Religionspolitik und Toleranz

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Der französische Islamrat hat nach den entsetzlichen Attentaten auf den Lehrer Samuel Paty in Paris und auf Mitglieder einer Kirchengemeinde in Nizza eine Grundsatzcharta unterschrieben, die Staatspräsident Macron seit seiner Rede gegen „islamistischen Separatismus“ im Oktober 2020 gefordert hatte. Parallel dazu wird ein Gesetzesentwurf “ zur Stärkung des Respekts vor den Prinzipien der Republik“ diskutiert, der weitgehende Maßnahmen von Seiten des Staates bzw. der Präfekten vorsieht, bei denen alle Religionsgemeinschaften, also auch katholische, protestantische und jüdische, Kollateralschäden für die Religionsfreiheit befürchten, weil sicherheitspolitische Aspekte überwiegen.

Zum einen birgt dies die Gefahr eines Generalverdachts gegenüber den geschätzten fünf bis sechs Millionen Muslimen in Frankreich, die ihren Glauben praktizieren, und den weit mehr ‚culture musulmane‘. Zum anderen existiert die reale Gefahr des islamistischen Extremismus. Seit dem Angriff auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo am 7. Januar 2015 und den koordinierten Terroranschlägen am 13.November desselben Jahres in Paris mit 130 Toten steht Frankreich unter Schock. Die Lage bleibt gesellschaftlich und politisch, selbst an Schulen und in der Lehrerschaft aufs Äußerste angespannt. Am 16.12. 2020 fand der bisher größte, historisch genannte Prozess wegen islamistischer Anschläge mit harten Urteilen seinen Abschluss.

Die ‚Charte des principes‘ anerkennt das Laizitätsprinzip (1905) und die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Sie verwirft jegliche politische Instrumentalisierung des Islam und die Einmischung fremder Staaten, etwa bei der Ausbildung der Imame. Der Conseil francais du Culte musulman (CFCM) repräsentiert jedoch nur einen Teil der französischen Muslime, weshalb seine Legitimität umstritten ist. Er steht für die eher konservativen Islamverbände der Einwandergeneration (Algerier, Türken u.a.). Der Staat hat im Wesentlichen die Charta formuliert, und die Islamverbände wollten nicht abseitsstehen. Wie weit sie aber innerlich dahinterstehen, ist eine andere Frage. Und wie ist das Verhältnis der Jungen zur Moschee der ‚Alten‘ ?2 Woran orientieren sie sich? Beobachter stellen eine Abkehr von der organisierten Religion fest – wie fast überall. Jüngere Generationen informieren und radikalisieren sich übers Internet. Die dritte Einwanderergeneration ist heute in Frankreich schlechter integriert als ihre Eltern, und das ist nicht primär ein religionspolitisches, sondern ein gesellschaftliches Problem, wie es zum Beispiel in den Pariser Vorstadtunruhen im November 2005 manifest geworden ist.

Die Imamausbildung – der Einfluss der Prediger – ist das eine Thema, wie jüngst auch beim Islamrat in Deutschland, und die Radikalisierung bzw. De-Radikalisierung ist ein anderes Thema. Auch bei den österreichischen und deutschen Moscheen gibt es den Verdacht: Was wird gepredigt, und in welcher Sprache soll dies geschehen? Im französischen Fall könnte man auch sagen, dass der Staat etwas durchzusetzen versucht, eine Art islamischer Zivilreligion bzw. genauer: die französische Bürgerreligion. Das war auch bei Rousseaus Zivilreligion am Schluss des Gesellschaftsvertrags (1762) so. Ein paar für die damalige Zeit selbstverständliche (christliche) Annahmen für die „Gesinnung eines Miteinander“ (sentiments de sociabilité) sollten das Ganze innerlich zusammenhalten: Existenz einer Gottheit, zukünftiges Leben, das Glück der Gerechten und die Bestrafung der Bösen sowie die Heiligkeit des Gesellschaftsvertrages und der Gesetze.

