Re-Visionen

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Der Krieg in der Ukraine ist nicht die Stunde der deutschen Intellektuellen, auch von Habermas nicht, der zeitlebens und immer wieder, wichtige Interventionen in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit ausgelöst hat.

Habermas ist nicht nur eine Stimme der Vernunft, er ist auch der Theoretiker kommunikativer Vernunft, deren Grundlagen und Verästelungen er gründlich erörtert hat (siehe Theorie des kommunikativen Handelns 1981, 2 Bde.; Vorstudien und Ergänzungen 1984). Im Zentrum dieser Idee von Sprache steht das verständigungsorientierte Handeln, was ein unschätzbar wichtiger Gedanke ist. Schon immer war es indessen schwierig, die verschiedenen Facetten politischen Handelns, das erfolgsorientierte und strategische Handeln sowie die Rhetorik in diesem Denkgebäude unterzubringen. Zuweilen fällt es wie ein Kartenhaus in sich zusammen.

Habermas plädiert hier und jetzt für Verhandlungen (SZ, 15.2.2013, S.10f.). Die Aufmerksamkeit ist ihm sicher. Ihm geht es „um den vorbeugenden Charakter von rechtzeitigen Verhandlungen“, um Schlimmeres abzuwenden. Er wendet sich gegen die Diskurskeule, wer sich darauf einlasse, betreibe schon das Geschäft von Russland. Raum für Reflexion muss immer sein, sonst werden wir Getriebene. Da hat er recht.

Gibt es also noch in der aktuellen Phase des Krieges „erträgliche Kompromisse“, die durch Verhandlungen auszuloten sind. Dafür sieht Habermas „eine moralische Mitverantwortung des Westens“, dessen Mittel „verhältnismässig“ bleiben müssen. War das aber nicht der bisher von den politischen Akteuren der Demokratie besonnene, militärisch wohlerwogene Weg bei allem Zeitdruck?! Siehe dazu den Blog Kairos und Umsicht vom 20. Januar 2023.

„Schlafwandler am Rande des Abgrunds“ wie vor dem 1. Weltkrieg sind die heutigen Akteure der Demokratie nicht, vielmehr stand die „Eindämmung des Konflikts“ mit Moskau immer (vielleicht zu sehr) im Vordergrund, so dass die staatstragenden Parteien SPD und CDU zahlreiche Revisionen in der Ost- und Friedenspolitik vor sich haben, die eine neue Generation (Klingbeil) anzugehen hat. Auch für den scharfsinnigen Analytiker der internationalen Beziehungen Egon Bahr war die internationale Sicherheit wichtiger als Polen, weswegen er Verständnis hatte für die Verhängung des Kriegsrechts anfangs der 80er Jahre.

Das hat auch mit einer politischen Theorie zu tun, die konzeptuell auf den Staat fixiert ist und die zivilgesellschaftlichen Bewegungen sowie das emphatische Freiheitsverständnis einer wehrfähigen Bürgernation unterschätzt, wovon man entwöhnt worden war. Das wiederum sozialisiert den Blick auf andere Länder. Freilich wird man bei der historischen Ostpolitik unterscheiden müssen zwischen der innerdeutschen Ebene und dem Verhältnis zur Sowjetunion. Aus polnischer Sicht ist sowohl die Russland-, die Ukraine- wie die Energiepolitik gescheitert. Das führt zu Revisionen, die wir im Titel ansprechen. Gleichzeitig fragen wir nach den nötigen Visionen, die noch bleiben.

Beim Krieg geht es nicht um ein Abstraktum, sondern um einen konkreten imperialen Krieg in Europa, bei dessen Genese und Details sich Habermas nicht lange aufhält. Konkrete Gespräche, die man aufnehmen könnte, werden nicht genannt. Habermas empfiehlt stattdessen dem Westen, Russland mitzuteilen, wie weit die Unterstützung der Ukraine gehen wird. Das ist ein unrealistischer Vorschlag, mitten im Krieg mit dem Aggressor über Strategien zu verhandeln.

Die USA hat eben wieder deutlich zu verstehen gegeben, was passieren würde, wenn ein NATO-Staat angegriffen wird (siehe dazu zum Beispiel Ben Hodges, ntv, 22.2.2023). Die russischen Militärs wissen das (hoffentlich) auch und tun es deswegen nicht. Habermas hat sich nie mit Osteuropa beschäftigt. Der Osteuropa-Historiker Behrends nennt die „blinden Flecken“, die typisch sind für deutsche Intellektuelle (16.2.2023, Zeit online). Dies trübt das konkrete Urteil.

