Politik des Zusammenhalts

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Inzwischen ist der häufige Gebrauch der Worte Respekt, Anerkennung und Zusammenhalt auffällig. Er ist symptomatisch für eine besondere Krisenlage, aber er ist noch keine Politik des Zusammenhalts. Worauf eine solche Politik Bezug nehmen kann, wird uns im Folgenden beschäftigen.

Vor Jahren bezeichnete ein prominenter Sozialdemokrat seine Partei als „Spezialisten des Zusammenhalts“ (Gabriel). Das ist vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte kein unberechtigter Anspruch – denn, wer hat die erste deutsche Demokratie verteidigt? Und welche politische Kraft war ebenso massgeblich am Aufbau des Wohlfahrtsstaates nach dem zweiten Weltkrieg beteiligt, der soziale Marktwirtschaft und soziale Demokratie implizierte? Im Kontrast zu dieser Erfolgsgeschichte behauptet nun der politische Philosoph Michael Sandel provokativ, dass die meritokratischen Eliten in den letzten vierzig Jahren nicht gut regiert haben und deswegen den populistischen Protest mitverantworten (Vom Ende des Gemeinwohls, 2020). Er bezieht sich dabei primär auf die USA und belegt dies mit strukturellen empirischen Daten über Ungleichheiten der Einkommen und des Wohlstandes, der Deregulierung der Finanzmärkte, maroder Infrastruktur etc., aber auch mit zahlreichen Äusserungen der Demütigung und Verachtung, des Unmuts und Zorns, welche eine tiefe gesellschaftliche Spaltung und politische Polarisierung zum Ausdruck bringen. Was steht dahinter?


In seine Kritik an der Tyrannei der Meritokratie (so der präzisere Originaltitel: The Tyranny of Merit) schliesst Sandel die Demokraten der linken Mitte seit Clinton/Blair/ Schröder mit ein – vor allem ‚New Labour‘ nach Maggie Thatchers neoliberaler Revolution. Dagegen war der Übergang von Helmut Schmidt (‚Modell Deutschland‘) zu Helmut Kohl, obschon dieser 1983 eine geistig-moralische Wende (gegen den Einfluss der 68er) einleiten wollte – nach der intellektuellen Tendenzwende in den 70er Jahren (Neokonservativismus), die politisch breitgefächert war – eine mehr proklamierte schwache Politikwende. Die Konservativen vemissten die geistige Wende, der Fortschrittsoptimismus obsiegte mit neuen Themen. Ein ganz anderer Wendepunkt mit historischer Wucht ereignete sich hingegen 1989, mehr unverhofft und nicht prognostiziert. Im Mittelpunkt dieser Revolutionen in Osteuropa standen Freiheit und Wahrheit, sie bedeuteten einen klaren Schnitt zwischen Vergangenheit und Zukunft, während die jüngere bundesrepublikanische Geschichte durch Kontinuität und Stabilität geprägt war.

Die rot-grüne Regierung Schröder/Fischer wiederum (1998-2005) war nach dem ‚Marsch durch die Institutionen‘ aufgrund des deutschen Neokorporatismus und der Sozialpartnerschaft ebenfalls kein tiefer Bruch, eher ein Intermezzo. Es war gewissermassen ein nachgeholter Kulturbruch in der Politik, aber kein Bruch im Gesellschaftsmodell so wie Reagan und Thatcher. Gerhard Schröder wollte „nicht viel anders, aber einiges besser machen“. Der ‚Neokonservativismus‘ bzw ‚Neoliberalismus‘ hatte eben verschiedene historische Pfadabhängigkeiten und intellektuelle Varianten. Der Kanzler der staatlichen Einheit, einschliesslich der ostdeutschen Kanzlerin Merkel, arbeiteten als Christdemokraten in mehr als 30 Jahren Regierungsarbeit immer auch einen Teil der sozialdemokratischen und europäischen Agenda mit ab. Der ‚Kohlismus‘ ist kein ‚Thatcherismus‘, und der Europäer Kohl hatte darüber hinaus sowohl Sozialdemokraten als auch Grüne überzeugt, was bis heute Folgen hat.

In den langen 90er Jahren kommt sodann dreierlei zusammen, was tiefer liegt und über deutsche Zeitgeschichte hinausgeht:
– „der Aufstieg des Meritokratismus als Leiterzählung, 
– der Aufstieg des ökonomischen Liberalismus und
– der Abschied der unteren Schichten von der Linken.“(Die Zeit, 19.11.2020)