Hinzukommt das Verbot der Intoleranz beziehungsweise das Gebot der Toleranz, aus der – wie bei Locke (1689) – die Katholiken und die Atheisten ausgeschlossen waren, was lange nachwirkte und bis heute in der politischen Kultur der USA prägende Folgen hat. Auch unsere Toleranz ist selbstverständlich die Toleranz unserer Zeit, selbst die liberale Toleranz ist nicht nur tolerant. Sie eröffnet vielmehr Spielräume der Freiheit, der freilich die zivile Tugend der Toleranz entsprechen muss.

Rousseaus Zivilreligion war nicht als Staatsreligion (etwa als katholische, orthodoxe oder islamische) gedacht, und diese bürgerliche Religion, genauer: Religion des Bürgers, war für Rousseau auch nicht die eigentlich christliche Religion. Diese findet sich vielmehr im Bekenntnis des savoyardischen Vikars im ‚Emile‘ (1762). In der Nachfolge des Jesus von Nazareth, dem Anti-Politiker, war mit diesem persönlichen Glaubensbekenntnis kein widerstandsfähiger Staat zu machen. Allerdings auch keine hierarchische katholische Kirche, mit der Jesus nicht rechnete, denn er erwartete das Gottesreich. In diesem Punkt dachte Rousseau als politischer Theoretiker ähnlich wie Machiavelli über die christliche Religion, die funktional nicht brauchbar und politisch unzuverlässig schien, weshalb sie sich als Moral der neu begründeten Politik unterzuordnen hatte. Machiavelli stand dabei als Extrembeispiel der religiöse Terror des Dominikaners Savonarola in Florenz vor Augen (1494-98).

Bei Rousseau gibt es indessen explizit verschiedene Verständnisse von (christlicher) Religion. Das Verhältnis zwischen Politik und Religion ist deshalb komplizierter, was wiederum für unsere heutige Diskussion lehrreich ist. Halten wir also zumindest folgende Unterscheidungen fest:
– Staatsreligion
– kirchlich organisierte Religion
– persönliches Glaubensbekenntnis
– Zivilreligion als Religion des Bürgers

Rousseau war als Person wie als Theoretiker zwiegestalten, was sich in seiner politischen Theorie und in seiner Pädagogik spiegelt. Er entdeckt, lebt und reflektiert die moderne
(Aussteiger-) Subjektivität in seinen „Bekenntnissen“ und „Träumereien“, was – neben politischer Theorie und Pädagogik- sein dritter wirkungsmächtiger Beitrag zum Diskurs der Moderne über die Moderne ist. Genauso orientiert er sich aber in seinen kulturkritischen Schriften (1750/1755) an der antiken Polis und ihren tugendhaften Bürgern, womit er aus dem Kreis der damaligen französischen Aufklärer herausfällt. Die Dialektik des Fortschritts ist schon sein Thema.

In der Systematik seines ‚Contrat social‘ (1762) versucht er eine Vermittlung zwischen der natürlichen Existenz der modernen Subjektivität, die er lebt und gegen die höfische Gesellschaft seiner Zeit formuliert, und der politischen Existenz des Citoyen, der Teilhaber der souveränen Gewalt ist. Das ‚missing link‘ zwischen natürlicher und politischer Existenz (Spaemann) ist die ‚religion civile‘. Davon gibt es bis heute verschiedene Varianten. Ob auch die Demokratie aus affektpolitischen Gründen eines solchen nicht-kirchlichen, transkonfessionellen (Bürger-) Glaubens bedarf, ist die Frage, die hier allerdings nicht unser Thema ist. Wir wollen uns hier primär noch einmal mit der Seite der Religionen selber beschäftigen, und die spezielle Frage aufwerfen, welcher Religionspolitik und Toleranz es ihnen gegenüber bedarf.

