Worte – gerade auch schöne, gute und wichtige Worte kann man zu Tode reiten. Also mal besser nicht verwenden!? Bei zu häufigem und gleichzeitig unpräzisem Gebrauch kann man sie bald mal nicht mehr hören. Das ist schade, also sollten wir sie lieber wie kostbare Münzen behandeln und nicht wie abgegriffene Worthülsen. Dafür tragen wir eine Verantwortung.
So ist es der Toleranz im Deutschen ergangen, so droht es gegenwärtig dem Respekt zu ergehen. Ständig wird Respekt bezeugt für alles und jedes, fast wie früher, als bei jeder Begegnung der Hut gezogen wurde -chapeau! Respekt! „Respect“ heißt auch die internationale Kampagne der UEFA auf dem Fußballfeld, die Fairness und Diversität vereinigt.
Jeder Begriff wird bei ständigem Gebrauch abgenutzt und verwaschen. Dagegen ist in der gegenwärtigen Medien- und Spaßgesellschaft kein Kraut gewachsen. Lässt sich der Inflationierung vorbeugen? Etwa durch Begriffsgeschichte und Medienethik? Am ehesten noch durch politische Bildung, gegen die wiederum die reale Politik ständig verstößt, wenn zum Beispiel gesagt wird: “ Opposition ist Mist“.
Begriffsgeschichte für die politische Bildung gibt es inzwischen auf einem erfreulich hohen Stand der Forschung, sogar in großen Lexika, die der Öffentlichkeit zugänglich sind (Historisches Wörterbuch der Philosophie, Geschichtliche Grundbegriffe). Dass Begriffe eine Geschichte haben, macht es schwierig, sie zu definieren. Nicht alle Begriffe hatten zu allen Zeiten dieselbe Bedeutung, neue Worte und epochenspezifische Begriffe (wie Souveränität, Nation, Staat u.v.a.) kommen hinzu.
Also muss man Begriffsgeschichte entlang der Wortgeschichte betreiben. Neben der wertvollen Bildung können wir aktuell mitdenken über unsere Alltagssprache (wie verwenden wir Respekt und Toleranz?), das ist ‚ordinary language philosophy‘ (Wittgenstein ll) in Verbindung mit unserer Lebenswelt, das ist Lebenswelt–Soziologie (Schütz, Luckmann u.a.). Jede und jeder kann bei dieser Forschung Philosoph sein. Wir sind in einer Demokratie Mitdenkende und Mitbestimmende der politischen Semantik. Das gehört zur Mündigkeit.
Respekt ist in der neueren öffentlich-politischen Sprache in Deutschland durch den (noch) Kanzlerkandidaten Scholz 2021 wieder in Umlauf gebracht worden. Wie oft hat er wohl im Wahlkampf den Satz wiederholt, dass es um eine „Gesellschaft des Respekts“ gehe? Auch er bedient sich des Rückgriffs auf den lateinischen Ursprung des Begriffs ‚respectus‘ in seinem Doppelklang: ‚zurücksehen‘ und metaphorisch ‚Rücksicht‘ (siehe Plädoyer für eine Gesellschaft des Respekts, 10. März 2021, FAZ).
Zurückschauen und daraus die Lehre ziehen: das heißt für Scholz und die Sozialdemokratie wieder mehr Rücksicht nehmen auf die ‚Abgehängten‘, Schwächeren und weniger Lauten, das heißt mehr Respekt, wobei zuhören eigentlich eine Selbstverständlichkeit ist. Deshalb kommt Scholz auf die gute Idee, Respekt als ständig wiederholten Leitbegriff für eine neue (die so neu nicht ist) sozialdemokratische Fortschrittserzählung zu nehmen, die der machtverwöhnten Christdemokratie fehlte. Politiker dürfen, ja müssen, genauso wie Lehrer, ständig wiederholen. Das gehört zu ihrem Beruf.
Zu dieser Respektserzählung gehörte von Anfang an eine konkrete Politik des Respekts, die ebenso prägnant war wie die Forderung nach einem Mindestlohn von 12 Euro, die er als Kanzler sofort für 10 Millionen Arbeitnehmer realisieren wollte und konnte. Scholz führte den besten Wahlkampf, er hatte nicht nur eine gute Werbeagentur, die in der heißen Wahlkampfphase buchstäblich nur noch auf seinen Kopf setzte („Scholz packts an“), sondern auch von Anfang an eine gute, das heißt verständliche und viele überzeugende Erzählung, die sich konkretisieren und weiter spezifizieren ließ: als soziale Politik für dich.
