Schicksalswahl in Brandenburg 2024?

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Wenn Ministerpräsident Dietmar Woidke von „Schicksalswahl“ sprach, bezog er sich auf seine Wiederwahl nach 11 Jahren Regierungstätigkeit, zuletzt mit der sogenannten Kenia-Koalition.

Das heißt, mit den Koalitionspartnern Grün und Schwarz, was eine durchaus ungewöhnliche und schwierige Koalition ist, genauso wie Rot-Grün-Gelb im Bund. Dreier-Koalitionen, die regieren, gibt es noch nicht lange in der Bundesrepublik: vor ‚Kenia war Jamaika‘, welches die FDP im Bund mit Merkel ablehnte. Die Ampel-Koalition war die erste gewichtige Dreier-Koalition im 21. Jahrhundert. Das Experiment Fortschritt geht weiter.

„Lieber nicht regieren als schlecht“, heißt seitdem ein geflügeltes Wort. Die größte Angst indessen ist im bundesrepublikanischen Parteienstaat die „Unregierbarkeit“, vor allem für die staatstragenden Kanzlerparteien CDU und SPD. Über demokratisches Regieren wird weniger nachgedacht, was mit einer tief sitzenden Demophobie einhergeht. Eher peilt man wieder eine geläuterte Große Koalition an. In diesem Korsett bewegt sich die (Partei-)Politik, und leider auch das politische Denken.

Bei den letzten Wahlen konnte Woidke dank seines großen persönlichen Einsatzes noch einmal abwehren, dass die AfD stärkste Kraft in diesem traditionell starken SPD-Land Brandenburg werden konnte. Sie regiert hier ununterbrochen seit Manfred Stolpe 1990 bis 2002, dem Gründungs- und Landesvater, und Matthias Platzeck 2002 bis 2013, der sein Zögling war. Im Westen kann nur Bremen gleichziehen.

Von Schicksalswahl muss Woidke 2024 auch deshalb sprechen, weil die AfD mit ihrem radikalen Spitzenmann Berndt zwei Wochen vor der Wahl noch mit vier Punkten vor der SPD liegt, obwohl diese seit Herbst 2023 gewaltig aufgeholt hatte.

Eine große Überraschung sodann ist die Nachricht 9 Tage vor der Wahl: Die SPD liegt nur noch einen Punkt hinter der AfD (26 % zu 27 %), ein paar Tage später ist der Abstand schon wieder größer geworden (3 Punkte). Beide Umfragen, die eine Fehlertoleranz von 3 % haben, motivieren noch ein letztes Mal. Die SPD agiert zusehends verzweifelter: „Wenn Glatze, dann Woidke“. Sie setzt voll auf Woidke, „unseren Ministerpräsidenten“, denn „es geht um Brandenburg“. Der Plakatspruch „Wer Woidke will, wählt SPD“, trifft ins Schwarze.

Umfragen, die sich jagen, sind das eine, motivierender Wahlkampf das andere. Der bodenständige Woidke aus Forst setzt ganz auf Sieg! Auch bei einem knappen Erfolg der AfD, von dem auszugehen war, will er hinschmeißen, wenngleich man argumentieren kann und muss, dass er mit großem Abstand die Direktwahl als Ministerpräsident gewinnen würde. Das ist zweifellos ein großes demokratisches Verdienst, aus dem politische Verpflichtungen erwachsen können.

Der Stand am 15. September lautet: 55 % für Woidke, Redmann 11 %, 7 % Berndt und Crumbach (BSW) 1 %. 73 Prozent der Wahlberechtigten haben ihre Entscheidung schon gefällt, 27 Prozent noch nicht. Die Briefwahl, von der immer mehr Gebrauch machen, begann schon früher. Ein Drittel hat sie beantragt. 100.000 Jugendliche ab 16 Jahren sind erstmals wahlberechtigt.

Dieser Befund setzt alle Wahlkämpfer bis zuletzt noch einmal unter Druck, alles zu geben. Es kommt jetzt buchstäblich auf jede Stimme an! Aus der bloßen Redensart ist Ernst geworden. „ES IST NICHT EGAL!“ (Brandenburg zeigt Haltung!), die Bewegung, die auffordert, wählen zu gehen und demokratische Parteien zu wählen, war noch nie so breit und sichtbar im Land.