Krieg als konkretes Geschehen

Der Krieg als konkretes Geschehen, der 2014 mit der Annexion der Krim und der Ausrufung der Volksrepubliken Lugansk und Donezk begann, hat seine eigene Dynamik, die sich mit der großflächigen Invasion seit einem Jahr verschärft hat. Er muss analysiert und täglich zur Kenntnis genommen werden. Das ist weder „nationalistisch“ noch „bellizistisch“.

Die militärische Lage der Ukrainer im Donbass, der ehemaligen Industrie- und Kohleabbauregion in der Ostukraine mit seinen ca. 2 Millionen Einwohnern, die größtenteils russischsprachig sind, ist im Februar 2023 prekär. Die Munition wird knapp und die gewünschten Waffen, mit denen sie ein neues Kapitel eröffnen könnten, werden nur langsam und verspätet geliefert. Für die Ukrainer ist der Fall klar, denn sie führen einen Überlebenskampf.

Das seit Monaten erbittert umkämpfte Bachmut, das einmal 70 000 Einwohner zählte, steht vor dem Fall; Wuhledar ist umkämpft usw.. Falls sich die Ukrainer dem Aggressor unterwerfen, werden sie vielleicht physisch überleben, aber als Nation und Staat ausgelöscht, und die Städte jeder eigenständigen Entwicklung beraubt.

Sie wissen inzwischen nach Butscha und den vielen kleinen Butschas, insbesondere auch nach der vollständigen Zerstörung von Mariupol als Rache an seinem eigenen erfolgreichen Weg, welche Verbrechen die russischen Okkupanten an der Zivilbevölkerung begehen.

Putin ist zwar nicht Hitler, er ist auch nicht „suizidal“(Chodorkowski), aber vieles an der russischen Kriegsführung in der Bekämpfung eines vermeintlichen „Neonazi-Regimes“ (Medwedew) ist „nazi-like“. Deshalb bedeutet „Verhandlungen jetzt“ soviel wie Appeasement 1938. Die Dimension des Vernichtungskrieges ist nicht mehr zu ignorieren oder herunterzuspielen.

Gefühl der Dringlichkeit

Die erzwungene Re-Militarisierung durch Putins Angriffskrieg hat zur Natoisierung Europas und zur Rückkehr der USA nach Europa geführt. Am 20. Februar besuchte Präsident Biden vor seinem zweiten Polen-Besuch überraschend zum ersten mal Kiew, um ein starkes Signal der weiteren Unterstützung zu geben. Putin soll nicht mehr auf Zeit spielen können.

Die USA unterstützt seit Kriegsbeginn mit 27 Milliarden Dollar Militärhilfe. Selenski betont die Gemeinsamkeiten besonders auch in der Vorstellung von Russland als „Terrorstaat“. Sie wollen der UN-Charta wieder Gültigkeit verschaffen, was eine notwendige Vision für den Weltfrieden ist.

Russland war zuvor an die Münchner Sicherheitskonferenz nicht eingeladen worden (ebenso wie der Iran, der wieder stärker mit Russland kooperiert). Dafür war der chinesische Spitzendiplomat Wan anwesend, der eine Friedensinitiative ankündigte, bevor er nach Moskau weiterreiste und dort von Putin am Mittwoch empfangen worden ist (22.2.). Die Kooperation soll weiter vertieft werden, sie hat „Bedeutung für die Stabilisierung der internationalen Lage“ (Putin, 22.2.23).)

Die Münchner Sicherheitskonferenz vom 17. bis 19. Februar bot ein seltenes Zeichen westlicher Geschlossenheit, eine ‚Einheit des Westens‘ gegen Putins ‚russische Welt‘. Die Demonstration vor dem Konferenzort unter dem Motto „Weder Putin noch Nato“ schien aus der Zeit gefallen. Die Amerikaner waren mit einer großen Delegation unter der Leitung von Vizepräsidentin Kamala Harris gekommen. Scholz, dessen Maxime ‚Sorgfalt vor Risiko‘ lautet, trat als Vorreiter der Kampfpanzerallianz auf, die das Kanzleramt offenbar schlecht vorbereitete, so dass sie nur schleppend vorankommt.

