Schlüsseljahr 2027?

  1. Home
  2. /
  3. Blog
  4. /
  5. Schlüsseljahr 2027?

Die EU-Länder wollen bis 2030 gegen einen russischen Angriff verteidigungsfähig sein. Dafür unternehmen sie hastig riesige Rüstungsanstrengungen. Der polnische Ministerpräsident Tusk will dafür schon 2027 vorbereitet sein. Polen unternimmt seit je noch einmal besondere Anstrengungen – innen- wie außenpolitisch entlang seiner stark befestigten Grenze zu Belarus, worüber der deutsche Innenminister nur staunen konnte.

Polen ist nicht nur kompromissloser Frontstaat im Krieg gegen Russland, Tusk kann sich bei seiner Einschätzung ebenso auf den neuen Nato-Oberbefehlshaber Grynkewich, den Nachfolger von Cavioli, berufen. Sie befürchten, ohne falsche Panik, dass die strategische Achse Russland/ China, die sich in den letzten Jahren gefestigt hat, so weit erstarkt, dass sie eine koordinierte Aktion gegen den gemeinsamen Hauptfeind USA/Nato suchen könnte.

Wird also 2027 zu einem strategischen Schlüsseljahr, auf das man sich einstellen muss? Und was bedeutet das für Europa? (siehe NZZ, 22. Juli 2025. S. 6).

2027 ist die kürzeste Frist, die am häufigsten von Fachleuten genannt wird. Der deutsche Verteidigungsminister Pistorius rechnet mit 2029. Die EU-Staaten, nicht nur Deutschland, auch Großbritannien, Frankreich und andere investieren in einem nie gekannten Ausmaß in die Verteidigung und gemeinsame Rüstung, um 2030 einen russischen Angriff abwehren zu können. Das ist Programm.

Russland baut derweil seine Streitkräfte aus. Auch diesbezüglich gibt es viele Spekulationen, vor allem darüber, was die russische Wirtschaft noch vermag. Rüstet sich Russland zu Tode? Kann man die heutige Situation vergleichen mit der Situation Reagan /Gorbatschow am Ende des Kalten Krieges? 

Was dabei ist Hoffnung, was reale Situationsbeschreibung? Klar ist, dass die Verkürzung von Trumps Ultimatum von 50 auf 10 bis 12 Tagen am 28. Juli zur Beendigung des Krieges mit der Androhung von hohen Strafzöllen eine Wirkung haben wird. Eskalierend oder deeskalierend? Ist die Frage.

Putins Sommeroffensive kommt derweil Tag für Tag voran, neue Verbände werden hingeführt und gebildet, die Verluste im Drohnenkrieg sind enorm, die Entscheidungsschlacht in Pokrowsk mit ehemals 60.000 Einwohnern steht Ende Juli unmittelbar bevor. Mehr als ein Jahr hat das ukrainische Militär standgehalten, nun wird die (Geister-) Stadt von drei Seiten aus eingekesselt: Kiew muss sich entscheiden: Rückzug oder verlustreiche Abwehr (siehe dazu den Blog vom 18. Juli).

Hegseth in Singapur

Am 31.5. warnt der amerikanische Verteidigungsminister Pete Hegseth vor der Bedrohung durch China: „Wir bereiten uns auf einen Krieg vor“. Er zeichnet ein insgesamt düsteres Bild in seiner Grundsatzrede zur Asienstrategie – versöhnlich mit Europa, konfrontativ mit China. Das Jahr 2027 wird explizit erwähnt: bis dahin soll nach einem Befehl von Xi die chinesische Armee einmarschbereit in Taiwan, das über eine starke und geübte Verteidigungsarmee verfügt, sein.

China ist verärgert über Hegseths Äußerungen und reagiert sofort. Regierungsoffiziell wird von einem „Spiel mit dem Feuer“ gesprochen und von „der Mentalität des Kalten Krieges, die für eine Blockkonfrontation wirbt“.

Die USA seinerseits sieht eine „Veränderung des Mächtegleichgewichts im Indopazifik“ und beobachtet „Landnahmen“ und „Verdrängung von Nachbarn“. Siehe auch den Blog Friedensstifter ohne Frieden vom 27. November 2023.

Wir erinnern uns an die eindringlichen Versuche Selenskis, den „Friedensstifter“ China auf seine Seite zu ziehen. Inzwischen machte China zunehmend deutlich, dass es eine russische Niederlage nicht will (Weng in Brüssel). Es profitiert vielmehr vom Krieg in der Ukraine in mehrfacher Hinsicht.

Vico in Neapel

Giambattista Vico (1668-1744), ein Vater der modernen Rechtsgeschichte, hat in der ‚Scienza Nuova‘ (1725) darauf hingewiesen, dass der Anstoß zu Verrechtlichung und Verregelung von den Schwachen ausgeht. Die Starken dagegen haben kein Interesse daran, dass ihre eigene Machtwillkür gebändigt wird.

Möglicherweise stehen wir wieder, nach dem Ende der Pax Americana, in einer bipolaren (nicht multipolaren) internationalen Ordnung: an einem Ende die USA und ihre Vasallen, am anderen Ende China und seine Vasallen. 

Und Europa droht dazwischen zerrieben zu werden. „Europäische strategische Souveränität“ bleibt ein leeres Wort. Der französische Premierminister Bayrou sprach nach dem „schmerzhaften Kompromiss“ im Zollstreit mit Trump von der „Unterwerfung eines Bündnisses freier Völker“. Zuvor wurden die Probleme beim Xi-Gipfel lediglich weggelächelt – von allen dreien: von der Leyen, Costa und Xi in der Mitte.

