Reflexive Staatsfähigkeit

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Einmal mehr geht es um den Staat in der Krise und nicht primär um die Krise des Staates. Es geht, mit anderen Worten, um den starken und verlässlichen Staat, um ‚big government‘ und die ‚Bazooka‘ (Scholz), die aus der Krise herausführen können.

Ist also der Staat unser Gemeinwesen? Was heißt das? Und was bedeutet das, wenn wir zwischen Gemeinwesen, Gesellschaft und Gemeinschaft tunlichst unterscheiden sollten. Eine befriedigende Staatsdefinition liegt nicht gleich auf der Hand, ebenso wenig eine befriedigende Politikdefinition, obwohl doch beides alltägliche Grundbegriffe sind. Entscheidet die gesellschaftliche Krisensituation und die politische (Parteien-) Demokratie, wer mit dem Staat wie Politik machen kann – zum Beispiel der Demokrat Biden in den USA, der Technokrat Draghi in Italien, der Sozialist Sanchez in Spanien usw.. Von der Beantwortung dieser Frage hängt nicht nur wirtschaftspolitisch einiges ab.

Im gegenwärtigen Wahlkampf in Deutschland werfen Liberale den Sozialdemokraten (natürlich) und inzwischen auch den Grünen als neuen Mitbewerbern (verstärkt) „Staatsgläubigkeit“ vor. Das ist ein aufschlussreiches und interessantes Wort, welches in diesem Kontext polemisch verwendet wird, denn Staatsgläubigkeit ist offenbar ein Vergehen wider unseren wichtigsten Wert: den Wert der Freiheit.

Warum aber soll dieser Bürgerglaube, die sozialdemokratische ‚Staatsfreundschaft‘ – so Dolf Sternberger zum 100. Geburtstag der SPD, zu der inzwischen die grüne Staatsfreundschaft hinzugekommen ist – plötzlich ein Irrglaube sein, nachdem genau dieser konstruktive Bürgerglaube, unterstützt durch das Wirtschaftswachstum, nachweislich – theoretisch wie parteipolitisch – aus den ökonomischen und politischen Krisen des Liberalismus im 20. Jahrhundert herausgeführt hat. Oder gäbe es sonst den Liberalismus als Hoffnungsbegriff noch? Er hat sich vielmehr mit dem Staat verwandelt, und er hat den Staat gleichzeitig humanisiert. Das Verhältnis von Freiheit und Staat ist somit begrifflich-philosophisch, historisch und politisch komplizierter.

Die verrechtlichte Solidarität, auf der der moderne Rechts-, Sozial- und Leistungsstaat beruht, ist umso mehr ein verallgemeinerter Bürgerglaube, je demokratischer er ist, wie der Glaube an die Kraft der Freiheit, der nicht versiegen darf. Liberale und Sozialisten setzen unterschiedliche Akzente, die sich historisch wechselseitig immer wieder korrigiert haben und weiterhin korrigieren müssen. Inzwischen kommt die Kritik am ökoblinden Freiheitsbegriff aufgrund bedrohlicher Nebenfolgen des bisherigen Fortschritts seit den 70er Jahren hinzu. Die Rechte künftiger Generationen müssen nach Atomausstieg und Klimawandel in die Grundrechteabwägung eingehen. Und wenn der Staat (wer sonst?) tatsächlich verantwortlich sein soll für die Nebenfolgen menschlichen Handelns mindert das die Rolle des Staates nicht, sondern stärkt sie noch einmal gewaltig. Die verschiedenen Facetten der Sicherheit in der Moderne führen zur schwierigen Problematik eines freiheitlichen Rechtsstaates, der seine demokratische Legitimität und Durchsetzungsfähigkeit wahren muss.

Ist aber die bundesrepublikanische Marktwirtschaft nicht schon lange sozial und ökologisch? Sicherlich nicht perfekt, aber perfektionierbar. Wer, wenn nicht ein Sozialliberalismus sollte diese Reformen voranbringen? Die Begriffe schillern natürich, insbesondere im politisch-polemischen Gebrauch, der selten genau ist. Im Grunde geht es aber um eine marktwirtschaftliche Ordnung mit einem sozialen und ökologischen Rahmen, auch bei den neuen Grünen. Daraus lässt sich eine ‚zivilisierte Marktwirtschaft‘ und eine ‚integrative Wirtschaftsethik‘ ableiten (Peter Ulrich). Die Frage ist nur, wie man diesen Rahmen versteht. Das ist bei der Verfassung genauso: Was ist noch in ihrem Rahmen, und was sprengt ihn?

