Richtungsentscheidung: Bürgerliche oder linke Regierung?

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Ende August schließt der mögliche Kanzler der SPD Olaf Scholz ein Linksbündnis, Rot-Rot-Grün, nicht aus. So titelt die bürgerliche ‚Zeitung für Deutschland‘ am 28. August.

Eine Woche zuvor eröffnete die CDU/CSU die heiße Wahlkampfphase mit Kanzlerin Merkel, indem sie Scholz unterstellte, er würde die Linken in der SPD, Esken und Kühnert, in die Regierung holen. Laschet sollte dabei endlich die Energie und Kanten eines deutschen Kanzlers dadurch zeigen, dass er den Führungsanspruch der CDU aus der Tradition heraus deutlich machte. Nur er könne „mit christlichem Kompass“(Merkel) eine bürgerliche Regierung in einer unsicheren Welt bilden. Ausgerechnet in der ‚Zeitung für Deutschland‘ wiederum findet sich der vernichtende Kommentar, der von einer „Rote-Socken-Kampagne“ als „Verzweiflungstat“ spricht: „die Taktik passt weder zum Kandidaten, noch passt sie inhaltlich“ (FAZ, 23. 8., S.1).

Laschet ist in der Union als Integrator hervorgetreten und nicht als Polarisierer wie Merz oder Söder. Er könnte bei allen Differenzen auch mit den Grünen regieren, mit der FDP sowieso. Sie ist sein Lieblingspartner und umgekehrt. Ist die Ampel, die im Moment am wahrscheinlichsten ist und bei der Bevölkerung am beliebtesten wäre, falls die SPD vorne bleibt, keine bürgerliche Regierung? Ist sie eine linke Regierung? Sie wird Scholz als Integrator fordern, denn zwischen der SPD und der FDP liegen Welten, da ein neuer aktiver Sozialliberalismus auf beiden Seiten nicht zu sehen ist. Und die neuen Grünen, die regieren wollen, haben inzwischen das Soziale fast ebenso großgeschrieben wie die SPD. Auf diesem Feld gibt es eine große Schnittmenge. Könnte daraus eine grüne sozialliberale Regierung erwachsen? Das ist eine schöne theoretische Vorstellung, mehr Wunsch und Wille als Realität.

Die Grünen werden in jeder Regierung unbequem und fordernd bleiben, nicht nur wegen der Klimapolitik, sondern beispielsweise auch wegen der Migrationspolitik. Das Linksbündnis wollte von Anfang an nur die schwache ‚Linkspartei‘, die bangen muss, die 5%-Hürde überspringen zu können. Sie sprach dennoch explizit und programmatisch von einer linken Mehrheit (Kipping). Das war auch vielen Linken in der SPD sympathisch. Das Bündnisangebot an die SPD erfolgte jedoch aus einer Position der Schwäche heraus, außerdem liegen die außenpolitischen Vorstellungen nicht auf einer Linie. Außenpolitische Kontroversen nehmen bei der veränderten geopolitischen Lage zu.

Die Außenpolitik wird derart wieder zur Innenpolitik, darauf baut auch die Union mit ihrem Führungsanspruch für Deutschland. Muss sie dafür wie im Kalten Krieg das Gespenst einer linken Gefahr an die Wand malen? Bei welchen Wählern verfängt das? Kann Laschet so gegenüber Scholz punkten, der ausdrücklich die Nato „mit dem Herzen“ (die „heilig“ ist, Biden) bejaht? Es ist die Strategie der CSU von Söder, die weder Laschet noch der CDU hilft. Ihr Generalsekretär Blume stellte ausdrücklich klar, dass es ja am 26. September nicht ’nur‘ um den Kanzlerkandidaten geht, sondern um ein Gesamtpaket, das die Wirtschaft nicht übermäßig belasten darf, möglicherweise sogar mit Eurobonds. Die konfliktträchtigen Themen im Zusammenhang mit der EU werden im nächsten Jahr nach den Wahlen ganz sicherlich wieder auf die Tagesordnung kommen, dann aber umso zentraler und heftiger.

