Warum soll das nicht gehen? Ohne Parteien geht es doch auch! Warum soll dies für drei Parteien, die auf Länderebene schon miteinander zusammenarbeiten, nicht gehen?
Prinzipiell müssen demokratische Parteien, die sich im Wahlkampf noch gegenseitig mit Vorwürfen und Unterstellungen überzogen haben, danach – wenn das Wahlergebnis vorliegt – im Lichte dieses Ergebnisses (demokratische Verantwortung) und wegen der demokratischen Regierbarkeit aus staatspolitischer Verantwortung, nicht nur miteinander sprechen, sondern auch miteinander regieren können, indem sie einen vorübergehenden Regierungskonsens bilden. Zu nicht mehr und nicht weniger verpflichtet ein Koalitionsvertrag.
Wenn man jetzt all die Differenzpunkte aus den Wahlprogrammen und dem Wahlkampf noch einmal hört, wird man – von außen gesehen – bei vielen nicht ernsthaft sagen können, dass es sich um Knackpunkte für die Koalitionsverhandlungen handelt? Legalisierung von Cannabis? Das wäre etwas fürs Kabarett und mag noch ein Problem für manche konservative SPD-Wähler sein. Tempolimit? Das es inzwischen fast überall gibt, nur nicht in Deutschland. Bildung und Digitalisierung? Hier wird man sich ohnehin verständigen müssen. Auch beim Soli, der bald ausläuft. Bei der Schuldenbremse ist man ebenfalls von der Verfassung her gebunden. Schließlich bleiben noch folgende Knackpunkte:
- Steuern
- Mindestlohn
- Sozialpolitik (Kindergrundsicherung u.a.)
- Klimapolitik
Bei den wirklich schwierigen Themen spielt zudem immer die Grundsatzfrage hinein:
- mehr oder weniger staatliche Vorgaben.
- schließlich ist auch die Staats- und Regierungsorganisation ein relevantes Thema sowie
- das entsprechende Personal, mit dem die Parteien bestimmte Ressorts regieren wollen.
Letzteres ist jetzt nicht aktuell, aber bei Koalitionsverhandlungen stets nie trivial. Siehe dazu jetzt auch die gleichzeitig laufenden Verhandlungen in Mecklenburg-Vorpommern als Anschauungsbeispiel, wo Ministerpräsidentin Schwesig die Linke der CDU, mit der sie vorher regiert hatte und die bei den Wahlen besser abgeschnitten hat, genau aus diesen Gründen vorgezogen hat. Klima und Chemie in einem anderen Sinne müssen beim gemeinsamen Regieren stimmen.
Bei den obigen Knackpunkten können wir des Weiteren den Mindestlohn von 12 Euro streichen. Denn erstens ist diese Forderung im europaweiten Vergleich nicht üppig und zweitens hat Scholz den Wahlkampf mit zwei prägnanten Themen gewonnen: Respekt und Mindestlohn, den er für 10 Millionen Arbeitnehmer realisieren will. Der Kanzler wird sich diese Forderung nicht nehmen lassen und hier zurecht auch keine Kompromisse eingehen. Sonst wäre seine Wahlkampagne als hohler Begriffszauber entlarvt, wie dies schon so oft mit der Gerechtigkeit und der Solidarität geschehen ist.
Bei allen finanz- und sozialpolitischen Themen hingegen sind Kompromisse, Abstriche und Innovationen möglich, obwohl natürlich die SPD als stärkste Partei auch diesbezüglich ihre Handschrift erkennbar hinterlassen möchte und vom Wahlergebnis her dazu auch berechtigt ist. Dazu kommt, dass der Koalitionsvertrag in der Partei einem Mitgliederentscheid unterliegen wird; ebenso bei den Grünen, was gewisse Risiken birgt.
Sie sind in die Regierung für eine Klimaregierung eingetreten. In ihrer neuen Bundestagsfraktion, die grösser und jünger geworden ist, sind inzwischen Klimaaktivisten, die sich eine Koalition mit der Union gar nicht mehr vorstellen können. Sie fordern endlich die notwendigen konkreten Maßnahmen, um das 1,5 Grad in der Klimapolitik einhalten zu können. Einen neuen Kohlekompromiss werden sie nicht noch einmal verhandeln. In der Gesellschaftspolitik sind sie dagegen liberal und offen ähnlich wie die (jungen) Liberalen.
Die Migrations-, Europa- und Außenpolitik ist allerdings noch nicht angesprochen worden. Diesbezüglich ist vieles offen und möglicherweise im konkreten Einzelfall auch sehr kontrovers. Dies bleibt ein Minenfeld für die Koalition auf dem Weg des Regierens, dem heute kaum vorzubeugen ist. Zumindest in der Europapolitik müssen jedoch schon bald Pflöcke eingeschlagen werden, obwohl Frankreich erst im April seinen neuen Staatspräsidenten wählt. Das politische Feld dort ist derzeit zersplittert und künftige Entwicklungen sind nur schwer absehbar.
Bleiben schließlich als echte Knackpunkte noch:
- die Steuererhöhungen, Vermögenssteuer, Erbschaftssteuern und die
- konkreten Maßnahmen der Klimapolitik.
Die Sozialpolitik könnte man dagegen gemeinsam neu ordnen, einschließlich einer Kindergrundsicherung. Dies wäre sogar eine Chance, zumindest für eine bessere Übersichtlichkeit zu sorgen. Zudem soll ein Bürgergeld Hartz lV ablösen. Soweit eine kurze Auslegeordnung vor den Koalitionsverhandlungen: Eine grüne sozialliberale Koalition, die vor den Wahlen noch undenkbar schien, ist im Entstehen, und zwar durch einen bestimmten deliberativen Prozess.