Woidke und die zivilgesellschaftliche Bewegung gegen die Rechtsradikalisierung der AfD, die im Herbst 2023 noch über 30 % lag, ist Motor dieses überraschenden Aufholprozesses. Viele schöpfen mit ihm noch einmal Hoffnung. Das sind die Kräfte, die mobilisieren.

Es ist nicht einfach naiver ‚Optimismus‘, der davon überzeugt ist, dass es (immer) besser wird, zumal die Regierungskonstellation nach der Wahl ohnehin schwierig werden könnte, ähnlich, wenn auch auf andere Weise, wie in Sachsen und Thüringen.

Schließlich kann man auch von einer Schicksalswahl für die SPD und die regierende Ampelkoalition sprechen, nach den desaströs verlorenen Wahlen in Sachsen und Thüringen. Sie sind in der Bevölkerung auf einem Tiefpunkt der Popularität angelangt und viele verlangen Neuwahlen, was freilich noch verheerendere Folgen für die Ampelparteien hätte. Das schweißt zusammen, bis zum nächsten Herbst durchzuhalten. Der Haushalt 2025 ist noch einmal zustande gekommen.

Eine nochmalige Niederlage in Brandenburg wird Konsequenzen für die SPD haben, auf Bundes- wie Landesebene, während die CDU bundesweit derzeit auf ein Rekordhoch von über 30 % steigt. Merz hat bereits vor dem 22. September seine Kanzlerkandidatur bekannt gegeben.

Woidke dagegen führt bewusst Wahlkampf ohne den unbeliebten Kanzler Scholz, der Potsdam im Bundestag vertritt. Die CDU tritt mit dem Spitzenpersonal aus Berlin auf, sie nutzt den bundespolitischen Rückenwind und kommt trotzdem nicht gegen Woidke an, der Jan Redmann von der CDU als Spitzenkandidat weit abgehängt hat. Zudem unterstützen prominente CDU-Politiker Woidke öffentlichkeitswirksam.

Rita Süssmuth zum Beispiel oder der letzte Innenminister der DDR und erste Fraktionsvorsitzende der CDU im Brandenburger Landtag Diestel (der 2013 ausgetreten ist). Er spottet über den 44-jährigen Spitzenmann Jan Redmann: „Ich könnte keinen Jüngling wählen, der besoffen Roller fährt und sich dabei erwischen lässt. Auch die Ausreden dieses jungen Mannes zu diesem Vorfall sind für einen künftigen Ministerpräsidenten despektierlich“ (MAZ, 12.9.).

Am 21.9. treten Merz und Redmann zum Wahlkampfabschluss gemeinsam auf dem Bassinplatz auf: „Ampel aus. Vernunft ein!“; „Märkische Grenzpolizei jetzt!“; „Dr. Jan Redmann. Ihr Ministerpräsident“ heißt es dort auf riesigen Plakaten.

Auch Ministerpräsident Kretschmer aus Sachsen unterstützt Woidke. Zur Gründung einer Medizinischen Fakultät in Cottbus sagt er: „Was ist das für ein Zukunftsanker, der da unter Dietmar Woidke in den Lausitzer Sand geschlagen wird!“ (MAZ, 14./15. Sept.). Diese Ärzte-Ausbildung wie überhaupt die enge Zusammenarbeit in der Lausitz strahlt auf Sachsen aus. Dort verändert sich gerade viel. Siehe auch „Lausitz Magazin“, Zeit für Veränderungen, Ausgabe 30, Sommer 2024.

Die Grünen mit ihrem schwer verständlichen Motto „MehrMuteinander“ holen Baerbock, die in Potsdam wohnt, ins Land, in dem sie in der Breite schlecht verankert sind. Ihr Spitzenkandidat Benjamin Raschke: „Wie die Debatte um das Heizungsgesetz geführt worden ist, hat uns 15 Jahre Aufbauarbeit im ländlichen Raum auf einen Schlag zunichtegemacht“ (tagesschau.de, 16.9.).

