Reflexive Realpolitik

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Am 100.Tag des Ukraine-Krieges kontrolliert Russland 20% des Territoriums. An ein Ende des Krieges ist nicht zu denken, vielmehr wird der Krieg nicht nur mit unverminderter Härte und Entschlossenheit fortgeführt, sondern erreicht neue Stufen der Eskalation.

Präsident Biden erhöht den Einsatz mit mächtigeren Raketensystemen, die in der Artillerie-Feldschlacht den Ausschlag geben können. Gleichwohl öffnet er auch die Tür für realpolitische Lösungen, die über Verhandlungen laufen müssen. Das nennen wir „reflexive Realpolitik“, die nicht hoffnungsnaiv ist, denn der Zermürbungskrieg kann noch Monate dauern und die Aushandlung einer Friedensregelung mit einem „Terrorstaat“ (Selenski) wird schwierig werden. Daran ist jetzt schon zu denken. Es gibt nicht nur verschiedene Kriege, sondern auch verschiedene Friedensverträge! Der status quo ante wäre die Mindestbedingung (Melnyk).

Biden schafft mit seinem schriftlichen Gastbeitrag für die ‚New York Times‘ noch einmal Klarheit, die in Pressekonferenzen bisweilen fehlt. Manche Worte sind vage, dehnbar und verschieden interpretierbar. Dieselbe besonnen-liberale Zeitung fragte zuvor kritisch, was denn eigentlich die Kriegsziele der USA seien: setzt es auf den Sturz Putins oder wird das Ende des Krieges durch ein Abkommen angestrebt? Was genau bedeutet die Schwächung Russlands, das wahrscheinlich auch nach Putin kein „normaler Nationalstaat“ sein wird?

Die USA haben die Ukraine unterstützt, damit sie in der “ stärkstmöglichen Situation am Verhandlungstisch sitzen kann“, schreibt Biden ausdrücklich. Jede Verhandlung spiegelt die Fakten, die im Kriegsgeschehen geschaffen worden sind. Was also sind die realistischen Kriegsziele? Wer will was? Das ist nicht ganz klar, und der Ausgang offen. Solange beide Seiten glauben, gewinnen zu können, werden sie den Krieg auch bei zunehmenden Verlusten fortsetzen. Aufrufe, die Gewalt zu beenden, von wem auch immer (Guterres, Papst usw.), bleiben demgegenüber hilflos.

Selenski: „Wir haben keine Alternative, als zu kämpfen und zu gewinnen.“ Nach den zurückliegenden Erfahrungen mit der russischen Kriegsführung wird man sich nur schwerlich arrangieren können. Die unfriedliche Koexistenz kann nur grösser werden und wird durch diplomatische Lösungen kaum befriedet. Neue ‚Volksrepubliken‘ würden vielmehr zu einem Bürgerkrieg gegen die Kollaborateure führen.

Auf ukrainischer Seite sind die Ziele eindeutiger als auf Seiten Russlands, das sich nach dem Fehlschlag auf Kiew in der zweiten Großoffensive auf den Donbass konzentrieren will. Das Minimalziel ist, Luhansk und Donezk zu „befreien“. Im schlimmsten Fall für die Ukraine gelingt sogar die Eroberung Odessas und damit die Abschneidung vom Meer. Der Appetit des nicht-saturierten Diktators eines Imperiums kann sich mit dem militärischen Erfolg noch steigern.

Aber das sind die bekannten worst-case-Szenarien. Weniger bekannt und noch weniger vorhersehbar ist das, was in Russland passiert: mit Putin, der Militärführung, den Wirtschaftseliten. Schwer zu fassen für Außenstehende bleibt auch, dass die Unterstützung für Putins Krieg, die noch immer ‚Spezialoperation‘ heißt, offenbar weiterhin groß ist. Die Sanktionen sind spürbar, aber nicht kriegsentscheidend.

Kann Putin als Autokrat überhaupt einen Krieg verlieren? Allein schon die Frage ist beängstigend, wenn man an die nukleare Macht denkt. Siehe auch Schlomo Ben-Ami, ehemaliger israelischer Außenminister: „Wenn Putins Niederlage zum Risiko wird“ (Tagesspiegel, 30.5.).