Man hat gelernt vom gescheiterten Experiment einer Jamaika-Koalition 2017, die von der Bevölkerung gewünscht war. Eine weitere Jamaika-Koalition kommt wegen des gegenwärtigen Zustandes der Union ebenso wenig in Frage wie eine nochmalige Große Koalition. Man steht also mit der Ampelkoalition in der Verantwortung und unter dem Erfolgsdruck, zügig bis spätestens Ende Jahr eine neue Regierung zustande zu bringen. Dafür ist ein bestimmtes Procedere erforderlich, das über den konkreten Fall hinaus lehrreich ist.
Entscheidend dabei ist die Erinnerung an wirkliche Gespräche im Unterschied zum medialen Geschwätz der Profilierung und Inszenierung. Oder anders gesagt: handlungsentlastete, ergebnisoffene, vertrauliche ‚Gespräche ‚ sind etwas fundamental anderes als ‚Arenen‘, lateinisch: Kampfplätze, ob auf Marktplätzen, digital oder analog, im TV, in Duellen oder Triellen usw.
In diesen Arenen dürfen Politiker heute nicht fehlen und müssen gut ‚performen‘: man muss sich unter den Augen der Öffentlichkeit beweisen und gewinnen. Daran kommt niemand vorbei. Die Gelegenheiten und Formate dafür haben sich enorm vervielfältigt, während das vertrauliche Gespräch mit Zeit für Reflexion selten geworden ist. Aktivismus ist in der Politik ohnehin ein Dauerzustand, an Aktivitäten und Handlungsbedarfen fehlt es wahrlich nicht, wohl aber an Zeit zum Nachdenken und persönlichen Austausch.
Sondierungen und Verhandlungen sind nicht dasselbe. Vor den Sondierungen gab es diesmal zudem Gespräche zwischen den Parteien in einem Vertrauensraum, der nicht mit der größeren Medienöffentlichkeit verbunden war. Letztere stocherte vielmehr im Nebel herum, solange nicht Berichte „durchgestochen“ wurden.
Die drei hauptsächlichen Vorverhandler, die Generalsekretäre der Parteien, sind erfahrene Leute. Volker Wissing, der Generalsekretär der FDP, Jurist, ist stellvertretender Ministerpräsident und Wirtschaftsminister einer Ampelkoalition in Rheinland-Pfalz; Michael Kellner, Bundesgeschäftsführer der Grünen, Politikwissenschaftler aus Gera in Thüringen, der in Potsdam studiert hat, war schon 2017 dabei; Lars Klingbeil, Generalsekretär der SPD, hat aus der letzten Wahlniederlage gelernt und früh mit dem erfolgreichen Wahlkampf für Scholz begonnen. Ihre Bilanz liegt am 15. Oktober in Form eines 12seitigen Papiers vor, welches den Parteien die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen empfiehlt, was ein erster Durchbruch ist.
Jede Partei hat erhalten, was sie unbedingt wollte. Klar gibt es einen Mindestlohn, und es gibt keine Steuererhöhungen (die FDP hat sich durchgesetzt) sowie einen frühzeitigen Ausstieg aus der Kohleverstromung (die Grünen haben sich durchgesetzt). Scholz spricht bei der Pressekonferenz von „Fortschritt auf den verschiedensten Feldern“ und dem „größten industriellen Modernisierungsprojekt seit 100 Jahren“. Er führt ruhig, nüchtern und zurückhaltend die neue Fortschrittskoalition an, die einen durchweg optimistischen Eindruck vermittelt. Fortschritt verbindet die drei Parteien, wovon die Sozialdemokratie, die alte Fortschrittspartei, ausgeht. Sie spricht schon von einer Regierung des Fortschritts.
Beim Papier geht es nicht um den kleinsten gemeinsamen Nenner und Formelkompromisse, sondern um eine gemeinsame Erneuerung des Landes, mithin um ein Jahrzehnt des Fortschritts, und zwar sowohl wirtschaftlich, gesellschaftspolitisch wie bezüglich des Staates bzw. des Regierens. Das ist neu, und man darf auf die Richtungsentscheidungen der Fortschritte gespannt sein, gerade auch, was das Regieren „im Dialog mit dem Bürger“ (Baerbock)anbelangt.
Alle Parteien haben viel in das Papier eingebracht, aber noch nicht viel Konkretes, was zum Beispiel die Finanzierungsfragen angeht. Von Mietmoratorium, Vermögenssteuer, Rentenfinanzierung, Tempolimit steht nichts im Papier. Vieles wird in den Koalitionsverhandlungen noch zu vertiefen sein, anderes ist bereits vom Tisch (das Tempolimit zum Beispiel, Deutschland bleibt ein Land der Autofahrer, was für viele beruhigend ist).
Die Liberalen loben ausführlich und auffällig die finanziellen Leitplanken, die Entbürokratisierung, den sozialökologischen Ordnungsrahmen, den aufstiegsorientierten Sozialstaat und den Liberalisierungsschub für die Individuen. Es hört sich wie eine liberale Fortschrittsfeier an, denn das Land hatte „lange Zeit keine vergleichbare Modernisierungschance“ (Lindner).
Die Eigen-Dynamik der Vor-Sondierungsgespräche hat zweifelsohne eine positive Dynamik der Erwartungen erzeugt, dem nun die Parteien in einem nächsten Schritt und schließlich das gemeinsame Regieren genügen müssen.