Politischer Pazifismus oder friedensuchende Realpolitik?

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Wer der Auffassung ist, dass Putin den Krieg nicht gewinnen darf, und die Ukraine den Krieg gewinnen kann und muss, für den liegen die Optionen vor den friedens- und hoffnungsfrohen Ostern auf der Hand. Frieden schaffen mit Waffen!

Während die friedensbewegten Ostermärsche weiterhin und jetzt erst recht eine „Welt ohne Waffen“ fordern, drängen die vielen, schnell überzeugten Nicht-Pazifisten auch gegen die Zögerlichen auf die schnelle Lieferung weiterer schwerer Waffen, die kriegsentscheidend sein können: das sind vor allem Panzer und Flugzeuge. Russland droht derweil bei weiteren Waffenlieferungen den westlichen Staaten „unvorhersehbare Folgen“ an. Nun haben sie es – vor Ostern – noch schriftlich! Großbritannien ist dabei besonders im Visier, deren Außenministerin sogar die Kriegsteilnahme eigener Staatsbürger begrüßt hatte.

Man kann sich Weiterungen des Krieges leider sehr wohl vorstellen, selbst auf Europa bezogen, von Kaliningrad aus. Das wird in russischen Talkshows ganz offen und ungehemmt diskutiert, was Putin so gefährlich macht. Seine populäre Unterstützung scheint ungebrochen. Man hat zurecht Angst vor ihm, ganz anders als im Fall von Milosevic in den 90er Jahren. Darf aber die Angst nicht weiterverbreiten.

Dies ist ebenso realistisch, wie die Drohung mit der ultimativen Waffe von Anfang an, der ein Bluff, an ein westliches Publikum gerichtet, gewesen sein kann. Die bestinformierten Geheimdienste helfen bei solchen Einschätzungen und daraus folgenden Entscheidungen jedoch auch nicht weiter, wenn sie berichten, dass man solche Drohungen zwar ernstnehmen soll, aber zurzeit keine Beweise vorliegen, dass sie in die Tat umgesetzt werden (CIA, 16.4.).

Vor Ostern wird bestätigt, dass das Flaggschiff der Schwarzmeerflotte, die ‚Moskva‘, gesunken sei. Die Ukrainer reklamieren diesen erfolgreichen Beschuss durch Schiffsraketen für sich. Für Russland wiederum – so wird das im russischen Fernsehen aufgeregt diskutiert- ist dieses Fiasko wie ein Angriff auf ihr Heimatterritorium, auf dem Putin Staatsgäste wie den ägyptischen Militärdiktator al Sisi oder den erfolgreichsten europäischen Populisten Berlusconi empfangen hatte. 

Der hochgerüstete modernisierte Lenkraketenkreuzer war mehr als ein Schiff. Vergeltungsschläge auf Kiew sind die Folge. Der Konflikt spitzt sich wie im Brennglas weiter zu mit nur schwer absehbaren militärischen Konsequenzen. Es dient vor allem der eigenen Beruhigung, wenn (richtigerweise) gesagt wird, man unterstütze ja mit weiteren Waffenlieferungen lediglich, völkerrechtlich korrekt, die Partei der Verteidigung gegen einen feindlichen Aggressor. 

Damit sieht man sich auf der richtigen Seite der Geschichte, sollte es zu Schlimmerem kommen. Wie aber kann man dieses vermeiden? Das ist doch die eigentliche Frage bei einem Konflikt, wo niemand im Ernst und endgültig sagen kann, dass er die Eskalationskontrolle innehat. Die Gefahren und Risiken von Stellvertreterkriegen sind zu beachten (siehe Wyss, 16.4. NZZ, S.16). Damit hat Europa keine Erfahrung, und die USA schlechte Erfahrungen (siehe Vietnamkrieg).

In der klaren Verurteilung von Putins Angriffskrieg sind sich auf westlicher Seite (fast) alle einig.
Die deutliche und schnelle Unterstützung der Nato- Mitglieder ist dabei unterschiedlich, und nicht jeder Präsident spricht wie Biden ausdrücklich von Völkermord an den Ukrainern, womit moralisch-politisch eine rote Linie überschritten ist, wenn man an die Diskussionen über humanitäre Interventionen denkt.

