Realpolitik, Moral und Doppelmoral 

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Wenn hundert europäische Politiker nach China reisen, was jetzt angesagt ist, dann haben sie hundert Ansichten und kaum eine Ahnung vom riesigen Land, wenn dagegen 100 Chinesen nach Europa kommen, haben sie eine Ansicht und eine Strategie, bis hin zum Hamburger und Triester Hafen. 

Wir können uns China, obwohl ’systemischer Rivale‘, als Feind gar nicht mehr leisten, zu sehr sind wir weltwirtschaftlich mit dem Land verflochten. Außenministerin Baerbock spricht über einen realen Krieg zwischen China und Taiwan, von dem seit langem ständig geredet wird, als von einem „Horrorszenario“ auch für Europa. Das sind realistische Worte, die man noch ergänzen kann. 

Denn gleichzeitig zum G7-Aussenminister -Treffen in Japan, das vor einer „gewaltsamen Änderung “ der Weltordnung warnt (18. April 2023), besucht der neue chinesische Verteidigungsminister drei Tage lang Moskau, um vor allem die militärische Kommunikation und Kooperation zu verbessern. Diese sei so gut wie noch nie und werde weiter ausgebaut, versichert Li Shangfu, der an einem Tisch mit Schoigu und Putin sitzt. 

Russland nur als „Juniorpartner“ und „Rohstoffkolonie“ Chinas zu taxieren, ist zwar im Schwange, greift aber zu kurz und ist zu leichtfertig. China benötigt die Rückendeckung Russlands in seinem ‚Indopazifikkrieg“, in dem jetzt permanent ein Atom-U-Boot auf Patrouille ist (NZZ, 18.4., S. 3). Russland hat zudem überraschend mit seiner Pazifikflotte, deren Hauptquartier in Wladiwostok liegt, ein Manöver durchgeführt (mit einem Raketenkreuzer, 20 U-Booten und 60 Kriegs- und Landungsschiffen). 

Dabei geht es auch um die Kurilen-Inseln im Konflikt mit Japan, bezüglich deren es seit dem 2. Weltkrieg keinen Friedensvertrag gibt. Der Krieg um die Falkland-Inseln zwischen Argentinien und GB 1982 mit einer eifrigen Maggie Thatcher lässt grüßen. Zudem zündelt Nord-Korea mit gefährlichen Waffen gegen Südkorea, Japan wie die USA. Das arme Land investiert in Forschung und Rüstung für seine gefährlichste Waffe, damit sich eine korrupte Autokratendynastie erpresserisch an der Macht halten kann. 

An vielen Punkten kann es in dieser Weltregion jederzeit zu unkontrollierbaren militärischen Vorkommnissen kommen mit grossen Folgen. Diese Lage gleichzeitig mit mehreren Konfliktherden, die brenzlig sind, produziert naturgemäss Unsicherheit und Angst, wenngleich Angst keine produktive politische Emotion ist. Die Aufklärung hat deshalb einen schweren Stand, weil sie auf dieser Ebene kaum mit realen Handlungskorrespondenzen verbunden ist. Desinformationskampagnen und Verschwörungstheorien der Gegenaufklärung blühen stattdessen, was die allgemeine Orientierung für die ohnmächtig Vielen erschwert. 

Gleichwohl hat die deutsche Außenministerin mit klaren Worten die Verantwortung Chinas als ständiges Mitglied des UN- Sicherheitsrates zu Recht deutlich angesprochen, den zerstörerischen Angriffskrieg in der Ukraine zu beenden. So viel Moral muss sein, denn auch China hat sich auf die entsprechenden internationalen Konventionen verpflichtet.  

Zudem steht seine Hochhaltung der territorialen Souveränität eines Landes, ja aller Länder, in krassem Widerspruch zur Neutralität gegenüber Russland in diesem Angriffskrieg gegen die Ukraine. Mit Kohärenz und klarer Linie wäre schon viel gewonnen. 

Bisweilen hat man jedoch den Eindruck die heutigen weltpolitischen Akteure hätten keine Moral, obwohl die sich verschärfende Systemrivalität durchaus mit Missionen zu tun hat, und zwar mit nichts weniger als den höchsten Missionen einer gerechten Weltordnung. Für Russland ist der Ukraine-Krieg schon lange ein globaler Konflikt mit dem Westen. Der moralisch-politische Kampf um die Doppelmoral auf der Weltbühne der Uno macht das Ganze noch einmal gefährlicher. 