Woran müssen heute alle glauben können? An die Verfassung. Und diese müsste mit ihren niedergeschriebenen Normen als oberste Rechtsebene bei allem Interpretationsstreit eigentlich deutlich genug sein. Juristen sagen, was Verfassungsrecht sei, bestimmt letztlich das Verfassungsgericht. Man könnte aber auch von einer Zivilreligion der Menschenrechte, von der Zivilreligion der Gleichheit oder von der Zivilreligion der Würde, des Individuums oder der Person sprechen. Letzteres steckt auch im Liberalismus (durchaus von Locke ausgehend), der heute zu einem großen Teil nicht mehr religiös ist. Genese und Geltung haben sich getrennt. Viele Liberale geben sich deshalb zurecht mit einem rechtlichen Zustand, der friedensfähig ist, zufrieden; sie brauchen keine Religion oder sublimierte Zivilreligion. Heute existiert daher ebenso ein religionsablehnender säkularer Liberalismus, für den auch die klerikale Parallelgesellschaft der katholischen Kirche ein Dorn im Auge ist, wie ein mehr religionsfreundlicher Liberalismus.

Letzterer entspricht sicherlich nicht dem französischen Modell der Laizität, während die Religionstoleranz in den USA und Deutschland eine größere Rolle spielt. Bei der französischen Bürgerreligion geht es um die Durchsetzung republikanischer Werte von Seiten des Staates. „La Laicité n’est pas la tolérance“ (Kintzler). Kann es unter diesen Bedingungen überhaupt eine Lösung geben, die für alle Seiten befriedigend ist? Der französische Staat, der aus einer Revolution gegen die Religion, genauer: gegen die katholische Kirche und ihren Klerus, worauf sich auch Voltaires Religionsspott bezog, hervorgegangen ist, hat indes keine innere Beziehung zur Religion, was sich immer wieder zeigt, wenn heute Nation und Republik gefeiert werden, selbst beim Wiederaufbau der Kathedrale Notre Dame. Frankreich ist das Land der Atheisten und des Esprits, deren Schnittmenge größer sein könnte.

Die Klammer, die alles zusammenhalten soll, ist die republikanische Idee, wofür vor allem die Schulen stehen, und der Islam ist aus dieser Sicht eine Hybridreligion, die nicht wirklich zwischen Religion und Politik trennt. Es gilt deshalb, den politischen Islam als ‚politische Religion‘, was begrifflich und inhaltlich noch einmal etwas anderes ist als ‚Zivilreligion‘, die als Liberalitätsgarant wirken soll, zu stoppen. Ein Euroislam oder gar ein französischer Islam kann auf diesem Boden nicht gedeihen. Eine nationale Identitätsstiftung hat auch in der arabischen Welt nicht funktioniert, der Islam blieb den Menschen als gesellschaftliches und soziales Bindemittel wichtiger. Folgende Unterscheidungen sind zu beachten:
– politische Religionen (mit totalitären Zügen)
– Varianten der Zivilreligion bzw. Bürgerreligion
– Extremismen (religiös und nicht-religiös begründet).

Religiöse Kräfte und Einrichtungen können den Menschen – im besten Fall- nicht nur Rückhalt und Orientierung im Privaten geben, sondern sie können darüber hinaus auch positiven Einfluss auf zivilgesellschaftliche Entwicklungen und Solidargemeinschaften nehmen. Agieren sie hingegen machtpolitisch, führt dies zu rechtlich-politische Verwerfungen, im schlimmsten Fall zu theokratischen Strukturen, die an die Stelle von Liberalismus und Demokratie treten (siehe Iran). Um in modernen Gesellschaften über den Rahmen der eigenen Belange hinaus partizipieren zu können, bedürfen Religionsgemeinschaften einer Vereinbarkeit mit politischer Aufklärung. Dies kann auch über die Brücke einer Zivilreligion erfolgen.