Das ist eine Diskussion, die historisch über den rechtlichen Rahmen von Kants Friedensschrift (1795) hinausführt. Trotzdem sind Stimmen aus der Friedensbewegung der Meinung, dass schwere Waffen nicht weiterhelfen, sondern die Aggressivität des Konflikts vielmehr noch erhöhen. „Gasboykott ja, Waffenlieferungen nein,“ bis hin zu: „Raus aus der Nato“, was in der Tat radikalpazifistisch wäre.

Der Veteran der deutschen Grünen Ströbele warnt vor der Eskalation zum Atomkrieg. Damit knüpft er an die nuklearpazifistische Friedensbewegung der 80er Jahre an. Diesmal gibt es jedoch zwei konkurrierende Ostermärsche in Berlin. Ausgerechnet der in der SED und PDS sozialisierte Dietmar Bartsch (Die Linke) zitiert in dieser unversöhnlichen Situation den Papst, der mehr „diplomatische Kreativität“ fordert (16.4.).

Papst Franziskus hat bisher Putin nicht beim Namen genannt, er ist auch nicht nach Kiew gereist trotz frühzeitiger und mehrmaliger Einladung. Es fehlte ihm sicher nicht der Mut dazu, nach seiner mutigen Reise in den Irak vom 5. bis 8. März 2021. Den Kreuzweg Jesu um das Kolosseum ließ er am Karfreitag, nach zwei Jahren Pandemie, symbolisch auf der 13. Station von zwei befreundeten Krankenschwestern beten: die eine aus Russland, die andere aus der Ukraine. Das wurde kritisiert: Osterfrieden als voreilige Versöhnung? Wie viele Menschen erreicht der traditionelle Ostersegen „Urbi et Orbi“ noch? Nachhaltig, wie man heute sagt, weil Versprechen und Verträge nicht eingehalten werden.

Die Einheit der Christen ist eine Illusion, und das Weltethos eine politische Naivität. Städte werden über die Ostertage weiter mit unverminderter Härte bombardiert, neben Charkiv und Mariupol tauchen täglich neue Städtenamen in der Donbass-Region auf, worauf sich die Angriffe konzentrieren. Eine militärische Ostergroßoffensive des Aggressors steht unmittelbar bevor. Das sind die menschlichen Realitäten. Ein politischer Pazifismus ist weit entfernt davon, sie wahrzunehmen und entsprechend zu handeln.

Was bedeuten Krieg und Frieden noch auf einem christlich geprägten Kontinent, wo Christen wieder aufeinander schießen? Und wo der Patriarch von Moskau Kirill den Krieg schon längst religiös gerechtfertigt und als Zivilisationskonflikt gegen den dekadenten Westen überhöht hat. Was Frieden elementar bedeutet, wissen die Menschen, die beschossen werden und fliehen müssen, 5 Millionen sind es inzwischen. Aber dass Aufrüstung zur Verteidigung, Verteidigungskrieg, gerechter Krieg und militärischer Schutz auch (wieder) etwas bedeuten, ist schwerer hinzunehmen und zu vermitteln.

Das gehört zur robusten Zivilität und reflektierten Staatlichkeit hinzu. Dem Realismus wird in der politischen Theorie häufig Bellizismus vorgeworfen, was jedoch grundfalsch ist. Neben seiner konkreten Urteils- und Handlungsfähigkeit reflektiert er den Vorbehalt, dass Frieden ein fragiler Zustand ist. Das gilt heute erst recht für Demokratien nach innen wie nach außen, selbst für die amerikanischen und französischen Vorbilder. Nichts ist garantiert.

Wie kann man in einer solchen Situation durch echte Verhandlungen überhaupt zu einem Frieden, die „vorrangige Verantwortung aller“ (Franziskus), kommen? Ein Frieden, der auch Freiheit und Demokratie einschließt und dadurch wächst. Das ist die aktuelle Frage, an die sich weitere langfristige weltpolitische Fragen nach Rüstungskontrolle und Sicherheitsgarantien unmittelbar anschließen, deren Antworten nur in einem neuerlichen Anlauf friedensuchender Realpolitik, die kooperativ ist, gefunden werden können. 

Das wird ein weiter schwieriger Weg in einer Welt diffuser Multipolarität.

Bildnachweis:  IMAGO / Olaf Schuelke