallen, wobei die EU und die außenpolitischen Herausforderungen noch nicht einmal angesprochen sind. Die EU soll ja künftig nicht weniger als ‚weltpolitikfähig‘ werden.
Für den Kanzlerkandidaten der SPD Olaf Scholz hat der Wahltag am 14. März gezeigt, dass im Bund eine Regierungsbildung ohne die CDU möglich wird. Tatsächlich besteht kein Automatismus, dass die Christdemokratie wieder stärkste Partei wird. Im Moment ist es nicht ausgeschlossen, dass die Grünen für eine Überraschung sorgen. Dass die SPD stärker wird als die Grünen wäre allerdings eine noch größere Überraschung. Mit der Linken, die zu einer Sekte zu werden droht, werden beide allerdings schon aus außenpolitischen Gründen nicht koalieren können.
Diese Koalitionsspiele zum jetzigen Zeitpunkt sind natürlich Spekulation, sie zeigen aber auch, wie sehr die Koalitionslogik der Parteien die demokratische Willensbildung überlagert. Immerfort wird stattdessen von Inhalten geredet, welche die Bürger ins Spiel bringen sollen. Am Schluss werden aber die Parteien sehen müssen, mit welcher kompromisshaften Schnittmenge sie regieren können – Koalitionslogik statt inhaltlicher Konsistenz. Darauf schaut der Wähler als Realist schon jetzt, zum Verdruss der Parteien.
Wie äußert sich Armin Laschet zum derzeitigen Absturz der Volkspartei CDU? Das wird der nächste wichtige Schachzug im derzeitigen Wahlkampf sein, der nun schnell erfolgen muss, da die ganze Ausrichtung der Christdemokratie davon abhängt. Die „Impulse 2021“ von Laschet/Spahn genügen dafür bei weitem nicht. Laschet muss sich nun als Kanzlerkandidat profilieren, bevor die Grünen mit ihrer Kanzlerkandidatin kommen. Er muss sich zudem vom Wahlprogramm der SPD inhaltlich abgrenzen und gleichzeitig die Vertrauenskrise der CDU stoppen, während das Pandemiekrisenmanagement zugleich immer schwieriger und pannenanfälliger wird.
Schon der 15. März sorgte für den nächsten Tiefschlag, zahlreiche Impftermine für Lehrer und Kitabetreuer müssen verschoben werden. Es muss den Deutschen inzwischen schwerfallen zu sehen, dass sie schon lange nicht mehr Organisations- und Verwaltungsweltmeister sind und dass es ausgerechnet bei der Verwaltung hapert beim ansonsten auch international starken Sozialstaat, der mit dem Kurzarbeitergeld bisher eine Massenarbeitslosigkeit verhindert hat. Ängstlichkeit und Überregulierung ersticken das schnelle Organisationsvermögen. Lasst es stattdessen beispielsweise die Hausärzte und andere Initiativen machen, denn auch ein gutes Organisationsvermögen braucht Freiheit und Mut.
Dazu kommt der Ankündigungseuropameister in Sachen Klima-, Mobilitäts- und Digitalpolitik. Vieles, was als Modernisierungsversprechen für die 20er Jahre ausgegeben wird, ist längst überfällig, nicht nur bei der Digitalisierung, sondern auch bei der Verkehrswende (Schiene first, Förderung des öffentlichen Nahverkehrs, autofreie Innenstädte, kurze Wege, Tempo 130). Braucht es dafür wirklich noch die Grünen?
In dieser Situation beruft die Bundesregierung ausgerechnet den erfolglosen Verkehrsminister Andy Scheuer an die Spitze einer Task Force für das schnellere Impfen. Solche Kleinigkeiten bekommen alle mit und bringen bei vielen Bürgern das Fass des Unmuts zum Überlaufen. Nicht für die Kanzlerin, sie muss ja nicht mehr gewählt werden, ansonsten hätte sie wohl ihr Kabinett mit Altmaier und Spahn schon umgebildet. Ihre Corona-Politik ist mit Weihnachten und Ostern gescheitert.
