Ressentiments (die immer nur die anderen haben)

  1. Home
  2. /
  3. Blog
  4. /
  5. Ressentiments (die immer nur die anderen haben)

„Ressentiment gehört zu den Wörtern, die man als Vorwurf am wenigstens auf sich selbst beziehen möchte: Gemeint sind die anderen, und zwar die besonders Kleinkarierten. Jemandem vorzuwerfen, er habe Ressentiments, heißt ihm zu sagen, er sei ein Mensch ohne Selbstbewusstsein, der sich dafür rächen will. Ressentiment ist unter den negativen Eigenschaften wie Neid oder Hass die niedrigste und der Vorwurf daher besonders verletzend.“ (Sonderheft ‚Merkur‘, Heft 9/10, 2004, S. 743)

‚Ressentiment als Argument‘ – das beschäftigt mich. Manchmal trifft es sogar ins Schwarze, meistens nicht. Es setzt kluge und dumme Energien frei. Politik des Ressentiments wird heute oft mit rechtsautoritären und fremdenfeindlichen Bewegungen assoziiert, die mehr als nur Groll (die Wörterbuchübersetzung von „ressentiment“) ausdrücken. Bleibt den ‚Wut- und Pöbelbürgern‘ von heute, die Menschen herabsetzen und konkret angreifen, nur noch das Ressentiment als mobilisierendes Argument? Führt dies zu feindseligen Zuständen, welche die zivile Demokratie untergraben?

Soll man sich darüber wundern bei der gegenwärtigen Verfasstheit der Öffentlichkeit, der Struktur politischer Kommunikation und den ständigen Pannen des Krisenmanagements? Worauf kann man sich dagegen noch berufen? Auf Anstand, Wissenschaft, das Allgemeine und Universelle, auf Regeln?
Was ist überhaupt ein Ressentiment?

Das französische Wort „Ressentiment“ ist schwer zu übersetzen (se ressentir de quelquechose). Friedrich Nietzsche hat es zu einem terminus technicus gemacht mit seiner Entdeckung des Ressentiments als Quelle moralischer Werturteile in der „Genealogie der Moral“ (1887), die bis heute eine wirkungsvolle Streitschrift geblieben ist.

Max Scheler (1874-1928), der Philosoph der materialen Wertethik, rezipiert Friedrich Nietzsche im Rahmen seiner Lebensphilosophie. Auch wenn er Nietzsches Entdeckung für die „tiefgreifendste“ hält, versucht er dennoch, die christliche Ethik gegen Nietzsches bösen Verdacht zu rehabilitieren. In diesem Kontext entsteht seine Abhandlung „Das Ressentiment im Aufbau der Moralen“ (1912), die eine phänomenologische Analyse im kritischen Anschluss an Nietzsche ist.

Auch Scheler kann nicht umhin, ein paar berühmte Sätze aus Nietzsches bekanntem Buch zu zitieren, bevor er mit der Sachanalyse beginnt:
„Der Sklavenaufstand in der Moral beginnt damit dass das Ressentiment selbst schöpferisch wird und Werte gebiert: das Ressentiment solcher Wesen, denen die eigentliche Reaktion, die der Tat, versagt ist, die sich nur durch eine imaginäre Rache schadlos halten. Während alle vornehme Moral aus einem triumphierenden Ja-Sagen zu sich selber herauswächst, sagt die Sklaven-Moral von vornherein Nein zu einem ‚Außerhalb‘, zu einem ‚Anders‘, zu einem Nicht-selbst; und dies Nein ist ihre schöpferische Tat.“

“ Diese Umkehrung des wertesetzenden Blicks – diese notwendige Richtung von außen statt zurück auf sich selbst – gehört eben zum Ressentiment: die Sklavenmoral bedarf, um zu entstehen, immer zuerst einer Gegen- und Außenwelt, sie bedarf, physiologisch gesprochen, äußerer Reize, um überhaupt zu agieren, – ihre Aktion ist von Grund aus Reaktion.“ (Genealogie der Moral, 1. Abhandlung, 10. Abschnitt).