Am 21.August war die SPD der Hauptgegner der CDU/CSU, der Tag hat aber auch gezeigt, dass man nicht auf Laschet setzt, den die Mehrheit der Unionsanhänger noch immer nicht unterstützen. Am liebsten würde man vier Wochen vor der Wahl den Kanzlerkandidaten noch austauschen. Das ist nicht überzeugend für die Wähler und spiegelt tatsächlich die verzweifelte Situation der Union. Darüber konnte auch der gemeinsame, gut choreographierte Auftritt am 21. August im Tempodrom in Berlin nicht hinwegtäuschen, vielmehr lautete das brutale Resultat eines Kommentars, dass sich „ein Kandidat auflöst“ (Tagesspiegel, 23.8.).

Die Methode Scholz scheint demgegenüber aufzugehen. Er, der von Beginn an mehr als 20% anzielte, hat die anderen Kandidaten mehr als deutlich überholt und so die eigene Partei mitgezogen, die lange im 15% – Keller verharrte. Auch bei den jüngsten Wahlen am 6. Juni in Sachsen-Anhalt hat sie mehr als enttäuschend abgeschnitten. Inzwischen liegt die SPD bundesweit aber vor den Grünen und sogar vor der Union, wenn auch äußerst knapp. Zwar kam nur Scholz 2020 als Kanzlerkandidat für die SPD in Frage, aber kaum jemand hat daran geglaubt, dass am Schluss alles auf ihn hinauslaufen wird.

Die Kompetenz des Vizekanzlers und Finanzministers des ‚big government‘ war nie umstritten. Die nötige Ausdauer und Ruhe während eines langen Wahlkampfes, bei dem er schon 13 Monate vor der Bundestagswahl als Erster ins Rennen ging, hat ihm allerdings kaum jemand zugetraut. Stoische Klugheit (erst lesen, zuhören und nachdenken, dann entscheiden) hat er mit Disziplin verbunden. Er hat das Buch des politischen Philosophen Michael Sandel über die Tyrannei der Meritokratie und das Ende des Gemeinwohls (2020) nicht nur gelesen, sondern auch verstanden und von amerikanischen auf deutsche Verhältnisse übertragen. Verstehen bedeutet eben auch anwenden.

Respekt wird schon Ende 2020 in einer Video-Kampagne als „soziale Politik für jeden“ ausbuchstabiert. Die Leistungen eines starken Staates, zum Beispiel das Kurzarbeitergeld oder der Mindestlohn von 12 Euro als Lohnerhöhung für 10 Millionen Arbeitnehmer, sind keine Almosen, sondern ein Recht. Für diese soziale Politik steht die Sozialdemokratie wieder und kann so viele Verschiedene, auch Jüngere, erst recht Ältere in unsicheren Zeiten erreichen. Selbst das epochale Hauptthema ‚Klimaschutz plus Arbeitsplätze‘ macht die SPD dem Ministerpräsidenten von NRW und der Union wie den forschen Grünen streitig. Die klassische sozialdemokratische Fortschrittserzählung, die Scholz am 9.Mai vorgetragen hat, greift wieder: rot in grünen Zeiten. Die Zukunftsverantwortung betrifft eben nicht nur das Klima.

Bei der Fokussierung auf die Kanzlerdemokratie, die systemisch schwächelt, setzt die SPD in der letzten Phase ungehemmt auf die Personalisierung: „Scholz packt das an!“ Allerdings beruht die aktuelle Stärke von Scholz auch und vor allem auf der aktuellen Schwäche seiner Konkurrenten Laschet und Baerbock, die einen tiefen Fall erlebt haben, welcher die Parteien mit hinunterzog.

Die Grünen wollten nach der Verabschiedung ihres neuen Grundsatzprogrammms im Sommer 2020 nach 16 Jahren Merkel erstmals ins Kanzleramt. Sie stehen für Veränderung und nicht für das Weiter-so. Das hat der politischen Auseinandersetzung Schwung gegeben, wofür vor allem Baerbock und Habeck sorgten. Auch der Ansatz “ Bereit, weil ihr es seid,“ ist richtig. Inzwischen wird aber deutlich, dass sie der SPD nicht den Platz einer neuen Volkspartei der linken Mitte abnehmen können. Auch ihre Bäume wachsen als Partei (‚pars‘ lateinisch: heißt Teil) nicht in den Himmel.

Indessen muss man bei allen Enttäuschungen aus übermäßigen Erwartungen heraus konstatieren, dass zurzeit drei Parteien fast gleichauf an der Spitze liegen und die Grünen nach dem 26.September mit einer gewichtigen Stimme mitregieren werden. Das ist ein großer Erfolg für sie, wenn man bedenkt, dass sie 2017 nicht einmal zweistellig waren. Grün wirkt und wird weiterhin wirken, das ist keine Frage.