Die politische Kunst besteht darin, dass es sich um einen möglichst allgemeinen Rahmen handelt, der die Handlungsfähigkeit der Einzelnen so wenig wie möglich einschränkt. Das heißt: Möglichst keine ins Einzelne gehenden Anordnungen, sondern besser allgemeine Gesetze, die sich wieder revidieren lassen; mithin keine dirigistischen Zielvorgaben, die lediglich zu einer Republik der Verbote, Verordnungen und Quoten führen. Die guten Instrumente sind vorhanden, sie müssen nur besser genutzt und gegebenenfalls weiterentwickelt werden.

Wenn wir die mehrdeutige Freiheit ernstnehmen, müssen wir den Einzelnen die Freiräume lassen, die zu Fehlern und Sackgassen führen können – Freiheit, Toleranz und Fehlerkultur. Das ist allemal die menschlichere Formel als die Arroganz derjenigen, die glauben im Besitz der Wahrheit zu sein und anderen diese Wahrheit aufzwingen. Das war schon die singuläre Argumentation Baruch de Spinozas im 17. Jahrhundert für die demokratische Regierungsform (Theologisch-Politischer Traktat 1670).

Stattdessen treten wir heute wieder in neue Kulturkämpfe ein gegen das Erbe europäischer Aufklärung und gegen Liberalismus, Toleranz und Demokratie. Im Kleinen zeigt sich dies auch am Beispiel des vernachlässigten und unreflektierten, obwohl zentralen Staatsbegriffs. Immer noch oder genauer: immer wieder wird der Sozialismusbegriff im liberalen und konservativen Lager inflationär verwendet, als ob wir uns noch im Weltanschauungskampf des Kalten Krieges befinden. Er ist jedoch ebenso wie im linken Lager der Neoliberalismus als polemischer Gegenbegriff ein Containerbegriff geworden, der alles und nichts erklärt.

Etiketten und meinungsstarke Sprüche, die mehr verbergen als aufdecken, wie Staatsgläubigkeit und Seuchensozialismus auf der einen Seite oder Kapitalismus und Sozialabbau auf der anderen Seite machen gerade in der Corona-Krise wieder die Runde und verunmöglichen so eine differenzierte Debatte über die „Neujustierung der Staatlichkeit“ (Reckwitz), die heute aus verschiedenen Gründen ansteht – auch und vor allem aus Gründen einer industriepolitischen Zeitenwende, bei der es ebenso um Klimaschutz wie um Arbeitsplätze geht.

Grundlegende Konzepte für einen intervenierenden Liberalismus liegen vor, zum Beispiel bei Alexander Rüstow (1885-1963), der heute ein unterschätzter Autor ist. Der gelehrte ‚Nicht-nur‘- Nationalökonom gehört – zusammen mit Wilhelm Röpke und Walter Eucken – zu den Vordenkern der sozialen Marktwirtschaft. Er prägte 1938 den Begriff „Neoliberalismus“ ( in Absetzung zu den Altliberalen), allerdings im Sinne eines Ordoliberalismus und nicht im Sinne eines radikalisierten Marktliberalismus. Dem „Versagen des Wirtschaftsliberalismus“ (1945) warf er vielmehr sogar die Entstehung des Nationalsozialismus vor.

Rüstow war Vertreter eines starken Staates in der Krise, durchaus im Sinne eines freiheitlichen Sozialismus (Oppenheimer) als drittem Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Man kann von einem sozialliberalen Interventionismus ( anstelle des altliberalen und heute marktradikalen dogmatischen Antiinterventionismus) sprechen, der die Wettbewerbspolitik durch eine Sozialpolitik der Grundsicherung und Chancen ergänzt.