„Die Schwäche soll zum Verdienste umgelogen werden.“…
…die Ohnmacht, die nicht vergilt, zur ‚Güte‘;
die ängstliche Niedrigkeit zur ‚Demut‘;
die Unterwerfung, vor denen, die man hasst, zum ‚Gehorsam’…
(Genealogie der Moral, 1. Abhandlung, 14. Abschnitt).

Ausgangspunkt der Ressentimentbildung ist der Racheimpuls (Scheler 1912/1978, 3. Aufl., 2017, S.4f.), der zeitlich verschoben wird aufgrund von Hemmung und Ohnmacht. Die Sprache differenziert: Rachegefühle, Neid, Hass, Schadenfreude und Häme. Sie sind nicht Ressentiment. “ Nur dort liegt eine Bedingung für seine Entstehung, wo eine besondere Heftigkeit dieser Affekte mit dem Gefühl der Ohnmacht, sie in Tätigkeit umzusetzen, Hand in Hand geht, und sie darum “ verbissen“ werden – sei es aus Schwäche leiblicher und geistiger Art, sei es aus Furcht oder Angst vor jenen, auf welche die Affekte bezogen sind“ (S.7).

Max Scheler, der Ethiker, argumentiert auch soziologisch: je grösser die Differenz ist zwischen der politisch-verfassungsmäßigen Rechtsstellung und den faktischen Machtverhältnissen, desto grösser die Ladung des Ressentiments in der Gesellschaft. Mit anderen Worten: Wenn jeder das Recht hat, sich mit jedem zu vergleichen, und sich doch „faktisch nicht vergleichen kann“(S.9). Neben dem Rachegefühl bilden Neid, Eifersucht und Konkurrenzstreben einen zweiten Ausgangspunkt der Ressentimentbildung (S.10f.).

Neid führt erst dann zum Ressentiment, wo es sich um “ unerwerbbare Werte und Güter“ handelt. “ Der ohnmächtigste Neid ist zugleich der furchtbarste.“ Das stärkste Ressentiment löst der „Existenzialneid“ aus (S.11). Jeder vollzieht indes fortwährend Vergleiche des Selbstwertes. Die Philosophen unterscheiden an dieser Stelle seit Rousseau zwischen Selbstliebe (amour de soi) und Selbstsucht (amour propre); die Psychoanalytiker zwischen primärem und pathologischem Narzissmus.

Joseph Vogl nimmt die Ergebnisse von Schelers Untersuchung auf für seine Zeitanalyse, die unter dem bezeichnenden Titel „Kapital und Ressentiment“ steht (München 2021). Er nennt fünf Strukturelemente des Ressentiments:

– verneinende Selbstbejahung
– verschobener Handlungsimpuls
– Lebensneid
– Delegationsneigung
– Zurechnungssucht (S.162).

Vogl interessiert sich für die Verzahnung von Affektökonomie und Kapitalismus. Insbesondere um die negative Vergesellschaftung in liberalistischen Konzeptionen des Marktes geht es. Schon bei Scheler macht der funktionale Zusammenhang zwischen einer Gleichheit der Rechte und der Ungleichheit der Bedingungen “ das dauerhaft erregte und dauerhaft enttäuschte Verlangen nach Abgleich und Vergleichbarkeit zu einer Quelle des Ressentiments“ (S.103),

Allerdings gibt es keinen einfachen Zusammenhang zwischen Ressentiment und ökonomischer Benachteiligung, das wäre zu einfach und im Ansatz zu reduktionistisch gedacht. Der Zusammenhang zwischen Teilhabeversprechen und Produktionsverhältnissen, der eine „affektive Interpretation von Machtverhältnissen“ und „Vergleichsmechanismen“, wo alles skalierbar und vergleichbar gemacht wird, ermöglicht, ist jeweils genauer zu analysieren.

Vogl nimmt an, dass die gegenwärtige “ Atomisierung von Wettbewerbsszenen“ und die „Verbreitung von Mikromärkten“ des neuen Plattformkapitalismus weitere Ressourcen für das Ressentiment erschließen, wobei kapitalistische Gesellschaften ohnehin „ressentimental strukturiert“ sind (S.164f.). Er bezeichnet mit dem dänischen Existenzphilosophen Kierkegaard (1813-1855) das Ressentiment als ein “ negativ-einigendes Prinzip“, das heißt: als “ eine negative Einheit der negativen Gegenseitigkeit der Individuen“ (S.165).