Begriffe, mit denen wir die Welt zu begreifen und zu verändern suchen, haben nicht nur ihre Geschichte, was zu philosophischer und politischer Aufklärung über Begriffs- und Ideengeschichte führt. Sie haben auch ihren Kontext und aktuellen Anlass. Das wollen wir im Folgenden in Bezug auf Respekt und Toleranz für die letzten Jahrzehnte ein wenig beleuchten.
Bei Olaf Scholz, der auch Generalsekretär von Schröders SPD war, könnte man versucht sein zu sagen, ‚Respekt‘ sei eine Reaktion auf die Verlierer der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der letzten Jahre. Die neue Rücksichtnahme zielt mithin auf deren tendenzielle Entwertung durch die Arbeitsmarktreformen der Regierung Schröder, die eine neue alte ‚Linke‘ als Partei hervorrief (Lafontaine), welche die bessere Sozialdemokratie sein wollte.
Insofern ist Respekt ein anderes Thema als Toleranz, das nach 1990 auf die erschreckende Intoleranz eines gewalttätigen und verbreiteten Fremdenhasses reagierte; 1998 wurde das Handlungskonzept ‚Tolerantes Brandenburg‘ gegründet. Zusätzlich lässt sich sagen, dass Respekt mehr auf Personen ausgerichtet ist und Toleranz mehr auf Überzeugungen und Meinungen.
Respekt und Toleranz sind nicht dasselbe. Respekt muss man sich erarbeiten und verdienen. In sozial schwierigen Verhältnissen – zum Beispiel als Lehrer an einer Schule, die nicht weiterführend ist – wird es nicht einfach, sich Respekt zu verschaffen – auch und gerade als Respektsperson nicht.
Respekt und Anerkennung erntet jetzt auch der Verlierer Laschet bei seinen Parteigenossen, nachdem er einen geordneten Wechsel in der Partei einleiten möchte (ab 9.Oktober). Zuvor ist er von den eigenen Parteifreunden und einer Medienöffentlichkeit, die den mittelalterlichen Pranger wieder erfunden hat, als Person aufgrund seiner Mimik, Statur und Habitus wie ein Politiker selten zuvor ‚diskriminiert‘ worden – aufgrund von Eigenschaften, die man selber nicht verändern kann. Der ‚Scholzomat‘ ist eine weichere Variante davon. Vom alltäglichen Cybermobbing selbst an Schulen wollen wir erst gar nicht reden.
Da hemmte kein christliches Menschenbild mehr nicht einmal unter erwachsenen Christdemokraten. Immerhin haben Politiker verschiedener Parteien aus Laschets näherem Umfeld, so der stellvertretende Ministerpräsident Stamp (FDP), der Innenminister Reul (CDU) oder der Gesundheitsminister Laumann (CDU) deutlich gemacht, dass Laschet für klare Werthaltungen (darunter auch Respekt und Toleranz) stand und in NRW ein wirklicher Integrator der Politik war.
Das Kunststück von Scholz bestand darin, die Respektserzählung glaubwürdig mit Sozialdemokratie zu verbinden, nachdem man allein mit dem sozialdemokratischen Grundwert ‚Solidarität‘ (neben Freiheit und Gerechtigkeit) angesichts des Verhaltens vieler führender Sozialdemokraten über Jahre hinweg nicht mehr kommen konnte!
Auch nicht mit der sozialen Gerechtigkeit, dem eigentlichen ‚Markenkern‘ , nachdem der 100% Kandidat Schulz sich für seinen Wahlkampf 2017, der kläglich gescheitert war, buchstäblich „Zeit für Gerechtigkeit“ genommen hatte. Und: Was heißt schon Gerechtigkeit? Immerhin ist dabei das Sozialstaatskonzept von Andrea Nahles herausgekommen, das den kulturellen Bruch der Hartz-Reformen wieder heilte, worauf man aufbauen konnte.