Die amerikanischen Schützenpanzer (Bradley, Stryker), die verschifft worden sind, kommen derweil in Europa an. Der ukrainische Generalstab kalkulierte mit 300 Kampfpanzern für eine lange Frontlinie; mit „14 Kampfpanzern kann man den Krieg nicht gewinnen“ (Makaiev), sicher nicht. Die Forderung nach der geächteten Streumunition schadet hingegen dem guten Ansehen der Ukraine.

Bisher fehlte die Wucht von Panzerverbänden. Generalstabsmäßig bedeutet das, dass die ukrainische Armee im Donbass „einen Durchbruch aufhalten muss, bis ein Stoß ans Asowsche Meer möglich wird“ (so Georg Häsler in NZZ, 16.2.2023, S.6). Die gegenwärtige Frage ist, wie man von einem Stellungskrieg wieder zu einem Bewegungskrieg im Gefecht verbundener Waffen kommt, der eigenes Territorium zurückgewinnt. Das Gefühl für diese Dringlichkeit müsste nachvollziehbar sein.

Großbritannien (Challenger) und Frankreich (AMX) gerieren sich ebenfalls gerne als Vorreiter, wobei Macron den bezeichnenden Satz äußerte, dass „keine der beiden Seiten vollständig gewinnen kann.“ Also müssen doch neue Verhandlungswege gesucht werden, was Selenski umgehend als „Zeitverschwendung“ bezeichnete.

Stoltenberg warnt vor „falscher Vorsicht“, denn risikofreie Optionen gibt es in Zeiten des Krieges nicht. Raketen mit größerer Reichweite sind realistisch, Kampfjets eher nicht. Munition und Flugabwehr sind weiterhin vordringlich. Einmal mehr wird von einer entscheidenden Wende des Krieges gesprochen.

Allerdings ist die ernstzunehmende Überlegung nicht von der Hand zu weisen, wie rational die russische Kriegsführung bleiben wird, wenn sie kontinuierlich militärische Niederlagen erleidet. Im Moment tobt eine Personal- und Materialschlacht mit großer russischer Überlegenheit: die ukrainischen Soldaten sind in ihren „Schützengräben gefangen und der Artillerie ausgesetzt“ (Oberst Reisner). Russland verschießt an einem Tag so viel Munition wie Europa in einem Monat produziert. Die Bilder mit Bergen von verschossenen Raketen zeigen die ganze Absurdität dieses Krieges nach einem Jahr (siehe FAZ, 20.2.23, S.1).

Peskow, der Sprecher des Kreml, beklagt den „Verhandlungsunwillen“ des Westens und sieht die USA als diejenige Kraft, die den Krieg anheizt. Am 21. Februar erwartet man mit Spannung die Reden von Biden in Warschau und Putin in Moskau. Putin wird in seiner mehrmals verschobenen „Rede zur Lage der Nation“ auf Bidens Besuch in Kiew reagieren.

Am Vorabend wird erwartet, dass er der Ukraine „offiziell den Krieg erklären wird“ (Tagesspiegel, 20.2.23). Bisher heißt der Krieg immer noch „Spezialoperation“. Die ‚Föderative Versammlung‘, vor der Putin sprechen wird, umfasst die Abgeordneten und Senatoren beider Kammern. 2024 ist die Wahl des Präsidenten.

In seinem Publikum sitzen die bekannten Personen: Lawrow neben Schoigu, Kyrill neben Medwedew, viele hohe Militärs neben bekannten Politikern aus der Duma und Journalisten, die ihre Arbeit tun. Fast durchweg blickt man auf ernsthafte und harte Gesichter, mit denen man nichts zu tun haben möchte.

Es ist die bekannte Putintreue politische Elite, die hier geladen ist und die sich zwischendurch zu Applaus und Gedenken erhebt. Putin selber wirkt wohlgelaunt, ganz anders als bei seiner fanatischen Annexionsrede im September letzten Jahres. Die Rede hat einen nach außen und einen nach innen, an die eigene Bevölkerung gerichteten Aspekt, was sich in den Inhalten ebenso ausdrückt wie in den gewählten Worten, welche breite Kreise erreichen können. Ihre genaue Wirkung lässt sich freilich kaum ermessen.