Für die USA wiederum geht es um eine „regelbasierte Weltordnung“, wie Verteidigungsminister Austin bei der Ramstein-Konferenz mit 54 Unterstützerländern erneut bekräftigte (21. April). „Rote Linien“ für Waffenlieferungen, selbst für Kampfjets, scheint es nicht mehr zu geben, ein Nato-Beitritt, auf den die Ukraine drängt, wird allerdings weiterhin ausgeschlossen, denn Russland kann und soll nicht geopolitisch ausgeschaltet, wohl aber der imperiale Anspruch zurückgewiesen werden, was wiederum eine klare Bedingung für die Beendigung des Krieges sein wird. Das ist bisher noch Theorie. 

Bei der knallharten Grossmachtkonkurrenz geht es nicht ’nur‘ um das aufstrebende China bis hin zum politischen Makler, etwa im Nahostkonflikt, und zur Garantiemacht sowie die russische Welt Putins und die US-amerikanische Hegemonie, sondern um die Außenpolitik größerer Länder überhaupt, um die wiederum im Systemkonflikt heftig gebuhlt wird. Nehmen wir zum Beispiel Brasilien, das Bundeskanzler Scholz zu Beginn dieses Jahres besuchte. 

Lula fordert gerade die USA auf, keine Waffen mehr an die kämpfende Ukraine zu liefern. Damit kann er sich freilich nicht mehr an die Spitze einer diplomatischen Friedensinitiative stellen. Er irritiert vielmehr Europa und die USA, die auf ihn gesetzt hatten. Für die Chinesen steht er hingegen auf der richtigen Seite der ‚Schwellenländer‘ der Brigs-Staaten. 

Für den politischen Westen enttäuschend steht der Gegner von Militärdiktator Bolsonaro, dessen Anhänger kürzlich den Aufstand gegen die Demokratie probten, jedoch auch auf seiten Russlands, das für seinen Vermittlungsplan offen ist und von dem Brasilien ausserdem als grosser Agrarproduzent billigen Dünger bezieht. Aussenminister Lawrow bedankte sich am 17. April ausdrücklich bei seinem Besuch für diese Unterstützung, bevor er nach Kuba weiterreiste. Mit dem Iran pflegt Lula wohl auch Beziehungen, wie so viele, denen ihre Geschäfte wichtiger sind als die politische Moral, wenn sie nötig wird. 

Die letzten Wochen müssen für die absolute Herrschaft von Xi Jinping ein Traum gewesen sein, ist doch durch die zahlreichen Staatsempfänge seine Hierarchie vor aller Augen sichtbar national wie international bestätigt worden. Neben dem Auffälligen und Offensichtlichen gibt es indes viele Grauschattierungen, gerade in der Aussenpolitik. 

Die Gemengelage, in die auch der Westen einbezogen ist, dreht sich heute vor allen Dingen um die Energie, von der die moderne materielle Zivilisation in hohem Masse abhängig ist. Energiepolitik wird immer mehr zur globalen Machtpolitik. Viele machen gerade jetzt Geschäfte mit den Saudis, was den Opportunismus gegenüber der alten Öllobby pflegt. Am 19. April sahen wir erstmals überraschend ein historisches Bild, das assoziativ an frühere Friedensposen mit anderen Akteuren (Clinton, Peres, Sadat) erinnerte, in den Zeitungen: der chinesische Aussenminister mit den Aussenministern aus dem schiitischen Iran und dem wahhabitischen Saudi-Arabien (SZ, S.6). 

Diese „arabische Zeitenwende“ (FAZ, 21. April, S.1) wird angeführt von China und den Autokraten am Golf: “ Noch ist die Region dem Westen nicht entglitten“(a.a.O.), aber die Machtverschiebung in der Region spielt dem iranischen Regime und seinem Schattenkrieg gegen Israel in die Hände. Wir erinnern uns an den Satz von Angela Merkel, den Helmut Schmidt nicht in diesen Worten sagen wollte: „Die Existenz Israels gehört zur deutschen Staatsräson.“ 

Der Ökonom, ehemalige Chef der Weltbank und amerikanische Finanzminister Lawrence Summers stellt treffend fest: „I do think in many ways thr most profound question for American foreign policy, and its one that very much implicates economis policy, is that as right and just as we feel we were, there are just a large number of countries that are not aligned with us or that are only weakly aligned with us. I heard a comment from somebody in a developing country who said, “ Look, I like your values better than I like Chinas. But the truth is, when we are engaged with the Chinese, we get an airport. And when we are engaged with you guys, we get a lecture“ (foreignpolicy.com/2023/o4/14/chi…). 

Der Optimismus der 2000er und 2010er Jahre wird durcheinandergebracht. Selbst die Weltbank sieht die globale Entwicklung des Fortschritts inzwischen in der Krise, was etwas heißen will, siehe: The long, slow death of global development (Oks/Williams in: American Affairs, 2022, Nr.4). 