Meritokratie

Sandels Kritik an der Leistungsgesellschaft , die als gewissermassen ‚unanständige‘ Meritokratie die liberale Demokratie zu polarisieren droht und ihre Übernahme durch den Populismus vorbereitet, ist auch eine Kritik am sogenannten Dritten Weg, für den die politischen Konflikte nicht mehr primär zwischen ‚links‘ und ‚rechts‘, mithin um die Gleichheit kreisen, sondern zwischen ‚offen‘ und ‚geschlossen‘ verlaufen, was auch bedeutet, dass Kritiker gegenüber Auslagerung, Freihandelsabkommen und uneingeschränktem Kapitalfluss nicht genügend aufgeschlossen und anschlussfähig, das heisst nicht global denkend seien (S.34). Gerhard Schröder beispielsweise ging es um moderne und nicht um linke oder rechte Wirtschaftspolitik. Die beschleunigte Modernisierung von allem und jedem hält uns seitdem in Atem. Schröders Agenda 2010 bedeutete schliesslich einen Kulturbruch innerhalb der Sozialdemokratie, gegen den sich eine alte neue ‚Linke‘ unter dem ehemaligen SPD-Vorsitzenden und Finanzminister Oskar Lafontaine formierte, die fortan beanspruchte, die wahre Sozialdemokratie zu sein: „Hartz IV ist Armut per Gesetz“.

Die marktgetriebene Globalisierung brachte nicht nur zunehmende Ungleichheiten, sondern auch eine Entwertung herkömmlicher Identitäten mit sich, was einen populistischen Nationalismus als Massenbewegung( zum Beispiel den Trumpismus mit mehr als 73 Millionen Wählerstimmen) hervorrief, der sich als wahrer Patriotismus versteht. Ähnliche Bewegungen gab es in fast allen europäischen Ländern schon zuvor, denken wir nur an Berlusconi in Italien (‚Forza Italia‘), der viermal die Wahlen gewann, oder an Pim Fortuyn in den Niederlanden. Es wäre überraschend unpolitisch, zu meinen, dass man dieser Auseinandersetzung entkommt. Überall gibt es die ‚wahren Finnen‘, ‚Schwedendemokraten‘, Nationalen Fronten, richtigen Chinesen, ‚Einiges Russland‘ und Mehrheitsparteien, die den Nationalstaat kapern (wie Fidesz in Ungarn oder PiS in Polen) usw. Wir schieben es gerne auf einzelne ‚Bösewichte‘ wie Trump oder Orbán (‚Ungarischer Bürgerbund‘), der die EU mit der Sowjetunion verglich. Das entlastet und vereinfacht auf allen Seiten. Der Führer ist aber nichts ohne die Masse, und die zivile Masse (multitudo), die alles andere als ein einheitliches Phänomen darstellt, spielt eine eigenständige Rolle, was heutige Wahlkämpfe und Regierungsbildungen schwieriger und unberechenbarer macht. Um die Zustimmungsbereitschaft dieser Vielheit wird in der demokratischen Politik, die Mehrheiten braucht, gerungen. Eine Politik des Zusammenhalts kommt daran heute erst recht nicht vorbei. Es gibt bessere Gründe für einen aufgeklärten, geteilten Patriotismus als einseitig nationalistische. Darum wird es im Folgenden gehen, nämlich um Würde, Rechte, Verfassung, Gleichheit, Gerechtigkeit, Solidarität und Demokratie als grundsätzliche Referenzen einer konkreten Politik des Zusammenhalts, die trotz Differenzen zu überzeugen vermag.

Das Besondere und Herausfordernde an Sandels Ausführungen besteht darin, dass er die Verantwortung der herrschenden Eliten für den populistischen Protest herausstellt, indem sie nämlich die Bedingungen mitgeschaffen haben, “ welche die Würde der Arbeit zersetzt und viele mit dem Gefühl zurückgelassen haben, nicht geachtet zu werden und machtlos zu sein“ (S.32)) . Auf zwei Aspekte konzentriert sich seine kritische Analyse, die den Eliten nicht gefallen und durch die Arroganz der Gebildeten eher abgewertet und abgewehrt als selbstkritisch verarbeitet wird:
– die technokratische Art, das Gemeinwohl zu formulieren, und
– die meritokratische Art, Gewinner und Verlierer zu definieren (S.33).

Das letzte Kapitel trägt die Überschrift „Arbeit anerkennen“(S.313-353). Es beginnt folgendermassen: „… bis in die 70er Jahre war es möglich, dass diejenigen ohne Hochschulabschluss eine gute Arbeit fanden, eine Familie ernähren und ein bequemes Leben in der Mittelklasse führen konnten. Heute ist das sehr viel schwieriger.“ Drei Worte sind hier besonders hervorzuheben, die uns im weiteren Fortgang, wenn es um die Analyse der Sozialstruktur geht, weiter beschäftigen müssen : Arbeit, Familie, Mittelklasse. In den letzten 40 Jahren, insbesondere aber seit den 2000er Jahren ist die sogenannte ‚Hochschulprämie‘ immens angestiegen: „1979 verdienten Hochschulabsolventen etwa 40% mehr als diejenigen mit einem High-School-Abschluss; in den 2000er Jahren lag ihr Einkommen 80% höher.“

Das heisst auch: die Globalisierung brachte den normalen Arbeitern nichts an Jobs und Einkommen, im Gegenteil, die Schere der Einkommensungleichheit vergrösserte sich vielmehr drastisch für alle sichtbar. Sandel spricht aber noch zusätzlich von einer empfundenen Ungerechtigkeit, die subtiler und perfider ist: die Zersetzung der Würde der Arbeit, was an die ‚Politik der Würde'(Über Achtung und Verachtung), die Gerechtigkeitstheorie von Avishai Margalit, erinnert (2012).