Religiöse Reformen müssen von innen kommen, der Staat kann sie nicht deklarieren oder gar durchsetzen, er kann höchstens Rahmenbedingungen setzen und hat dafür “ das Recht, zu erzwingen“(Kant). Das hat Immanuel Kant klar erkannt. Wenn etwas getan werden muss, was innerlich abgelehnt wird, führt dies zu Frustrationen, die sich aggressiv anstauen. Hass und Gewalt sind oft die Folge. Das Problem liegt tiefer und kann nur innerhalb der Religion adressiert werden. Die Herausforderung ist in der Hermeneutik zu finden, die der Fundamentalismus mit Macht zugunsten seiner Dogmen abwehrt. Diesen Konflikt gab und gibt es in jeder Religion. Im Islam hat sich im Mittelalter eine dogmatische Theologie durchgesetzt, die sich als abgeschlossen betrachtet und das eigenständige Urteil des Gläubigen einschränkt.

Eine neuzeitliche Reformation ist im Islam ausgeblieben, eine historische Aufklärung ebenso, obwohl es an Richtungsstreitigkeiten und Kontroversen nicht fehlte. Die islamische Theologie hat sich dadurch versteinert und ist nur schwer zu reformieren. Der Fundamentalismus sitzt politisch-theologisch auf dem traditionellen orthodoxen Islam auf und radikalisiert dessen antimoderne Tendenz. Die dogmatisch-objektivistische Hermeneutik, die es freilich nicht nur im Islam gibt, lässt sich deshalb durch eine kritische Hermeneutik nur schwerlich aufbrechen. Aufklärung kann man jedoch nicht von außen herantragen, sondern sie muss bei den Gläubigen und ihren Gemeinden selber beginnen. Aufklärung und Religion schließen sich nicht prinzipiell aus, ebenso wenig wie Aufklärung und Tradition, eine kritische Traditionsaneignung ist möglich. Nicht jede Irritation einer schnell gekränkten Gesellschaft muss gleich beseitigt werden.

Die religionspolitischen Probleme, obwohl von unterschiedlicher gesellschaftlicher Brisanz und Größe, sind in Frankreich und Deutschland ähnlich, doch die Herangehensweise ist verschieden. Es handelt sich systematisch um unterschiedliche Trennungssysteme und Rollenzuschreibungen zwischen Religion und Politik. Die Voraussetzungen sind in den USA aus historischen Gründen noch einmal andere: „Amerika, Du hast es besser“ (Lübbe 2016). Religionspolitisch, denn die USA sind nicht laizistisch, im Gegenteil: die Religionen blühen öffentlich und vielfältig auf, und sie sind auch nicht durch ein deutsches Staatskirchenrecht eingeengt. Dieses wirft besondere Probleme auf, so dass das Thema ’neue Religionspolitik‘ (insbesondere gegenüber dem Islam mit 5,4 bis 5,7% Bevölkerungsanteil) hier aufkommt, während die evangelische und katholische Kirche jede zivilreligiöse Messe der offiziellen Bundesrepublik obligatorischer Weise begleiten. ‚Grundwerte als Zivilreligion‘ (Luhmann) ist nicht zufällig ein bekannter deutscher Titel, der inhaltlich dazu passt. Und die öffentliche Theologie ist stark protestantisch geprägt.