Die Grünen, welche mit den Ministern Vogel (Umwelt) und der Ärztin Nonnemacher (Gesundheit) verdienstvoll an der Regierung beteiligt waren, müssen um den Einzug in den Landtag zittern. Sie bauen auf das Direktmandat von Marie Schäffer, Geschäftsführerin der Landtagsfraktion, in der Potsdamer Innenstadt, welches von einer massiven Campact-Kampagne unterstützt wird: „Strategisch wählen, um die AfD auszubremsen“, heißt es auf Instagram.

Dort trifft sie auf die Kultur- und Bildungsministerin Manja Schüle, welche die SPD unverständlicherweise auf Platz 32 ihrer Landesliste gesetzt hat. Beide Politikerinnen haben bereits bewiesen, was sie können. Die Parteien, das Parlament und das Land brauchen sie. Es gibt nicht genug davon.

Die Liberalen dagegen werden ziemlich sicher den Einzug in den Landtag verpassen, wie schon das letzte Mal, obwohl sie als kleines Grüppchen einen langen und fleißigen Wahlkampf geführt haben, der von Finanzminister Lindner in Potsdam und Cottbus unterstützt wurde. Es hilft aber der FDP auch der pfiffige Slogan von Landtagskandidat Braun nicht mehr: „Die letzte Proteststimme der Mitte“. Sie kommt zu spät, zumal die liberale Mitte in Ostdeutschland nie richtig Fuß fassen konnte.

Auch ‚Die Linke‘, die vom BSW ausgezehrt worden ist, wird es wohl nicht schaffen, trotz „Robin Hood“ aus Eberswalde mit Parolen wie „Leben ohne Not“ und „Wohnen ohne Sorgen“ – zu schön, um wahr zu sein. „Bauernland in Bauernhand“, das erinnert zu sehr an die Versprechen der DDR. „Tesla ist nicht Brandenburg“, das ist richtig. Aber ob die neuerliche „Wut auf den Kapitalismus“ (in Gestalt von Elon Musk, dieses narzisstisch gestörten Spinners mit gefährlich großer Macht) zu einer „neuen linken Politik“ führt, ist fraglich.

Da hilft es Sebastian Walter auch nicht, der ‚Die Linke‘ retten will, dass er aufs Tesla-Plakat hinzukleben lässt: „Aus Überzeugung Sozialist“. Denn was heißt das heute? Ähnlich geht es den politischen Etiketten ‚konservativ ‚, das in Deutschland nie mehr als ein Schimpfwort war, und ‚liberal‘, das verschiedene Facetten hat.

Das ist schade und schädlich für das Parlament, welches intellektuell verarmen wird, wenn all diese Stimmen fehlen. Die Grundmandatsklausel ist demokratietheoretisch wichtig. Die pragmatische ‚Linke‘ (ehemals PDS) hat in Brandenburg als Verfassungspartei eine historisch konstruktive Rolle gespielt, und liberale Stimmen tun immer gut, nicht nur in der Wirtschaftspolitik.

Manfred Stolpe und Lothar Bisky waren die Väter des Brandenburger Wegs. Zu Recht und nicht ohne Stolz wurde in Brandenburg immer wieder – von verschiedenen Leuten – gesagt: „Brandenburg ist nicht Sachsen“ (das von ‚König‘ Kurt Biedenkopf geprägt wurde) oder – ohne Bösartigkeit – etwa zur Zeit der Pegida-Bewegung, mit der die Verwirrung begann: „Potsdam ist nicht Dresden“. ‚Pogida‘ hatte 2016 keine Chance, aber Potsdam ist eine Insel.

Ein Witzbold schrieb auf ein übergroßes Plakat mit Woidke, das auf seine Körpergröße anspielt, „Brandenburg braucht Größe“: „Sachsen annektieren“. Und das auf dem ‚Platz der Einheit‘! Witzig, aber kein Witz. Das ordentliche Ordnungsamt hat diese Spuren schnell wieder getilgt.

Für Woidke und die SPD hing auch einiges davon ab, wie die CDU, die nie einen starken Stand in Brandenburg hatte, abschneidet, die zwischenzeitlich fast gleichauf mit der SPD lag, welcher genauso wie den Grünen und der FDP, die „auf dem Sterbebett liegt“, der Wind von der Bundesebene aus direkt ins Gesicht bläst.