Die ‚abstrakte Genusssucht‘ (Marx) kennt keinen Unterschied zwischen Begehren und Bewerten (S.165). „Der Andere hat stets, was niemand besitzt…“ Im Ressentiment und seiner ökonomischen Produktivität verknüpft sich die abstrakte Genusssucht mit einer abstrakten Vergeltungssucht, die sehr konkret werden kann; es unterstellt im konkurrierenden Anderen eine geneidete Fülle, die es nicht gibt, die vielmehr nur Phantasma des eigenen Seinsmangels ist.

Vogl sieht in den Transaktionen der Meinungsmärkte unter den aktuellen Netzwerkbedingungen zahlreiche Hinweise, welche die Ressentimentbereitschaft noch befördern – mit großen politischen Auswirkungen selbst bei Wahlen. Er spricht von „strukturellem Populismus“, der von Unternehmenszentralen wie Facebook ausgeht und einen eigenen Begriff des Politischen etabliert, der Vermittlung, Repräsentation, formale Institutionen und legitime demokratische Verfahren zugunsten von ‚communities‘, Facebook Nation und ‚ global village‘ unterläuft.

Die Meinungsmärkte auf den Plattformen werden dabei nach einer finanzökonomischen Bewertungslogik strukturiert (S.177). Die negative Einheit negativer Gegenseitigkeit ist zum Geschäftsmodell „der Feindseligkeit aller gegen alle “ geworden. Ob diese Tendenz, die im Internet ablesbar und schmerzhaft erfahrbar wird, sich gegen jede Gemeinwohlorientierung, alle Solidaritäten und kommunikative Infrastruktur durchsetzt, wird sich zeigen. Hier ist eine gesellschaftliche, politische und rechtliche Gegenwehr im Gange.

„Dass einem die Menschen nicht egal sind, setzt voraus, dass sie einem egal sein können. Wem die Menschen nicht auch egal sind, der kann sie nicht gelten lassen.“ (Martin Seel, Zuneigung, Abneigung -Moral, in: Merkur 9/10 2004, S.782). Diese „Bereitschaft zum Geltenlassen“, ein Element der Indifferenz, geht im Ressentiment verloren. Es kommt zu fixen und fixierten Abneigungen, die über normale Verhältnisse der Sympathie und Antipathie, der Zu- und Abneigungen hinausgehen, indem sie die Andersheit des Anderen nicht wahrnehmen und wahrhaben wollen, weil es sich um Lebensmöglichkeiten handelt, die sie sich selber versagen oder die ihnen versagt werden. Die Abneigung zur selbstkritischen Reflexion gehört dazu. Auch Theorie kann zu billiger Überlegenheit werden.

Neid auf das selbst nicht gelebte Leben, ist die Quelle des Ressentiments, die bei endlichen und strebsamen Wesen wohl nie endgültig versiegt. Einer Moral der (Selbst-) Achtung als der gegenteiligen Haltung entspringt eine „Toleranz gegenüber Lebensmöglichkeiten, die nicht die eigenen sind.“ Toleranz in diesem Sinne ist eine Stärke und keine Schwäche. Zu dieser unvergifteten Moral wiederum gehört zweierlei: – Abneigung und Zuneigung:

– zum einen die „Abneigung gegen den Versuch, alles ins Eigene zu wenden.“ Dieser Versuchung ist heute in unserem narzisstischen Zeitalter das grandiose Selbst im Kleinen wie im Großen ständig ausgesetzt (Common sense und kluge Macht statt Größenwahn); zum anderen

– die selektive Zuneigung, einschließlich des Respekts für das, was nicht nach dem eigenem Geschmack ist (Toleranz als Respekt).

Dieser moralische Sinn lässt allen Menschen Spielräume, soweit sie sich mit Rücksicht auf alle anderen vereinbaren lassen, was einer weiteren Umschreibung und Erläuterung des Satzes „Jeder nach seiner Façon“ (1740) gleichkommt, der voraussetzungsreich ist.

Text: Mitte Juli 2021

Bildnachweis: Photo by ev on Unsplash