Sozialdemokratie verweist auch auf Demokratie, das heißt: wir können wählen und entscheiden. Auch ein Anti-Trump wie Biden kann gewinnen. Scholz schöpfte Zuversicht und Erkenntnis aus dem amerikanischen Exempel, das sich vor unser aller Augen 2020/21 in der scheinbar so gefestigten ältesten Demokratie drastisch abspielte.
Das Buch von Michael Sandel über die Tyrannei der Meritokratie (2020) öffnete ihm die Augen, wie Linksliberale – die Mitte-Links-Parteien – den Kontakt zur breiten arbeitenden Bevölkerung verloren haben. Die Arroganz der (Bildungs-)Eliten widerspricht dem Common sense der Sozialdemokraten.
Dieser ist liberal, sozial und demokratisch. Er setzt sich nicht nur eine kulturelle oder identitätspolitische Brille auf und verliert nicht die Dynamiken des Fortschritts und der Modernisierung aus dem Auge. Die reichen Industrienationen sind seit den 80er Jahren herausgefordert. Dabei muss man sich auf einiges neu einstellen, weil es „so oder so stattfindet“ (Scholz).
Das ist die überwältigende Realität der modernen funktional differenzierten Gesellschaft mit ihren Hürden gegenseitiger Indifferenz oder konkreter gesagt: der heutige Kampf um die Technologievorherrschaft überwiegend zwischen den USA und China, wobei Europa nicht mehr im Zentrum der Weltgeschichte steht. Auf die Folgeprobleme kann und muss sich eine Politik des Respekts einstellen.
Dabei geht es um Wohlstandsversprechen, Sicherung von Lebensleistungen, Aufstieg, Würde der Arbeit und Berufsstolz. Das sind die Worte der sozialdemokratischen Arbeiter- und Fortschrittspartei und die Worte des Arbeitsanwalts Olaf Scholz, was zusammenpasst. Mit der Respektserzählung wendet sich Scholz aktuell gegen die „Überbetonung der Meritokratie“ als Platzanweiser in der Gesellschaft.
„Das meritokratische Prinzip in einer Gesellschaft der Singularitäten blendet aus, dass wir eine arbeitsteilige Gesellschaft sind, in der wir alle aufeinander angewiesen sind.“ Auch und gerade ein gut verdienendes Akademikerpaar ist auf „reinigen, liefern, kochen, betreuen“ und vieles andere angewiesen.
Die Pandemiekrise hat diese Erfahrung verstärkt, so dass man sagen kann, dass eine arbeitsteilige Gesellschaft vor allem auf eines angewiesen bleibt: Solidarität, was sich einmal mehr bewahrheitet hat. Solidarität wurde nicht zufällig 2020 wieder zum Hauptwort und ist seit jeher ein Grundwert der Christ- wie der Sozialdemokratie. Begriffe haben auch in unserer Alltagssprache ihren Ort und ihre logische Geographie.
Respekt sind wir auch denen schuldig, die wir in der Krise plötzlich als „systemrelevant“ entdeckt haben: Kassiererinnen, Erzieherinnen, Busfahrer, Pfleger u.v.a. Ihr Beitrag zum Funktionieren der Gesellschaft war vorher nicht genügend sichtbar und kaum wertgeschätzt auch im materiellen Sinne (Beitragsgerechtigkeit).
Würde und Anerkennung sind dem Respekt benachbarte Begriffe. Rücksichtslosigkeit, Arroganz und Verachtung heißen die Gegenbegriffe, deren Realitäten man am Arbeitsplatz, in der Schule und am Wohnort unmittelbar entgegentreten muss. Der nachträglich erhobene moralische Zeigefinger hilft dagegen wenig, höchstens dem eigenen Gewissen. Die Würde der Arbeit verlangt zum Beispiel einen Mindestlohn und Tarifverträge. Gerade die sogenannt kleinen Leute benötigen im „Kampf um Anerkennung“ (Hegel) starke Verbündete, darunter den Staat, den schützenden und helfenden Staat.