Politischer Krieger, schlechter Stratege

Putins anderthalbstündige Rede, ohne dass er zwischendurch einen Schluck trank, umfasste drei Teile. Er begann mit den Worten einer „Grenzzeit“ beziehungsweise einer „komplizierten Zeit“, die vor unumgänglichen Veränderungen stehe. Wie Selenski spricht er somit auf seine Weise von einer historischen Konfrontation. Biden wird das amerikanisch-optimistisch für die Zukunft auch tun.

Im ersten Hauptteil spricht Putin von einer historischen Schuld des Westens und ebenso von einer historischen Mission Russlands, dessen Hegemonialanspruch, vor allem der USA und seiner Vasallen, abzuwehren. So werde nun die Ukraine benutzt, um Russland anzugreifen, wohinter ein lange gehegter Plan steckt, nämlich die Strategie, Russland zu zerstören. Mit Beispielen aus der Kiste eines Geheimdienstlers unterlegt er diese Verschwörungstheorie, die sein bekanntes Narrativ wiederholt, das von Anfang die entscheidende Rolle spielte. Darüber ist schon viel geschrieben worden.

Im zweiten Hauptteil konzentriert er sich auf die gegenwärtige Lage des Krieges und damit auf den Donbass, der vergangenes Jahr das hauptsächliche Kriegsziel geworden ist, nachdem der Blitzkrieg auf Kiew mit ‚regime change‘, was buchstäblich eine Spezialoperation gewesen wäre, und der geradezu unglaubliche Zangenangriff auf die gesamte Ukraine gescheitert waren.

Seit der Annexion der vier ukrainischen Regionen – Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson – am 30. September, welche die größte Eskalation des bisherigen Krieges bedeutete, geht es Putin primär darum, diese Einverleibung in russisches Staatsgebiet zu sichern und auszubauen. Darauf bezieht sich sein großes Danke an die Kämpfer und die Bevölkerung sowie die Sozialhilfe, die in der Rede zelebriert werden.

Im dritten Teil geht er auf die Lage der Wirtschaft und die Wirkung der Sanktionen, mit denen der Westen sich selbst schade, ein. Einschränkungen und Engpässe werden zugegeben, im Großen und Ganzen aber gelang es, so Putin, den Sanktionsmitteln auszuweichen. Auch dieser Wirtschafts-Krieg gegen Russland sei nicht erfolgreich, die Kriegswirtschaft laufe Tag und Nacht, die Bauern erzielten Rekordernten, und der Rubel sei stark.

In sein ‚großes Danke‘ an die Bevölkerung schließt er ausdrücklich, geradezu überkorrekt, alle Kategorien ein, natürlich auch Unternehmen und Banken. Bevor die immer detailreicher werdende Rede zu Ende ist, blenden die Fernsehanstalten (‚Welt und ’ntv‘) wieder aus. Die Kommentare fallen kurz aus. In den späteren Nachrichten ist fast nur noch von Propaganda die Rede.

Ich teile die Einschätzung des Moskau-Korrespondenten Christoph Wanner, dass Putin konsequent auf seiner bisherigen Linie geblieben ist und keine neuen Atomdrohungen ausgesprochen hat, aber auch keinerlei Konzessionen gemacht hat. Er bleibt bei seinen Maximalforderungen, die sich auf den Donbass und die Krim beziehen. Er eskaliert nicht, er deeskaliert aber auch nicht.

Der schlechte Stratege und hervorragende Taktiker laviert sich vielmehr durch diesen fürchterlichen Krieg am Rande eines dritten Weltkrieges, der in das zweite Jahr geht. Putin schwört die Bevölkerung auf einen langen Krieg ein: „der Westen will, dass wir leiden“. Heißt auch: wir können das. Wer ist dieses große Wir? Und wie lange macht die Elite noch mit, zumal Putin die Lage des Landes schönzeichnet.

Dennoch sind einige Nuancen festzuhalten: es geht jetzt um nicht weniger als die russische Existenz, wie schon im Krieg gegen den Nationalsozialismus nach 1941. Dieser Vergleich spielt jetzt die zentrale Rolle, bis in bezeichnende Details (Namen, Symbole) hinein, insbesondere um so die breite Bevölkerung ansprechen zu können. Obwohl explizit von „Existenzbedrohung“ die Rede ist, wurde in der langen Rede indes die nukleare Bedrohung nicht explizit ausgesprochen. Darf man dahinter den Einfluss von China vermuten, dass bisher seine Rolle bewusst im Unklaren lässt?