Neuer globaler Krieg

Dass die strategische Zusammenarbeit von Russland und China Eskalationspotenzial in sich birgt, steht außer Frage, auch wenn wir über die ‚interne Blackbox‘ nichts Genaueres wissen. Auch wird sie im Allgemeinen wohl eher unterschätzt als überschätzt, indem lediglich die geringer werdende Rolle von Russland betont wird. Also wird mit möglichen Szenarien spekuliert. 

Dabei sind es vor allem verdeckte Aktionen, auf die man sich einzustellen hat, wie etwa die „grünen Männchen auf der Krim“ (NZZ, a.a.O.). Analoge Operationen sind auch anderswo denkbar neben dem inzwischen bekannten „Narwa-Szenario“, der größtenteils russischsprachigen estnischen Stadt. Geheim ist dies schon lange nicht mehr. 

Weniger bekannt sind Spitzbergen oder Moldau als brisante Fälle, auf welche eine schwierige „verhältnismäßige Antwort“ der Nato gefunden werden müsste, bei der es (wie schon in der Vergangenheit), die Nerven zu behalten gilt. Krisenkommunikation auf allen Ebenen und bei vielen Personen ist dann gefragt und nicht simulierte Aufregung oder moralische Empörung.

Die umfangreiche Analyse von Mäder/Häsler ist auf die „autoritäre Achse Moskau-Peking“ und das „Extremszenario“ eines neuen globalen Krieges fokussiert: „Die geopolitischen Verflechtungen der verschiedenen Konflikte bestehen bereits heute, eine Amalgamierung zu einem einzigen, globalen Krieg, ist deshalb eine der möglichen Lageentwicklungen.“ (NZZ, a. a. O.). 

Für Europa ist das eurasische Zwei-Fronten-Szenario nicht einmal das gefährlichste. Gefährlicher wird hier die drohende Niederlage der Ukraine und die Bedrohung europäischer Staaten mit weitreichenden Waffen, etwa das, mit dem der frühere Staatschef Medwedew ständig droht, neulich wieder als Reaktion auf Trumps Ultimatum an die Adresse von Putin.

Weder Medwedew als Vertreter der Falken noch den sprunghaften Trump sollte man nicht unterschätzen. Überraschungen werden nicht ausbleiben.

Die militärisch-politische Situation Ende Juli ist der wohl gewichtigste unbekannte Faktor einer möglichen Eskalation diesen Sommer. Er hängt ab von einem militärischen Durchbruch Russlands und dem Verhalten des amerikanischen Präsidenten.

Die bedeutungsvolle Hauptthese von Mäder/ Häsler lautet: „Russland hat den Westen längst in einen finanziellen und mentalen Abnützungskrieg verwickelt. Gleichzeitig positioniert sich China als Alternative zu den USA, die sich unter Donald Trump vom Freihandel und von den Werten der liberalen Demokratie zurückziehen.“ (a.a.O.)

Auf dem Spiel steht für die NZZ-Redaktoren (historisch nicht das erste Mal, siehe die Festschrift „Liberalismus – nach wie vor“, 1979) explizit die „Widerstandskraft der liberalen Demokratie“, und zwar als geistige wie militärische Mobilisierung. Das hat Tradition und ist nicht modisch aufgesetzt.

Auf Krieg eingestellt

Die militärisch kompetenten Autoren sprechen bereits von einem „moskaufreundlichen Defaitismus“ bei rechten und linken Populisten in europäischen Ländern. Für sie ist „Russland auf Krieg eingestellt“, so die fixe These. Eine Niederlage in der Ukraine ist für den russischen Imperialismus nicht vorgesehen, entsprechend hat Putin seine Kriegsziele neulich bekräftigt und mit einer bisher beispiellosen Terrorwelle aus der Luft unterstrichen.

Die objektiven Zahlen der letzten Monate sprechen eine deutliche Sprache. Wie der „enttäuschte“ Trump darauf nun reagieren wird, ist der nächste „spannende Schritt“ (einmal mehr).

Wird dies auch die Bereitschaft der beiden autokratischen Regime Russland und China erhöhen, miteinander zu kooperieren? Ist daher ein koordinierter Angriff auf Taiwan und einen Nato-Staat das „extreme Szenario“, auf das man sich vorbereiten muss? Und was heißt das?

Das sind die großen spekulativen Fragen, die es in sich haben – militärisch, für den kleinen Mann wie die politischen Führungen. Hält man sie nicht für gänzlich abwegig, so muss sich auch Europa auf solch „extreme Szenarien“ vorbereiten, was der mahnende Sinn von Mädlers/Häslers Text ist.

Allerdings sind Szenarien keine zuverlässigen Prognosen. Sie arbeiten mit Unterstellungen und Annahmen, die nicht unwahrscheinlich sind, aber keinerlei Zwangsläufigkeit beinhalten. Dafür wissen wir viel zu wenig. Der Common Sense kann deshalb nach Belieben die Realitäten übertreiben oder abwiegeln. Beides empfiehlt sich nicht. 

Szenarien dienen in jedem Fall als mehr oder weniger plausible Argumente bei der Vorbereitung von Kriegen. Wir müssen dabei aufpassen, nicht in ein rein militärisches Kriegsdenken abzurutschen, von einem Extrem ins andere – bei allen Hyperaktivitäten, die politisch im Gange sind, und simulierter Alarmstimmung unter dem Druck von Fristen.

Bildnachweis: IMAGO / Anadolu Agency