Woidke vermeidet gemeinsame Auftritte mit Kanzler Scholz: „Es ist schon bitter, dass sich die Bundesregierung nach Außen so zerstritten darstellt, als bräuchte es gar keine Opposition mehr „(Woidke). Die CDU, die AfD und das BWS haben leichtes Spiel gegenüber der Bevölkerung, die zunehmend ihr Vertrauen in die Politik verliert.

Das ist leider eine Tatsache, die sukzessive und messbar von Jahr zu Jahr an Gewicht dramatisch zunimmt. Dabei geht es vor allem um Zutrauen in die Parteien, Parlamente und Regierungen. Das offensichtliche Staatsversagen in den grundlegenden Bereichen Sicherheit und Infrastruktur färbt auf die Politik ab, die neuzeitlich – und in der Moderne verstärkt – strukturell über den (Leistungs-) Staat läuft.

Scholz besucht gleichwohl Prenzlau auf Einladung des SPD-Bundestagsabgeordneten Zierke, um sich dort einem Bürgerdialog in der Marienkirche zu stellen. Er verteidigt die Grenzkontrollen, die in Polen empören, und die Waffenlieferungen an die Ukraine.

Für weitreichende Waffen, einschließlich des Taurus, erteilt er eine deutliche Absage, auch in Zukunft, unabhängig davon, wie die Bündnispartner entscheiden, so Scholz wörtlich.

Am 14. September vertagen Biden und der britische Premierminister Starmer in Washington diese buchstäblich weitreichende Entscheidung, welche die „Natur des Krieges“ (Putin) verändern würde. Das BSW vor allem, aber auch die AfD gehen mit solchen bundespolitischen Themen in den Wahlkampf, die in Ostdeutschland auf eine verbreitet nato-kritische und antiamerikanische Stimmungslage treffen.

Wagenknecht gibt nicht nur der Wirtschaft, Sicherheit und Bildung „wieder eine Heimat“, sondern auch dem Frieden. Neulich ergänzte sie auf den Plakaten: „Weil aus Kriegsrhetorik Krieg entsteht“. Der Vorwurf des „Bellizismus“ ist jedoch falsch, gleich ob er von Wagenknecht oder Habermas stammt.

Es „heimatet“ gerade sehr in Deutschland, nachdem lange Zeit zuvor die Heimat (als selbstverständlicher Bezug für die meisten) als ‚rechts‘ und ‚reaktionär‘ politisch diskreditiert wurde. Ein Hype jagt den anderen in unserer schnellen und flüchtigen Mediengesellschaft. Selbst der gesunde Menschenverstand, der als Potential allen gleichermaßen gehört, gilt als “rechts‘. In diesem Diskurs-Deutschland wird man geisteskrank.

Gleichentags veranstaltet die AfD ein Sommerfest in Prenzlau und eine Demo gegen Scholz mit Sprechchören „Scholz muss weg“ (Tagesspiegel 14.9.). Das kennen wir seit „Merkel muss weg“, verbunden mit gewalttätigen Symbolen des Protests wie Häftlingskleidung und Galgen. Alexander Gauland, der 40 Jahre in der CDU war, sprach 2017 als erster davon: „Wir werden sie jagen.“ Seitdem ist der Appetit größer geworden.

Es gibt eben Protest und Protest, hier gilt es genau wahrzunehmen und zu unterscheiden, sonst verlieren wir jede politische Kultur, nicht nur die Protestkultur. „Nazis wählen ist kein Protest“.

Vieles jedoch liegt nicht in unserer Macht.

Aber für die Sprache, auch die politische Sprache sowie die Urteilskraft und das Unterscheidungsvermögen tragen wir eine Verantwortung. Auch zwischen Populisten, mit denen man sich demokratisch auseinandersetzen muss, und Extremisten, deren Gefährlichkeit man kennen sollte, ist zu unterscheiden.

Diesmal also wird die Wahl in Brandenburg besonders spannend, schwierig und knapp. Man guckt auf dieses Bundesland, wie selten zuvor. Das ist den meisten durchaus bewusst, der Wahlkampf wird deshalb von den Parteien intensiv geführt. Zwei Wochen bevor die Wahllokale schließen, ist noch vieles offen trotz oder wegen aller Umfragen.