Seine intellektuelle Leistung für die politische Theorie besteht vor allem darin, wie er die Vorstellungen von Adam Smith (1723-1790) von einer Harmonie des Marktes demystifiziert hat (die Religion der Marktwirtschaft) und damit gegen den klassischen Liberalismus, den er als Paläo-Liberalismus bezeichnete, argumentativ die Grundlagen für einen (‚Neo‘-)Sozialliberalismus schafft. Dieser benötigt, um funktionieren zu können, einen Ordnungsrahmen (darum Ordoliberalismus).

Es handelt sich freilich um das Gegenteil zu Friedrich von Hayeks Neoliberalismus, , der einen solchen Rahmen gerade in Abrede stellt, womit er unter anderem die Politik von Thatcher und Reagan in den 80er Jahren beeinflusste. Seitdem diskutieren wir den neokonservativen Neoliberalismus vor allem kritisch als Sozialabbau. In Bezug auf den Liberalismusbegriff herrscht Sprachverwirrung. Auch Hayek (1899-1992), der aus der österreichischen Schule der Nationalökonomie von Ludwig von Mises stammt, sieht die Marktwirtschaft als menschliches Werk, aber nicht als Ergebnis intentionalen Handelns, sondern als Ergebnis der Evolution.

Sozialliberalen wie Rüstow kommt es vor allem auf die Gestaltung des Rahmens an, was wir hier reflexive Staatsfähigkeit nennen, die jeweils mit spezifischen geschichtlichen Herausforderungen verbunden ist. Rüstow sieht dies zurecht als eine zivilisatorische Aufgabe, erst recht nach dem Zivilisationszusammenbruch des Nationalsozialismus, der ihn ins Exil trieb, für die er in seinem Hauptwerk theoretisch weit ausholt mit „Ortsbestimmung der Gegenwart“, 3 Bde., 1950-57. Der letzte Band steht unter der Fragestellung: Herrschaft oder Freiheit? Wie ist diese Frage in unseren zeithistorischen Kontext zu übersetzen, wenn es heute um das Verhältnis von Freiheit und Zwang im liberalen und demokratischen Rechtsstaat geht?

Das ist die politiktheoretische Grundfrage, zumal dann, wenn der Staat eine grundlegende zivilisatorische Rolle bei der Bearbeitung der Krisenfolgen übernimmt. Die Kurzzusammenfassung von Rüstows ‚opus magnum‘ trägt nicht zufällig den Titel “ Freiheit und Herrschaft. Eine Kritik der Zivilisation“ (2005). In einer lebendigen Demokratie wird diese Reflexion zu einer theoretisch wie praktisch schwierigen Frage, wenn man Freiheit als „Protest gegen fremden Willen“ versteht (siehe Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2018/1929, S.9).

Kant definierte das positive Recht (im Unterschied zur Moral) als „Recht zu zwingen“. Er steht damit in der Tradition von Hobbes (Staat als absolute Herrschaft) und Locke (Staat als zustimmungsfähige Autorität der Regierung) genauso wie die historisch- soziologische Zivilisationstheorie von Norbert Elias, der die Gewaltmonopolisierung im Staat als entscheidend für den Zivilisationsprozess der Menschen ansah (1939). Vor diesem theoretischen Hintergrund könnte man formulieren, dass es um das problematische Verhältnis von Freiheit und Zwang geht, wobei aus Fremdzwängen Selbstzwänge werden sollen, die das Verhalten steuern.

Die Debatte dreht sich dann genauer, konkreter und einschneidender für den Einzelnen wie die Gemeinwesen um die Kombination von Freiheit und Zivilität ( als Zuständigkeit für Zivilisation), wobei wir Zivilität als zivile, das heißt: einsichtige Einschränkung rücksichtsloser Freiheit begreifen. Gegenseitige Rücksichtnahme im Kleinen und urbane Koexistenz im Großen sind Ziele dieser politischen Zivilisiertheit, für die letztlich Recht und Staat garantieren. Solche Ordnungen gilt es immer wieder unter neuen Umständen und Herausforderungen zu schaffen. Sie bleiben fragil.