Der mutige alte Mann

„Amerika ist gekommen, um zu bleiben“, sagte Biden am 20. Februar in Kiew. Kein Überraschungsbesuch kann in der momentanen Situation größere Aussagekraft haben als die mutige und gefährliche Aktion des 80-jährigen Präsidenten, von der Moskau informiert war. Schon beim ersten Polenbesuch erneuerte er die „heilige Verpflichtung“ des atlantischen Bündnisses für die Freiheit und Demokratie in der Welt (siehe die Blogs vom 26. und 27. März 2022). Dies sind mehr als Worte und Symbole, es sind auch nicht bloß Signale, die ausgesendet werden. Es steckt mehr dahinter, was es zu begreifen gilt.

Der Besuch von Präsident Biden demonstriert für alle sichtbar den Willen und die nötige Risikobereitschaft. Einem politischen Krieger wie Putin gegenüber, als der er sich schon im Tschetschenienkrieg zeigte, muss man Stärke zeigen und nicht Verdruckstheit, die als Schwäche des dekadenten Westens ausgelegt wird. „Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass in diesem osteuropäischen Land eine Schlacht über die Werteordnung (man kann auch sagen: Weltordnung, H.K.) des 21. Jahrhunderts geschlagen wird“ (FAZ, 21.2.23, S.1).

Nicht nur Russland – nach der Selbsteinschätzung von Putin in seiner Rede, für die er standing ovations bekam – auch die Nato ist stärker geworden. Putin setzt am Schluss seiner Rede fast beiläufig noch den Abrüstungsvertrag ‚New Start‘ aus und wirft damit dem Westen das letzte für die ganze Welt bedeutsame Kooperationsabkommen vor die Füße. Wird Biden in seiner Rede am 21. Februar vor dem Warschauer Königsschloss darauf eingehen?

Tatsächlich reagiert er nur an einer Stelle auf Putins Rede, wo er den Russen sagt, niemand wolle Russland angreifen, zerstören oder kontrollieren. Das immer wieder zu sagen, ist notwendig, denn es ist die größte und gefährlichste Propagandalüge neben all den vielen kleinen Lügen. Zudem ist die gewählte Regierung in Kiew mit Parlament kein „neonazistisches Regime“, was die zweite politisch gefährliche Lüge ist.

Bidens Rede wiederum war auf amerikanische Art inszeniert, es war aber keine Inszenierung eines Politikers, sondern eines Bündnisses, das nicht selbstverständlich ist, und bei aller internen Kritik, die möglich ist, seit dem Zweiten Weltkrieg für die Freiheit und Demokratie in der Welt eintritt. Seit den europäischen Revolutionen von 1989 ist Polen eines seiner „great allies“, als die Biden die Polen begrüßte. Präsident Duda bekräftigte ebenfalls, dass sich Polen „mit den amerikanischen Soldaten sicher fühle“. Auf die USA kann man sich historisch verlassen.

Inhaltlich wurde noch einmal das emphatische Verständnis von Freiheit auf der Seite der Demokratie in Abgrenzung zu Diktatur und Autokratie betont: „Wir stehen für souveräne Nationen und erheben uns für die Souveränität eines Landes“. Damit ist die Bürgersouveränität gemeint, was die Amerikaner und Polen wissen. Daraus wird dann weltpolitisch die große Koalition der 50 Nationen, die heute an der Seite der Ukraine stehen.

Um diesen Zusammenschluss und Zusammenhalt geht es Biden in den zwei Tagen in Polen, hier und jetzt. Der Auftritt der Kinder mit den drei Fahnen beschließt seine zweite historische Rede, die noch einmal an die „heilige Verpflichtung“ der Bündnissolidarität auch und vor allem für die Zukunft erinnern soll.

Man erkennt, was man alles nicht weiß

China will am Freitag, dem Jahrestag des Krieges, einen Friedensplan vorstellen. Alle rätseln, wozu das führen kann. China jedenfalls ist besorgt über eine weitere Eskalation des Krieges, von dem es bisher bewusst nur als ‚Ukraine-Konflikt‘ gesprochen hat. China hat noch Einfluss auf Putin, so dass man sich natürlicherweise an diesen Strohhalm der Hoffnung klammert.