Im Beitrag unter dem Titel „Was Amerika in der Ukraine tun und was Amerika dort nicht tun wird“, definiert der Präsident als „Commander in Chief“ das politische Ziel folgendermaßen: „Wir wollen eine demokratische, unabhängige, souveräne und wohlhabende Ukraine, die über die Mittel verfügt, weitere Aggressionen abzuschrecken und sich dagegen zu verteidigen.“

Gleichzeitig unterstreicht Biden mit einem Zitat des ukrainischen Präsidenten Selenski, dass der Krieg nur durch Diplomatie beendet werden kann, obwohl diese zwischen Russland und der Ukraine derzeit auf Eis liegt und auch von außen, nach vielen Versuchen, nicht erfolgreich geworden ist. Irgendwelche Zugeständnisse, anders etwa als Kissinger oder Draghi, schlägt Biden nicht vor. Er lässt der ukrainischen Regierung (vorläufig?) freie Hand. 

Ebenso stellt Biden klar, dass die USA keinen Krieg mit Russland suche, die Ukraine wird nicht unterstützt, um Ziele auf russischem Boden zu treffen oder gar einen Umsturz in Moskau herbeizuführen, so wie das Putin in Kiew beabsichtigte. Trotz der Tatsache, dass die Liste kriegsentscheidender Waffen zur richtigen Zeit länger wird, ist die Argumentation von Biden im Grunde genommen eine der möglichen Deeskalation. 

Kann Putin das verstehen? Sind er und sein Außenministerium noch diplomatiefähig? Auf Fragen einer europäischen Friedensordnung geht Biden nicht ein. Ein Thema nach dem andern sukzessive abzuarbeiten, ist besser für eine reflexive Realpolitik, die sich abstimmen muss, während es Putin an militärischem und politischem Realismus fehlt, was die letzten hundert Tage drastisch belegt haben.

Dies führt zu zusätzlichen Schwierigkeiten. Das ursprüngliche Kriegsziel, auf das der Begriff ‚Spezialoperation‘ allenfalls noch gepasst hätte, der Regimewechsel in Kiew, ist weit verfehlt worden. Der Krieg zerstört inzwischen buchstäblich ein ganzes Land. Wer bezahlt die Reparationen? Ob Russland das auch so verstehen kann? Die Koexistenz zwischen den Nachbarn und den verschiedenen Volksgruppen ist zerstört, und das Land wird von Tag zu Tag unbewohnbarer. Wer Augen hat zu sehen, der sieht es.

Im Donbass wird die Situation für die ukrainische Armee zunehmend schwieriger, im Süden, in der Region Cherson, kann sie offenbar Gelände wieder zurückgewinnen. Sie plant eine Offensive im Sommer und rechnet mit zwei bis sechs Monaten Krieg. Die versprochenen Mehrfachraketenwerfer mit ihrer großen Feuerkraft und Präzision können hier eine entscheidende Rolle spielen.

Die Gefechtslage ist unübersichtlich. Während Sewerodonezk beinahe eigekesselt ist, vermeldet der große Kommunikator Selenski trotzdem kleine Erfolge. Er hält von Anfang an und inzwischen tagtäglich den ukrainischen Widerstand im großen Land zusammen, informiert und motiviert. Wie weit die Müdigkeit und Zermürbung bei den Soldaten inzwischen geht, wissen wir nicht. Am 101.Tag jedenfalls beschwört Selenski den „Glauben an den Sieg.“

Die Grenzen des Erträglichen sind längst überschritten, Butscha war dafür ein Sinnbild für die Welt. Die russische Kriegsführung, die große Maschinerie mit einer schlechten willfährigen Generalität, kümmert sich nicht um die zahlreichen Opfer in den eigenen wie fremden Reihen. Sie ist ein Kriegsverbrechen. Solche Kriege zerstören nicht nur das Zivile, sie können selbst autoritäre Systeme zum Einsturz bringen.

Bildnachweis: IMAGO / ZUMA Wire