Der Sozialdemokratie wird seit den 80er Jahren gerne unterstellt, sie wolle zu viel Staat. Damit war polemisch der umverteilende keynesianische Wohlfahrtsstaat auf dem “ Weg zur Knechtschaft“ (Hayek 1944) angezielt. Dagegen wurde weltweit die Parole „Weniger Staat, mehr Freiheit“ und eine angebotsorientierte monetaristische Wirtschaftspolitik gesetzt. Ein bestimmter Teil der Bürgerschaft revoltierte damit auch gegen den bequemen und betreuten Wohlfahrtsstaatsbürger. Diese Spitze ist auch bei der heutigen Bürokratiekritik zu beachten. Schon Max Weber (1864-1920) kritisierte den Sozialismus, weil er nicht zu weniger, sondern zu mehr bürokratischer Herrschaft führt, während Joseph Schumpeter im Vergleich zum Kapitalismus und seinen Selbstzerstörungskräften dem „bürokratischen Sozialismus“ (womit nicht der Kommunismus gemeint war) positive Seiten abgewinnen konnte (1942).

Nunmehr seit längeren sollte die Verwaltungsmodernisierung in der Bundesrepublik zu einem schlanken Staat mit Bürokratieabbau führen – mit zweifelhaftem Erfolg, wie es gerade wieder bei der Pandemiebekämpfung, bis in die staatstragenden Schichten hinein schmerzhaft spürbar geworden ist. Die Staatsmodernisierung ist deshalb bei allen Parteien im Hinblick auf die Wahlen im September – Brinkhaus (CDU) spricht sogar von einer „kleinen Revolution“ – wieder ganz vorne auf die Agenda, gerückt, um die Auswüchse bürokratischer Herrschaft wie Langsamkeit, Umständlichkeit, Risikoscheu usw. zu bekämpfen. Auch eine bessere staatliche Feinsteuerung hilft hier nicht weiter, im Gegenteil. Diese Staats-, Organisations- und Verwaltungskritik ist mehr als berechtigt und zum Teil schon lange überfällig, damit daraus endlich praktische Konsequenzen gezogen werden.

Auf einer anderen Ebene der Argumentation liegt die Bürokratiekritik als Sozialismuskritik, wenn es um Umverteilung geht. Ein Mehr an Gleichheit und Gerechtigkeit erfordert Eingriffe in das gesellschaftliche Gefüge, manchmal auch auf Kosten gut funktionierender Systeme. An dieser Stelle gewinnt die Frage von Robert Nozick (1974) an Gewicht, weshalb eine durch Umverteilung erzeugte Verteilungsordnung (V2) besser sein soll als die ursprüngliche Verteilungsordnung (V1).

Staatliche Eingriffe gehen mit hohen Kosten einher und müssen deshalb gut durchdacht und begründet sein, was oftmals nicht der Fall ist, siehe dazu nur die aktuelle Diskussion um die Mietpreisbremse und den Mietendeckel. Es gibt auch einen linken und mittlerweile grünen Populismus, der sich durch Gleichheits- und Gerechtigkeitsforderungen beliebt machen will. Die vorgesehene moderate Vermögenssteuer, die es selbst in der Schweiz gibt, gehört jedoch nicht dazu. Und eine Erbschaftssteuer ist aus Gerechtigkeitsgründen ebenfalls an der Zeit in einer Gesellschaft, wo viel geerbt wird und in der die Vermögen und Einkommen immer weiter auseinandergehen. Die Löhne beispielsweise für Pflegekräfte müssen außerdem über Mindestlöhne hinausgehen, wenn man von Respekt und Anerkennung in der Politik noch reden will.

Die verbesserte Staatlichkeit in Bezug auf Infrastruktur, Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie Umweltschutz und Klimapolitik ist ebenso angesagt wie vor allem für breite Kreise der Bevölkerung in der Krise unerlässlich, denken wir nur an die zahlreichen Hilfsfonds und das teure Kurzarbeitergeld. Wenn der Staat schützt und hilft, so ist das kein Seuchensozialismus, sondern demokratisch legitim und nötig. In der Abwehr seiner vielfältigen Feinde braucht unser Gemeinwesen diese Legitimität sehr nötig, nötiger als manch anderes.

Foto von Felix Mittermeier von Pexels