Sozialliberal war für die moderne Sozialdemokratie schon immer besser und erfolgreicher als sozialkonservativ. Letzteres kann sie getrost der CDU und CSU überlassen. Plötzlich tut sich für Scholz nach dem 14.März wieder eine Machtoption auf – eine Regierungsbildung mit den Grünen und der FDP. Bei dem am 1. März vorgestellten linken Wahlprogramm? Ist das noch kohärent oder gar konsistent? Scholz hat zur Zeit eine für ihn überraschende hanseatische Leichtigkeit, er hat ja auch nichts zu verlieren und kann befreit aufspielen.
Bei deutschen Kanzlerkandidaturen geht es immer auch um ‚Führungserzählungen‘, die bei der Wahl im Herbst eine entscheidende Rolle spielen werden. Hier muss Scholz noch zulegen ebenso wie die Christdemokraten und die Grünen. Die Kanzlerdemokratie zwingt zu dieser Profilierung. Der Wahlkampf wird also nach dem 14.März wieder spannender werden, und das Resultat im September womöglich knapper als erwartet. Es wird ein echter Richtungswahlkampf nicht nur für die Post-Merkel-Ära, sondern geradezu für eine andere Zeit, die neue Antworten erfordert.
Das Versprechen der Ampel wäre ein funktionierender Staat, der für mehr Gerechtigkeit und Klimawandel sorgt und das auf eine Weise, die auch marktwirtschaftliche Verfahren nutzt. Zugegeben: die Spreizung dieser Ampel wäre groß, und die Grünen wären gewissermaßen das ideelle Bindeglied zwischen SPD und FDP, womöglich mit einer Kanzlerin aus Potsdam.
Grün ist die Farbe der Zeit, und eine starke Sozialdemokratie, die für die soziale Bewältigung der Coronafolgen notwendig ist, braucht ein freiheitliches Korrektiv, etwa bei der Sicherheitsgesetzgebung, aber auch für die wirtschaftliche Vernunft. Diese meines Erachtens notwendige Kombination klingt beinahe wie eine politische Utopie, es gibt aber auch eine Nötigung durch krisenhafte Umstände, die es zu erkennen gilt – wahrnehmen, denken, handeln ist die Reihenfolge.
Schon der liberale, demokratische und konstruktive Sozialist Eduard Bernstein, der eigentliche historische Antipode von Lenin in der politischen Theorie, der 1932 starb, wünschte sich diesen Weg als Synthese von Liberalismus und Sozialismus. Damals fehlten die Sozialliberalen. Bei der ersten sozialliberalen Koalition 1969 gab es kluge weitsichtige Liberale, die dies ebenso als Chance für einen modernen sozialen Liberalismus sahen.
Bernstein nannte den demokratischen Sozialismus einen organisierten Liberalismus. Hinter die individuellen Freiheiten führt inzwischen kein Weg mehr zurück. Wie aber kommt man zur sozialen Gerechtigkeit, die eine demokratische Gerechtigkeit werden wird, nach der größten Krise seit dem 2. Weltkrieg im Kontext einer europäischen Mehrfachkrise und weltweiten Krisensteigerung?
Dies wird eine gemeinsame neue konstruktive Politik – und Staatsfähigkeit herausfordern, um es zunächst allgemein zu sagen. Wenn es dann darum geht, dies konkret auszubuchstabieren, wird der heftige demokratische Streit um die besten Lösungen beginnen und alle Seiten werden auf neue Weise kompromissfähig werden müssen angesichts der Herkules-Aufgaben, die anstehen und nicht gleichzeitig gelöst werden können, denn zuviel ist allemal zuviel. Welches die entscheidenden prioritären Fragen sind, werden die Bürger und Bürgerinnen am 26. September entscheiden wie über den Kanzler oder die Kanzlerin, der die Richtlinien der Regierungspolitik bestimmt.
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