Die europapolitische Grundsatzrede von Bundeskanzler Scholz in Prag am 29. August in der Karls Universität war die verspätete Antwort auf die Rede von Staatspräsident Macron „Initiative für Europa“ an der altehrwürdigen Sorbonne in Paris am 26. September 2017 (22 Seiten, wer hat sie gelesen?).
Beides sind nicht nur europäische Hauptstädte, sondern Hauptorte der europäischen Geistesgeschichte. Beide Reden waren nicht an Politiker gerichtet, sondern vielmehr an die Menschen in Europa, an ganz Europa, aber vor allem an die jungen Leute, die mit EU-Europa aufgewachsen sind. Tschechien ist seit 2014 Mitglied und hat seit dem 1. Juli die EU-Ratspräsidentschaft inne.
„Wann, wenn nicht jetzt“, war das Motto der Prager Studenten in der ’samtenen Revolution‘ 1989. Das Motto passt auch zur Situation von Scholz’ Rede, in der es eine historisch bespiellose europäische Solidarität gibt in der Corona- Krise wie in der Antwort auf Russlands Krieg gegen die Ukraine. Diese ‚tätige Solidarität‘ (Robert Schuman) steht in diesem Winter vor einem Härtetest sondergleichen und ist zugleich der Anknüpfungspunkt für Scholz Vorschläge einer Reform Europas, die ebenso vage wie selbstverständlich und schwierig klingen (auf 25 Seiten).
Nicht zufällig spricht er wie Macron davon, dass Europa souveräner und unabhängiger werden muss. Er spricht aber auch von einem „weltpolitikfähigen“ (Juncker) und „geopolitisch geeinten“ Europa angesichts der Putinschen imperialen Aggression, das demgegenüber wieder zur glaubwürdigen ‚Abschreckung‘ fähig sein muss. Die vier zentralen Punkte, die selbstredend auch Konfliktherde bilden, sind die folgenden:
1. Die erweiterte Union muss handlungsfähig bleiben durch mehr Mehrheitsentscheide.
2. Die Union muss souveräner werden, etwa im Verteidigungs- und Technologiebereich.
3. Die Union muss geschlossener werden, zum Beispiel in der Finanz- und Migrationspolitik und
4. Die Union muss intern ihre Rechtsstaatlichkeit gemäß der EU-Grundrechtecharta, die man als Kernelement einer europäischen Verfassung ansehen kann, auch wirklich durchsetzen.
Bei der Erweiterung, die bisher meist institutionelle Reformen nach sich gezogen hatte, geht es darum, endlich die Versprechen gegenüber den Westbalkanstaaten zu erfüllen, die seit vielen Jahren im Kandidatenstatus verharren. Scholz spricht aber auch von der Ukraine, Moldawien, ja sogar von Georgien.
Damit käme die EU bald auf mehr als 30 Staaten, was sicherlich eine interne Differenzierung von Gruppen und Entscheidungsstrukturen erfordert. Aber wie? Das wird schwierig und entscheidend. Von der Reform der EU-Verträge spricht Scholz nicht. Der Zwang zum Einstimmigkeitsprinzip jedoch muss, auch zum Nachteil Deutschlands, fallen – bei allen Kompromissen, die hier möglich und nötig sind. Scholz plädiert für Pragmatismus anstelle von Ideologie, der allerdings auch in vielerlei Hinsicht (verteidigungs- , finanz- , energie- und migrationspolitisch ) unter Zeitdruck gerät, was nicht immer der Klugheit förderlich ist.
Damit bewegt sich dann auch tatsächlich Europas Mitte mehr ostwärts, wie ein bekannter Buchtitel des Osteuropahistorikers Karl Schlögel lautete (München 2002), der auch das Buch „Entscheidung in Kiew“ (2015) geschrieben hatte, das früh die großen blinden Flecken im verengten westlichen Blick nach Osten mit der großen Ukraine als terra incognita und der Fixierung auf Russland kritisch angesprochen hatte.
Scholz geht in Prag auf Osteuropa zu. Das ist auch dringend nötig, denn eine starke deutsch-französische Achse allein wird es nicht mehr richten. Das ist vielleicht das wichtigste Zeichen von Scholz’ Rede und zugleich die schwierigste Aufgabe politischer Verständigung und Kompromissbildung: Osteuropäische Stimmen müssen endlich mehr Gehör und Gewicht bekommen, was nach der Osterweiterung versäumt worden ist.
„Souveränes Europa“ war das Hauptwort in Macrons Rede 2017. Seitdem wird unaufhörlich davon gesprochen, dass Europa souveräner werden müsse. Nur: in welchen Bereichen? Und nach welcher Taktvorgabe? Der französischen oder der deutschen? Etwa bei der Versorgungssicherheit. Macron setzt in seinem Modernisierungsjahrzehnt auf Atomkraft, ganz anders als die deutsche Fortschrittsregierung. Deutschland ist hier in der Minderheit in Europa.
Die europäische Verteidigung, auch unabhängig von den USA, war zudem schon immer ein spezielles französisches Thema, oft vollmundig. Dabei kann Europa gerade jetzt heilfroh sein, dass der „nette Herr Biden“ (Scholz) im Weißen Haus sitzt. Die Zeit allein schon bei der begrenzten verteidigungspolitischen Zeitenwende eilt, soll sie glaubwürdig und wirksam sein. Funktioniert wenigstens der Ringtausch zwischen Tschechien und Deutschland? Scholz schlägt immerhin eine gemeinsame Luftabwehr nach israelischem Vorbild vor.
Neu und zentral kam bei Macron 2017 hinzu: Die Wirtschaftsregierung, etwa ein europäischer Finanzminister. Hier liegen ebenso große inhaltliche Differenzen zu Deutschland, weshalb wohl auch die produktiven Reaktionen auf seine Rede ausblieben.
Die Differenzen im Bereich Finanzpolitik, sprich ’schuldenfinanzierte Transferunion‘, sind selbst innerhalb Deutschlands groß und brisant. Sie beschäftigen auch das Bundesverfassungsgericht. Der Pragmatiker Scholz ist für gemeinsame europäische Schulden offen. Die Weiterentwicklung der Schuldenregeln wird ein unumgängliches gemeinsames Thema bleiben. Die spaltenden Differenzen im Bereich der Migrationspolitik kommen hinzu und lassen sich seit Jahren nur schwer beilegen.
Priorität haben im Moment jedoch die gemeinsamen Bereiche: Sanktionspolitik
und Menschenrechte. Wichtig bleibt dabei, dass die nationalstaatlichen Regierungen, die unter Druck geraten, die sozialen Probleme nicht gegen die Solidarität mit der Ukraine ausspielen lassen. Ansonsten hat Putin gewonnen.
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