Stichwort ‚Lecture‘ oder Lektionen erteilen: Die Chinesen lehnen „Lehrmeister aus dem Westen“, etwa in Bezug auf Menschenrechte, ausdrücklich und scharf zurück. Dabei geht es nicht um die „Erziehung der ganzen Menschheit“, wie der bayrische Ministerpräsident Söder insinuiert oder um eine „Anti-China-Strategie“, wie der ‚Seeheimer Kreis‘ befürchtet, das wäre die falsche Debatte, sondern um schlichte, aber grundlegende Konventionen. 

Die Umerziehungslager für die muslimische Minderheit der Uiguren widerspricht diesen. 
Diesbezüglich kann man wirklich (im Unterschied zu Söder) von ideologischer Erziehung mit staatlicher Gewalt sprechen, und hier muss Klartext gesprochen werden genauso wie angesichts von Tibet und Hongkong. Nicht einmal anwaltschaftliche Politik, geschweige denn Opposition von Minderheiten und abweichende Meinungen sind möglich. 

Während des Chinabesuchs der deutschen Außenministerin sind zwei Bürgerrechtsanwälte verhaftet worden, was einmal mehr beweist, dass auch die Repression nach innen in den letzten Jahren noch deutlich stärker geworden ist, ebenso wie in Russland oder im Iran. Stellvertretend für diese Anwälte und unterdrückten Oppositionen muss eine wertegeleitete Außenpolitik dafür die Stimme erheben, ansonsten verschwinden und verstummen sie. 

Klartext ist nötig, verpflichtet aber auch. Uiguren selbst haben zuvor darum dringendst gebeten. Das ist gegenüber dem mächtigen und empfindlichen China so wichtig wie gegenüber dem Gottesstaat Iran und seiner gewaltsamen, ja terroristischen Unterdrückung der Frauenrevolte, was weit mehr ist als feministische Außenpolitik. Auch hier dürfen die realistischen Worte, aus denen Konsequenzen gezogen werden, nicht fehlen. 

Auch in der Außenpolitik gibt es eine Moral und nicht nur wirtschaftliche und nationale Interessen, die wiederum nicht völlig moralfrei sind. Ökonomie und Moral derart gegeneinander auszuspielen, Ist ein Fehler, der in der deutschen Tradition der Philosophie Tradition hat, genauso wie die pauschale Kritik am Utilitarismus als unzulänglicher Moraltheorie. Beides ist differenzierter zu sehen und miteinander zu verbinden und nicht durch hehre Bekenntnisse oder starke Sprüche zu verdecken. 

Vor allem sind die gegenwärtigen Fragen des Weltfriedens, der Entwicklung und des Klimawandels inhaltlich und politisch klug zu diskutieren, dort, wo es möglich ist mit Verhandlungsgeschick, Geduld und Kompromissbereitschaft, und dort, wo es nötig ist mit militärischer Abschreckung und Entschlossenheit. Kluge Macht in jeder Hinsicht ist gefragt. 

Politik ist sowohl der anspruchsvolle Versuch, friedlich Lösungen zu suchen, wie Feinde, die einen vernichten wollen, zu bekämpfen. Die Demokratie wie die Staatenwelt sind nicht feindlos, wie eine realitätsblinde Theologie annimmt, die andererseits nicht weniger als die Apokalypse verhindern will (siehe Antje Vollmers Vermächtnis einer Pazifistin, in: Berliner Zeitung, 23.2. 2023). 

Einerseits wird hierbei von nicht wenigen an der letzten politischen Utopie von Europa und der Überwindung der Nationalstaaten festgehalten, gleichzeitig wird die reale Gefahr des russischen und chinesischen Imperialismus heruntergespielt. Nicht zufällig ist auf pazifistischer Seite eine gewisse Empathielosigkeit gegenüber dem Überlebenskampf der Ukrainer zu konstatieren. Das Notwendige in der Zeit wird nicht wahrgenommen. 

Ein objektives Problem allerdings ist, dass die moderne entzauberte Welt in unterschiedliche, durch Religion oder Weltanschauungen definierte Wertsphären zerfällt (Max Weber), was durch eine absolut gesetzte funktionale Theorie der Differenzierung für eine erfolgreiche Moderne noch gesteigert wird. Universelle Moral in der Außenpolitik wurde allzu oft als nationaler und imperialer Eigennutz entlarvt, nicht zuletzt auf westlich-liberaler Seite. Das ist ein Problem heutiger Weltpolitik. 