Das große Land mit seinen großen Schwierigkeiten versucht einen Spagat zwischen den westlichen Märkten und der strategischen Freundschaft zwischen Putin und Xi, der Moskau im Frühling besuchen will. Diese Blockbildung wollen die USA und Europa unbedingt verhindern.

China tritt eigentlich für die Souveränität und territoriale Integrität der Länder und Völker ein, auch im Hinblick auf Taiwan (Ein-China-Politik). Es ist zudem Schutzmacht Nordkoreas. Der erklärte Feind von beiden sind die USA, die gegenwärtig im Indopazifik Manöver mit Südkorea abhalten. Die Beziehungen zu Japan, das Nordkorea vor den UN-Sicherheitsrat bringt, werden ebenfalls ausgebaut. Welche politische Rolle Indien, auch als wirtschaftlicher Konkurrent von China, in Zukunft spielen wird, ist noch nicht abzusehen.

Allerdings beginnt das gefährliche atomare Wettrüsten nicht erst mit Putins Aussetzung des ‚New Start‘-Vertrages. Daran hält sich China schon seit Jahrzehnten nicht und will sich als „Entwicklungsland“ auch gar nicht darauf einlassen. Die Militarisierung ist in allen Hinsichten grösser und gefährlicher geworden, was Auswirkungen auf die Konflikte haben wird.

Wem folgt hier China künftig und wie wird es die Friedensinitiative mit welchen anderen Forderungen verknüpfen? China denkt strategisch und in anderen Zeitkategorien, das sollte man aus Unkenntnis nicht unterschätzen, aber vieles ist im Moment unklar, auch die weitere Ausgestaltung der strategischen Partnerschaft mit Russland.

Beide verbindet die scharfe ideologische Gegnerschaft zum Hegemonieanspruch der USA, die „überall auf der Welt ihre Militärbasen haben“(Putin). Diese Gegnerschaft ist in den letzten Jahren gewachsen, was die Freundschaft zwischen Xi und Putin seit den boykottierten Winterspielen in Peking erklärt.

Kann die USA in gewissen Hinsichten, vordringlich bezüglich Weltfrieden und Weltordnung, bei aller wirtschaftlichen und technologischen Konkurrenz China auf seine Seite ziehen, wovon viel abhängen wird? Wir wissen es nicht. Die USA haben es gleichzeitig mit mehreren Konfliktherden zu tun, die für Krieg und Frieden auf der Welt von Bedeutung sind. Nordkorea haben wir schon erwähnt, Iran ist ein anderer, Pakistan womöglich ein weiterer usw. Sogar die Spannungen zwischen der Türkei und Griechenland müssen abgemildert werden.

Das ist viel auf einmal in einer Welt, wo Russland eine akute Bedrohung und China, euphemistisch ausgedrückt, eine neue große Herausforderung ist. Für Europa bleibt wichtig, dass die USA sicherheitspolitisch zurückgekehrt sind. Wird das nach 2024 so bleiben? Und wie wird sich EU-Europa selbst weiterentwickeln? Zahlreiche Konflikte werden jetzt überdeckt. Ungarn zum Beispiel teilt die Nato-Strategie nicht, Polen verlangt von Deutschland Reparationen in Billionenhöhe.

Deutschland wird in Zukunft nicht allein auf die USA setzen können. Für alle Länder bedeutet das innenpolitisch absehbar größere und härtere Auseinandersetzungen unter Bedingungen, wo nicht mehr so einfach Wohlstand verteilt werden kann wie in früheren Jahren. Der Ausgang dieser neuen Klassenkonflikte ist ungewiss.

Vieles ist deshalb offen und unsicher selbst in den westlichen Ländern, die gerade von heftigen Streikwellen betroffen werden (Frankreich und Großbritannien). Das gilt folglich auch für Europa, wo sich die Gewichte ost- und nordwärts verlagern werden. Erst recht kennen wir die weitere Entwicklung von Russland und China nicht, auf die wir zudem von außen keinen Einfluss haben. Diese Großmächte werden die künftige Weltordnung durch ihre Machtpolitik mitbestimmen.

Bildnachweis: IMAGO / Kyodo News