Aufgrund der Prozesse, die ohnehin ablaufen, gibt es Spaltungen der Gesellschaft und Disparitäten zwischen den Regionen. Harte Konflikte sind unumgänglich, und für die Politik einer Fortschrittskoalition muss es darum gehen: Erstens diese Konflikte zivil auszutragen und zweitens tragfähige Kompromisse und Auswege zu finden. Ein solcher Ausweg ist beispielsweise die Weiterqualifizierung für einen neuen Beruf oder ein Bafög für die Lebensmitte. Kreative Lösungen sind möglich. Scholz definiert Politik als „führen und zusammenführen“, das heißt: „fortschrittlich integrieren“.
Das Wort ‚Toleranz‘ kommt im Text von Scholz nicht vor. Dafür spricht er von Anti-Diskriminierungspolitik und Räumen für Gespräche und Demokratie, die fehlen würden.
Nach 1990 war die Toleranz die Antwort auf den erschreckenden Fremdenhass, der Verletzte und Tote forderte. Das neue Land Brandenburg war aufgrund der alltäglichen Übergriffe ein kompromittiertes Land.
Das Handlungskonzept ‚Tolerantes Brandenburg‘, das 1998 gegründet wurde, versuchte schließlich eine entschiedene Antwort durch eine Kombination von rechtsstaatlicher und zivilgesellschaftlicher Gegenwehr zu geben. Das neue Toleranzedikt (2008) wiederum sollte das demokratiepolitische Konzept vertiefen und zugleich verbreitern.
Das moderne neue Toleranzedikt wurde erst nach 1989 möglich. In seinem Zentrum steht der Freiheitsgedanke, genauer: die größtmögliche Freiheit aller. Erst dieser Gedanke erfordert die nötige zivile Toleranz, die deshalb in der Moderne immer wichtiger wird – aufgrund der individuellen, bürgerlichen und politischen Freiheiten.
Dies wiederum erfordert, dass wir uns solidarisch auch um die Voraussetzungen dieser Freiheiten kümmern im Sinne von gerechten Chancen für alle. Darum ringen wir in der Demokratie auf verschiedenen Ebenen: kommunal, regional, national, europäisch und global. Freiheit, Toleranz, Solidarität und Demokratie sind aufeinander angewiesen.
Wir unterscheiden das alltägliche individuelle Mit- und Nebeneinander und das politisch-öffentliche Mit- und Gegeneinander. Selbstbehauptung, Bestreiten und Geltenlassen findet in beiden Bereichen statt, wenngleich mit unterschiedlicher Intensität und Konsequenz. Toleranz haben wir im neuen Toleranzedikt (2008) als Fähigkeit definiert, Geduld, Offenheit und die Zivilisierung von Differenzen kombinieren zu können (S.22).
Die politische Auseinandersetzung geht polemisch weiter als der alltägliche Zwist, dem man auch ausweichen kann. Nicht umsonst spricht man von Wahl- und Abstimmungskämpfen. Der zivilisierte Streit ist erwünscht und notwendig, die kämpferische Toleranz ist dafür bestenfalls die demokratische Minimalethik. Die Regeln und Grenzen sind bei Kämpfen indessen nie eindeutig und unverrückbar. Manches in der heutigen schnellen entfesselten Medien- und Spaßgesellschaft ist schwer zu ertragen, was die Toleranz geradezu ins Stoische treibt oder neue Formen der Ignoranz hervorruft.
Gerade in der kontroversen Parteienpolitik ist besonders viel zu ertragen, um nachher – nach dem Kampf mit seinen Entgleisungen, Vorwürfen und Unterstellungen, wenn die Ergebnisse vorliegen – gleichwohl Gespräche führen zu können. Unter demokratischen Parteien und bei staatspolitischer Verantwortung muss dies wegen der demokratischen Regierbarkeit immer möglich bleiben.
Eine „Politik der Verständigungen“ ist heute auf allen Ebenen der Politik nötig. So Niklas Luhmann, der Theoretiker der modernen funktional differenzierten Gesellschaft (Systemtheorie der Gesellschaft, Berlin 2017). Luhmann selber ist aufgrund seiner Theorie Steuerungspessimist. Auf der anderen Seite finden wir heute Räte und Beiräte, auch Bürgerräte auf allen Ebenen der Politik. Ihre Formate können demokratisch oder weniger demokratisch sein, gewählt, gelost berufen, korporativ, auf jeden Fall führen nur noch sie in einer heterogenen Gesellschaft zu vorübergehenden Gemeinsamkeiten bei allem Streit und Dissens.
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