Letztlich ist die Moral der Außenpolitik, auch als vermeintlich gemeinnütziges Motiv, doch nur primär auf ein bestimmtes eigenes Kollektiv gerichtet. Internationale Politik, buchstäblich genommen, ginge darüber hinaus. Außenpolitik ist jedoch nur zum Teil inter-nationale Politik, wofür auch der schöne Terminus ‚Weltinnenpolitik‘ (Weizsäcker) geprägt worden ist.  

Politik bleibt aber im Unterschied zu Moral auf eine geographische Einheit nach innen und außen, gerade als demokratisch legitimierte, verantwortlich bezogen. Ihre Ziele lassen sich außerdem nicht in Frieden einerseits (Sternberger)und Feindbekämpfung andererseits (Schmitt) aufspalten. Auch Werte (unsere Werte!) und Interessen lassen sich zwar unterscheiden, aber nicht trennen. Selbst die Mitgliedstaaten der supranationalen EU haben aktuell unterschiedliche Interessen im Umgang mit China. 

Die Wehr- und Bündnisfähigkeit für Freiheit und Demokratie, einschließlich unermüdlicher Diplomatie, gehören zur Moral der Außenpolitik, die nicht im machiavellischen Sinne eine Sphäre höherer Amoralität werden darf. Bezugspunkte einer verbindend-verbindlichen Moral der Außenpolitik sind deshalb: 

  • Kohärenz und Klugheit 
  • internationale Konventionen (Uno-Charta, Allgemeine Erklärung der Menschenrechte) 
  • Zivilisation 
  • anwaltschaftliche Politik, internationale Organisationen, transnationale Solidarität. 

Das große Wort ‚Zivilisation‘ bedarf noch der Erläuterung, zumal es heute wieder (und nicht erst seit Huntington 1993) in den sich verschärfenden Systemkonflikt hineingezogen wird beispielsweise als ‚russische Zivilisation‘ bzw. ‚eurasische Zivilisation vs. ‚ westlich-amerikanische Zivilisation‘. 

An dieser Stelle, wo es um Krieg und den Weltfrieden geht, sei nur auf das Kapitel Weltgeschichte Europas oder auch europäische Geschichte der Welt nach 1945, nach der bisher größten Zäsur, dem Ende des 2. Weltkrieges, der militärisch entschieden wurde, hingewiesen (siehe Paul Betts, Ruin und Erneuerung, siehe auch den Blog ‚Zivilisation‘ vom 22. August 2022). 

Der „Zivilisationszusammenbruch“ (Elias) eröffnete normativ-politisch ein neues Kapitel der Weltgeschichte. Die internationale Gemeinschaft der siegreichen alliierten Staaten sah sich nach der Erfahrung des 2. Weltkrieges, des ersten globalen Krieges, verpflichtet, neue rechtliche Kategorien wie „Völkermord“ und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ einzuführen. Bei den Nürnberger Prozessen (1945/46) wurde im Namen der Zivilisation Anklage erhoben. Es entstand eine Moralpolitik der Menschenrechte, die freilich kontrovers blieb. 

Gerade der formlose und umstrittene Begriff der Zivilisation, „die europäischste aller Ideologien und die am höchsten geschätzte“, ermöglichte dem Wiederaufbau aus den Ruinen einen Sinn zu geben, so die These von Betts (S.9). Darauf folgt die nicht minder interessante zweite These: Es hilft, “ im Schatten einer viel größeren Krise als heute (!)“ beim neuerlichen Nachdenken über die nötige friedliche Koexistenz. Das greifen wir gerne auf.

Bei allem Versagen der Zivilisation, damals wie heute, der Zivilisationsbegriff ist wandelbar. Er bezieht die UN-Charta von 1945 ebenso ein wie den tätigen „Weltzivilisationsbegriff“ der Unesco, wo es um den Schutz der Kulturgüter geht – in Syrien wie in der Ukraine. Sogar eine ‚Zivilisierung des Krieges‘ zum universellen Schutz der Zivilbevölkerung wurde mit der Genfer Konvention vom August 1949 anvisiert, was damals die sowjetische Delegation besonders vorangetrieben hat. Die Vision eines internationalen Friedens ist während des Kalten Krieges nie verschwunden, wobei man optimistisch auf die Konvergenzbereiche Wissenschaft und Menschenrechte setzte.

Das Atomzeitalter ist freilich immer noch nicht zu Ende. Eine Mode war und ist es im Unterschied zu vielen, allzu vielen modischen Diskussionen über Etiketten und Standortbestimmungen nicht. Vielmehr ist die verdrängte Apokalypse mit den Atomkriegsdrohungen und dem Klimawandel empirisch wieder zurückgekehrt. Ob die angesprochenen Korrektive für die Selbstkorrektur reichen werden, ist die wohl dringendste ernste Frage.

Bildnachweis: IMAGO / ZUMA Wire