Die Grünen und die SPD haben sich lange und gründlich auf diesen richtungswechselnden Bundestagswahlkampf vorbereitet. Ihre Wahlprogramme, die sie im März 2021 vorgestellt haben, sind lesenswert. Das eine überbietet das andere. Natürlich kann man einwenden, der Wahlkampf habe sich hautsächlich mit nichtigen Nebensächlichkeiten beschäftigt, was unserer schwatzhaften Kommunikations- und Mediengesellschaft geschuldet ist, die gnadenlos und unentrinnbar geworden ist.

Die Sätze von Neil Postman, dass wir uns „zu Tode amüsieren“ (1986)und ebenso „zu Tode informieren“ (1992) stimmen mehr denn je. Der Untertitel seines ersten Bestsellers lautete übrigens „Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie“, was eine zutreffende Problemdiagnose ist. Denn gerade in einer Demokratie, die lernfähig bleiben will, sollte die Urteilskraft, das heißt: die Arbeit am Urteilen nicht verschwinden, auch und gerade in Wahlkämpfen nicht.

Dennoch war der lange, von Corona überlagerte Wahlkampf mit seinen schnellen Auf und Abs und seinen inhaltlichen Herausforderungen nicht langweilig. Das können nur Langweiler sagen. Und er ist noch nicht zu Ende: Nach dem ersten TV-Trielle am 29. August bleiben Laschet und Baerbock im Rennen, zwei weitere Trielle, die im Unterschied zu den amerikanischen Duellen ein kleiner demokratischer Erfolg sind, werden folgen.

CDU und FDP wollen die drohende Linksverschiebung verhindern. Die Liberalen reklamieren die wirtschaftliche Vernunft für sich, und Laschet, der nun als Polarisierer auftritt, was zu Beginn des Wahlkampfs noch sein Generalsekretär Ziemiak für ihn erledigte, bietet noch einmal die typisch konservative Orientierung der ewigen Kanzlerpartei gegen die linken Parteien auf.

Es ist ein Konservativismus der Angst, der hier auftritt. Es rächt sich nun, dass die Union keine Programmpartei ist und inhaltlich wie personell schlecht vorbereitet wirkt. Sie setzt allein auf ihre hegemoniale Stellung in Bezug auf Sicherheits- und Wohlstandswahrung für alle in Zeiten des beschleunigten Wandels. Das konservative Grundmuster der Argumentation ist dabei klar, einfach und verständlich: Orientierung geben mit Bewährtem: Westintegration, soziale Marktwirtschaft, deutsche Einheit – gegen die Experimente linker Ideologen.

Die Verdienste von gestern gegen die Herausforderungen von heute: Geht diese Frontalattacke wieder auf? Fast die Hälfte der Wähler ist noch unentschlossen. Angezielt werden insbesondere konservative Wechselwähler und die bürgerliche Mitte, die Laschet noch ins Kanzleramt bringen sollen, was nicht ausgeschlossen ist.

Viele Wähler wählen diesmal zurecht Regierungskonstellationen, was für die Bundesebene eine neuartige Dreierkoalition bedeutet. Sollte die SPD vorne liegen, wird das wahrscheinlich eine Ampelkoalition sein, beim Sieg der CDU wahrscheinlich eine Jamaikakoalition. Beide Male sind die Grünen, die weder bürgerlich noch links sind, und die FDP, die liberal und bürgerlich ist, beteiligt, zwischen denen Welten liegen. Die Regierungsbildung wird inhaltlich schwierig werden und sowohl von Laschet wie von Scholz als Integratoren viel abverlangen, auch im Verhältnis zur eigenen Partei. Selbst die parteipolitisch erfolgreichen Grünen werden wieder Probleme bekommen mit der „Basis als Boß“, vor allem mit der Grünen Jugend, wenn es zum Beispiel um eine Koalition mit den Schwarzen geht.

Das künftige Regieren wird für ein Land mit großer Stabilitätserfahrung wie Deutschland noch spannender werden als der gegenwärtige Wahlkampf, denn die Regierungen werden weder rein bürgerlich noch rein links sein. Mit so einfachen polemischen Alternativen wird man es nicht mehr zu tun haben.