Die Religionspolitik in Frankreich und den USA, die eine Revolution mit der Religion und für die Religionsfreiheit, die quasi vor dem Staat kommt, geerbt haben, ist hingegen die alte, obwohl es auch hier aufgrund der Migration neue Probleme gibt, zum Beispiel nicht nur mit militanten evangelikalen Abtreibungsgegnern, die Kliniken überfallen und Ärzte bedrohen, sondern auch mit katholischen Abtreibungsgegnern (beispielsweise unter den ‚Latinos‘). Die Einwanderung bringt nicht nur Vielfalt und Bereicherung mit sich, sondern auch Intoleranz auf allen Seiten, die auf dem gemeinsamen Weg einer besseren inklusiveren Nation nicht leicht zu überwinden sind. Deutschland steht in dieser Hinsicht noch am Beginn einer großen Herausforderung („Wir schaffen das“), denn die seit 2015 mehr als eine Million Geflüchteten gehören mehrheitlich einem anderen Kulturkreis an als die Aufnahmegesellschaft. Es sind aber nicht nur die Unterschiede zwischen den jeweiligen Religionen und ihrer Haltung zur Politik und gesellschaftlichen Grundwerten zu beachten, sondern auch die Intensität der Religiosität, die sich im öffentlichen Erscheinungsbild der Gläubigen ausdrückt.

Erneut muss deshalb allenthalben vermehrt zu Toleranz aufgerufen werden, die religionspolitisch die Voraussetzung der verfassungsmässig garantierten Religionsfreiheit ist. Aber auch die Warnungen vor „falscher Toleranz“ von kompetenter Seite werden angesichts islamistischer Radikalisierung vernehmbarer (Mansour, Abdel-Samad). In Europa ist deswegen die Diskussion über die Grenzen der Toleranz neu entflammt, aber es handelt sich natürlich um ein weltweites Problem. Unter traurigen Umständen sind wir erst vor kurzem auf die kulturellen und ethno-religiösen Besonderheiten von Jesiden, Rohingya, Uiguren, Kopten, Aleviten oder Drusen aufmerksam geworden. Auch die Verfolgung von Christen nimmt weltweit zu. Die Religionsfreiheit wird nicht umsonst häufig (nicht nur historisch) das erste Menschenrecht genannt, umso mehr ist sie heute zu verteidigen.

Wo und wie kollidieren also bei uns organisierte Religionen und persönliche Glaubensbekenntnisse mit öffentlichen Regeln des Staates. Wo lässt sich der Staat zum Beispiel bei der Imamausbildung über den Tisch ziehen? Wissen wir genug über die kulturellen und religiösen Hintergründe und Sozialisationen unserer Neubürger aus der islamischen Welt? Und wo sind Staat, Gesellschaft und Kommunen in der Pflicht, Rahmenbedingungen für religiöses Gemeinschaftsleben nicht nur zu akzeptieren, sondern auch zu fördern, etwa in der Bereitstellung von geeigneten Räumlichkeiten für islamische Gottesdienste, was ein elementares Problem zum Beispiel in brandenburgischen Kommunen ist.

Wo liegen Islamophobie, Antisemitismus, Rassismus und Intoleranz vor? Die bekanntesten Toleranzprobleme sind die nunmehr schon langjährigen Diskussionen um das Kopftuch und die Verschleierung. Aber auch die heftigen Reaktionen 2012 mit zeitweise antisemitischen Untertönen auf ein Verbot der Beschneidung in Deutschland gehören dazu. 2020 wurden bundesweit so viele judenfeindliche Angriffe registriert wie nie zuvor seit 2001. Der Antisemitismus ist jedoch wie der Umgang mit dem Islam ein europaweites Problem. Der französische Staat hat seit 2005 große Schwierigkeiten die jüdische Bevölkerung, welche die größte ist in Europa, ausreichend zu schützen. Primäre Träger der terroristischen Angriffe sind radikale Islamisten. Aus Gründen mangelnder Sicherheit wandern deswegen viele Juden aus.

Nach dem Anschlag in Nizza am 30.10.2020 erfolgte in Deutschland der Aufruf „Stoppen wir den politischen Islam!“ (www.welt.de), der fünf Forderungen auch an die Wissenschaft enthält. Am Holocaust-Gedenktag gestand schließlich Bundestagspräsident Schäuble bemerkenswerterweise ein, dass die Erinnerungskultur, die in Deutschland ein konstitutiver Bestandteil der politischen Kultur ist, keinen Schutz gegen Rassismus und Antisemitismus bietet (27.1.2021). Der Schock nach dem Attentat auf die Synagoge in Halle (Saale) am 9.Oktober 2019 (Jom Kippur) durch einen Rechtsextremisten sitzt tief.