Es wird breit politisiert und leidenschaftlich gestritten, auch in der Zivilgesellschaft (für das Wählen, „Brandenburg zeigt Haltung“, und gegen die AfD) und der Wirtschaft, die sich seit 2023 deutlich und engagiert gegen die AfD positioniert. Der Industrieverband UVB bezeichnete jüngst die Partei als „wirtschaftsfeindlich“. Er ist Teil des Bündnisses „Brandenburg zeigt Haltung“.

Die Wirtschaft fürchtet, genauso wie die Wissenschaft und die Hochschulen, einen Standortnachteil und Imageverlust für das Land bei einem Erfolg der ausländerfeindlichen AfD. Tatsächlich wird man im Ausland ständig darauf angesprochen. Auch die Auswanderung aus Ostdeutschland wird wieder häufiger erwogen.

Die Situation wirkt aufgeheizt und angespannt. Politische (liberale) Apathie ist nicht der vorherrschende Gemütszustand, eher das Gegenteil: Aufgeregtheit, Aggression und Wut. Die Politik der Emotionen spielt eine Hauptrolle. Die sachliche Diskussion hat es schwer gegen die gefühlte Stimmungslage, wenn man sich wirklich ins Handgemenge begibt. Und dieses Bürger-‚Gespräch‘ darf nicht abbrechen, sondern muss vielmehr gesucht werden. Und dabei viel reden lassen und zuhören. Reden sollte man mit allen, solange sie einem einen menschlichen Grundrespekt entgegenbringen.

Der Staat scheint gerade zu versagen im gewohnt gut funktionierenden Deutschland.“ Die Carolabrücke wird zum Sinnbild“ (NZZ, 16. September, S.1). „Ist auch Potsdams Lange Brücke in Gefahr?“ (MAZ, 14./15. September, S.15). 17 Brücken in Brandenburg erhalten die Note „ungenügend“. Dazu die Krise bei ‚Volkswagen‘, dem exemplarischen deutschen Gesellschaftsmodell im Kleinen, die tiefer geht als politische Ereignisse. Dazu kommen die Kriegsdrohung und die Naturkatastrophen. Polykrise ist zu wenig gesagt für die Lage, in der wir uns befinden.

Gleichzeitig der Vormarsch der Rechten in Europa, der sich schon lange angekündigt hat und mehrere Ursachen hat. Eine Hauptursache ist sicher die Migrationskrise, für die Rechten ist es die Mutter aller Krisen. Auch für die Brandenburger ist dies das wichtigste Thema, das sie seit Langem umtreibt und spürbare Probleme vor Ort verursacht.

Für den Spitzenkandidaten der AfD, den 68-jährigen ehemaligen Laborarzt Dr. Berndt, ist der „große Bevölkerungstausch“ (Renand Camus 2011) keine Verschwörungserzählung, sondern eine Realität und eine Politik ‚globalistischer Eliten‘. Der deutsch-französische Begriffs- und Ideentransfer ist schon lange in vollem Gange (die ‚Identitären‘ sind 2012 gegründet worden, und die Nouvelle Droite existiert seit den 80er Jahren).

Die Ideenschmiede auf dem Rittergut in Schnellroda (Sachsen-Anhalt) übersetzt fleißig (‚Antaios‘) und hält wirkungsvolle Seminare ab (‚Institut für Staatspolitik‘). Vor Jürgen Elsässer (Compact) hat sich Berndt im Namen der Meinungsfreiheit sofort hingestellt. Das überraschende Verbot durch die Bundesinnenministerin, das vor Gericht keinen Bestand hatte, war Wahlkampfhilfe für die AfD.

Der katholisch geprägte Berndt spricht von der „Hölle der Vielfalt“. Die Regenbogenfahnen vor öffentlichen Gebäuden würde er sofort gegen Schwarz-Rot-Gold eintauschen. Erst 2018 ist er in die Partei eingetreten. Er kommt von der Politik der Straße her (Pegida, Zukunft Heimat). Als gelernter DDR-Bürger bezeichnet er den Verfassungsschutz als „Stasi 2.0“. Mit Wagenknecht teilt er die Diagnose von den „engen Meinungskorridoren“.