Am 7.März 2021 wird in der Schweiz über die Volksinitiative „Ja zum Verhüllungsverbot“ abgestimmt. “ Egal, ob es drei oder dreitausend sind – schon eine Burkaträgerin ist zu viel „, so Alice Schwarzer, die sich als linke Islamismuskritikerin versteht (NZZ, 8.2.2021, S.17). Die Nein-Kampagne argumentiert mit dem Slogan „Freiheit ist für alle etwas anderes“; die Initiative sei „islamophobe Symbolpolitik“ und ein illiberaler Angriff auf die Grundrechte (persönliche Freiheit, Religionsfreiheit). Eine breite, emotional aufgewühlte und verfassungsrechtlich aufschlussreiche Debatte ist im Gange. Die Toleranzprobleme werden mit den garantierten Freiheiten nicht kleiner, sondern grösser.

Wo also benötigen wir tatsächlich eine neue Religionspolitik, und wie könnte diese aussehen? Mit neuen Dialogformaten und welchen Teilnehmern? Zu welchen Themen? Und wo braucht es eine erneuerte Toleranz? Wie zieht sie ihre Grenzen? Nicht nur der Staat ist gefordert, auch die Zivilgesellschaft, die Gesicht zeigen muss: Je suis Charlie, je suis Samuel, Berlin trägt Kippa, Potsdam trägt Kippa usw. und die gegen Antisemitismus (Halle), Islamfeindschaft und Rechtsextremismus (Hanau) vorgehen muss, ebenso wie gegen alle Extremismen, die man genau voneinander unterscheiden sollte, um sie besser bekämpfen zu können. Das ‚Je suis Samuel‘ ist in Deutschland zu kurz gekommen, zumal es auch um die Selbständigkeit der Lehrer geht! Dabei ist der Toleranzgedanke gleichermaßen an diese aktive Bürger/innengesellschaft zu adressieren, damit sie bündnisfähig wird und wirksam bleibt. Das lässt sich nicht an den Staat und die Politik allein delegieren, was einer verantworteten Freiheit widerspricht. Es ist vielmehr eine vitale alltägliche Frage des Zusammenlebens vieler Verschiedener, die füreinander einstehen – wir sind Viele.

Ob auch in der Bundesrepublik Deutschland eine ‚Charte des principes‘ notwendig und sinnvoll ist, erscheint fraglich. Die breite Erläuterung der Leitsätze der Verfassung statt einer Leitkultur (der letzte missglückte Versuch stammt von Innenminister de Maizière) sollte genügen. Absehbar ist indessen, dass auch für die deutsche Politik und Gesellschaft eine doppelte Herausforderung besteht: Einerseits den muslimischen Gemeinschaften und ihren Gläubigen akzeptable Rahmenbedingungen für ihre Glaubenspraxis zu bieten, die mit jenen für andere (anerkannte) Religionsgemeinschaften vergleichbar sind; und andererseits zu vermitteln, wo religiös-fundamentalistische Sichten und Praktiken unvermeidlich mit demokratischen Prinzipien und der Menschenwürde kollidieren und daher keine Toleranz erwarten können.

Religionspolitik ist heute eine komplexe Intervention von Seiten des Staates und der Gesellschaft, die von rigoroser Terrorismusbekämpfung bis zu umfassenden präventiven Bildungsprogrammen reicht. Zivilgesellschaft und Zivilreligion können flankierend helfen, indem der interreligiöse Trialog (Christen, Juden, Muslime) vorangetrieben wird.

Februar 2021

Bildnachweis: Photo by Rafael Garcin on Unsplash