Die AfD würde den Verfassungsschutz und das Handlungskonzept ‚Tolerantes Brandenburg‘, das es seit 1998 gibt, sofort abschaffen, wenn sie es könnte. „Das Tolerante Brandenburg ist institutionalisierte Intoleranz unter der Regie des Ministerpräsidenten“ (Berndt, 3.9.). Damit machen sie Wahlkampf „für die hart arbeitende Bevölkerung“, der verfängt, dort, wo sie unter sich bleiben, und das ist meistens der Fall.

Man muss sich deshalb nicht wundern, wenn ihre Zahl der Wähler steigt und in gewissen Gegenden sogar exorbitant hoch ist. In solchen Veranstaltungen dominieren Parolen wie „Deutschland den Deutschen“ und nicht Argumente, womit Echoräume beschallt werden. Diskussionen mit anderen Positionen dagegen werden gemieden, deshalb verließ Berndt frühzeitig den PNN-Wahltalk im Hans-Otto-Theater mit 400 Zuhörern.

Ist also Wagenknecht die „Systemsprengerin“ (Spiegel)? Freilich nur, was das hergebrachte Parteiensystem angeht. Woidke nannte das BSW, das nicht mehr lange so heißen wird, eine Blackbox, mit der er nicht verhandeln werde. Der Spitzenkandidat Crumbach, ein Arbeitsrichter, der 40 Jahre in der SPD war, müsste ihm bekannt sein. Das kommunalpolitische Schwergewicht Hans-Jürgen Scharfenberg, der für die PDS und ‚Die Linke‘ 2004 bis 2019 im Landtag war, ebenso. Der 70jährige kann es nicht lassen.

Am 18. September, als die populäre Sarah auf den Luisenplatz in Potsdam kam, hielt er die erste Rede. Er spricht die Potsdamer an, die den Platz füllen, und sieht eine enorme politische Entwicklung seit Beginn des Jahres. In der SVV sind sie schon wieder eine Fraktion. „Wir schaffen wieder Vertrauen in die Politik an sich“ durch Friedenspolitik, soziale Gerechtigkeit und bürgernahe Verwaltung. Klar ist für Scharfenberg auch: „Keine Erststimme für die AfD“.

Crumbach gilt als ruhig, zuverlässig und vertrauensvoll. Scharfenberg wirbt für den Spitzenkandidaten des BSW, obwohl sie aus verschiedenen Parteien kommen. 15 % will man am Sonntag gemeinsam erreichen, das sei eine große Entscheidung für die Landespolitik. Crumbach als Kriegsdienstverweigerer liegt nicht nur „die Friedenspolitik am Herzen“, er will sich auch nicht damit abfinden, dass „Bildung, Berufsausbildung, Krankenhäuser und Wohnungspolitik immer schlechter werden“. Wir werden von „Dilettanten“ regiert, sagt er.

In der langen kämpferischen Rede von Wagenknecht schließlich wird klar, was die Landes- und Bundesausrichtung des BSW ist. Die SPD wird scharf von links attackiert: Diese überlässt die zentralen gemeinnützigen Politikfelder dem Renditedenken: Rente, Gesundheit, Bildung und Wohnen. Wagenknecht knüpft zudem an die Friedensbewegung der 80er Jahre an mit einer ebenso scharfen Kritik an den „arroganten und heuchlerischen Grünen“: „Petra Kelly würde sich im Grabe umdrehen“. Außerdem verteidigt sie die „Ossis, die falsch wählen würden.“

Nicht nur außenpolitisch gibt es Überschneidungen mit der AfD, welche das BSW als Konkurrenz sieht. So will auch Crumbach den Verfassungs-Treue-Check abschaffen, den die Kenia-Koalition eingeführt hat. Ansonsten hält sich der Spitzenkandidat zurück, der wie Wagenknecht und die Linke überhaupt die Stationierung amerikanischer Raketen in Brandenburg ablehnt. Das sind seine zwei Bedingungen für eine Koalition.

22. September

Auffällig an diesem Wahlkampf war die Fixierung auf die Person Woidke, einschließlich phänotypischer Eigenschaften wie Körpergröße und Glatze sowie die Fixierung auf die AfD, um eine „faschistische Agenda zu verhindern“ (Campact). 

Die Kampagnenplattform, die von Kleinspenden lebt, unterstützte deshalb Direktkandidaten mit 186 000 Euro, darunter auch den direktdemokratisch aktiven Peter Vida von den Freien Wählern (die „Orangen“) in Bernau. Strategisch geht es darum, die Sperrminorität bei einem Drittel der Mandate für die AfD zu verhindern. Das gelang.

Auch in Sachsen hat es funktioniert, in Thüringen nicht, wo die Resultate noch schlechter waren als die Prognosen. Der wichtige Posten des Landtagspräsidenten muss von der stärksten Fraktion gestellt werden, und das ist die AfD. Außer, man ändert noch einmal die Geschäftsordnung. Was werden die AfD-Wähler demokratietheoretisch darüber denken?

Dass Woidke, wie angekündigt, hinschmeißt, wenn er in Brandenburg nicht Platz 1 erreicht, war herausfordernd, aber keine bequeme Situation weder für die SPD noch das Land. Die brandenburgische SPD wäre auf einen Übergang nicht vorbereitet gewesen. 

Aber Woidke gewann in letzter Minute mit seiner mutigen Entscheidung und einem aufreibenden Wahlkampf. Die brandenburgische SPD kämpfte stark und klug. Der Aufholprozess seit dem Sommer war gewaltig und zeigt, was motivierende Wahlkämpfe, populäre Politiker und entschlossen-geschlossene demokratische Parteien vermögen.

Auch das zivilgesellschaftliche Engagement von ‚Brandenburg zeigt Haltung‘: „Demokratie braucht keine Alternative!“ war breit und ging in die Fläche des Landes. So viel demokratische Mitte war selten, was hoffentlich seine Spuren hinterlässt. Die Wahlbeteiligung war mit über 70 % hoch, und die große Wählerwanderung von Nichtwählern zur SPD erfreulich.

Die AfD verschärfte mit dem Führungstrio Berndt, Springer und Hohloch ihren Kurs: „AfD jetzt“, sie wollte an die Regierung und gewinnt bei den Jungen, wo sie auch die U-16-Wahlen mit Abstand gewinnt (2019 noch 3. Platz), kräftig hinzu. Die Feststellung „gesichert rechtsextremistisch“ schreckt sie nicht.

Diese Tendenz wurde schon bei den Wahlen 2019, die eine Zäsur waren, deutlich, hat aber niemanden gekümmert. Eher lässt man das Kind in den Brunnen fallen. Und dann wird geradezu hysterisch reagiert, schrill, schnell und oberflächlich mit krassen historischen Analogien, statt sich auf die neuen Phänomene (deskriptiv) und Realitäten (analytisch) genauer einzulassen und das kontinuierlich. 

Die demokratischen Parteien haben viel aufzuarbeiten, bevor sie wieder zur Tagesordnung übergehen. Die SPD hat zwar zugelegt, die AfD aber auch. AfD und BSW kommen zusammen auf mehr als 40 % der Stimmen. Die Parteienbindungen werden immer schwächer, und sie genießen in der Demokratie keinen Bestandsschutz. Die Linke und die Grünen sind abgestürzt, und die CDU hat ihr bisher schlechtestes Ergebnis erzielt. Die FDP hat den Einzug in den Landtag wieder deutlich verpasst.

Das eigentlich sensationelle Resultat hat das BSW erreicht, das nach 5 Monaten der Gründung und mit wenig Personal aus dem Stand zweistellig wurde. Dies sagt viel aus über den realen Zustand der Parteiendemokratie, die in der Krise und gleichzeitig im Umbruch begriffen ist. Deswegen steht nicht schon der Faschismus vor der Tür. Das kennen wir seit Längerem aus Italien, Frankreich und anderen Ländern, der Vergleich ist lehrreich und ernüchternd.

Auch wenn die Kenia-Koalition mit Woidke fortgesetzt werden kann, werden die Probleme der Regierungspolitik nicht kleiner, sondern größer werden.

Bildnachweis: Agentur Medienlabor