Würde

„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ So lautet der erste Artikel des Grundgesetzes. Ihm folgt das Bekenntnis zu unverletzlichen und unveräusserlichen Menschenrechten. Am 10.Dezember 1948 verabschiedeten die Vereinten Nationen die Allgemeinen Menschenrechte. Dieser Wertekanon ist ein Kompass für das Zusammenleben verschiedener Menschen. Die Vorstellung, dass jede Person eine eigene Würde und jeder Einzelne einen Wert hat, gibt es schon lange in Religion und Philosophie und nicht erst seit der historischen Aufklärung. Ein Produkt der Aufklärung sind indes die verfassungsrechtlich festgeschriebenen Bürger- und Menschenrechte, so in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung (1776) und der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (1789).

Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 nimmt in der Präambel Bezug auf die historische Erfahrung der „Akte der Barbarei“. Die Menschenrechte sollen deshalb durch die „Herrschaft des Rechts“ geschützt werden, damit die Menschen nicht zum Widerstandsrecht gegen Unterdrückung greifen müssen, welches, gerne übersehen, die französische Erklärung von 1789 ebenfalls festhält (in Artikel 2). Die Menschenrechtssubjektivität ist angeboren (so die Präambel), es handelt sich um eine inhärente Würde, auf der die gleichen und unveräusserlichen Rechte beruhen. Mit der Charta bekräftigen die Völker der Vereinten Nationen “ ihren Glauben an die Menschenrechte, an die Würde und den Wert der menschlichen Person und an die Gleichberechtigung von Mann und Frau.“ Sie beschliessen damit auch, “ den sozialen Fortschritt und bessere Lebensbedingungen in grösserer Freiheit zu fördern“ (so die Präambel weiter). In der rechtsverbindlichen europäischen Grundrechtecharte ist inzwischen die Menschenwürde ebenfalls an die erste Stelle gerückt. Sie ist mit ihren sechs Artikeln Teil einer komplementären Europäischen Verfassung, die im Vertrag von Lissabon (2007) inkorporiert ist. Ihre Präambel enthält die ausführlichste und genaueste Formulierung der EU als Wertegemeinschaft. Für eine immanente Kritik gibt sie mehr als genügend her.

In der Politik der Würde von Margalit geht es um Anstand, genauer: um den Anstand, Menschen nicht zu demütigen. Dieses Ideal ist nicht zu hoch gehängt, sondern umsetzbar, da es uns alle angeht und gleichermassen betrifft. Es ist nachvollziehbar, und wir können es (buchstäblich) im Unterschied zu überhöhten Gerechtigkeitsvorstellungen realisieren, die in der Geschichte, über die Rechtssicherheit der Einzelnen hinweggehend, viel Leid gebracht haben. Damit hängt auch die moralische Kritik an einer meritokratischen Leistungsgesellschaft zusammen, welche die westlichen liberalen Demokratien zu zerreissen droht, was Anlass für unser Thema: Politik des Zusammenhalts, ist.

Um eine empirisch gut belegte Argumentation kurz zusammenzufassen: Der technokratische Führungsstil einer marktkonformen Demokratie hat zu einer meritokratischen Definition von Anerkennung und Wertschätzung derart geführt, dass die Verlierer und Abgehängten der beschleunigten modernen Prozesse( in einem Wort: der Globalisierung) „den Eindruck haben müssen, dass die Gewinner mit Verachtung auf sie herabschauen“(S.37) – das genaue Gegenteil einer ‚Respektsgesellschaft‘ (Scholz)! Der Marktwert eines Jobs ist aber kein Maß für seinen Beitrag zum Gemeinwohl. Wer aber definiert dieses wie?

Der Verlust von Maß und Mitte beginnt bei der meritokratischen Auslese und Bewertung. Wert ist in der Neuzeit nicht zufällig ein ökonomischer Begriff, seine Begriffsgeschichte ist aufschlussreich, einschliesslich der Arbeitswerttheorien von Locke, Ricardo und Marx. Die gegenwärtig inflationäre Rede und Beschwörung von Werten kompensiert die Tatsache, wie sehr der Wert des gesellschaftlichen Beitrags unserer Arbeit inzwischen ökonomisch geprägt ist. Wir müssen uns aber als Gesellschaft und damit auch politisch wieder fragen, „was gilt als wertvoller Beitrag zum Gemeinwohl, und was schulden wir einander als Bürger?“ (S. 325) Womit wir beim Begriff und der Konzeption von Solidarität sind, die 2020 während der Pandemie, der grössten Krise seit dem 2. Weltkrieg, die niemand verschuldet hat, zum altneuen Hauptwort geworden ist. Können wir davon etwas bewahren zur Erneuerung einer Politik des Zusammenhalts? Lernen wir wieder ein Handeln in Solidarität, das wirtschaftliche und gesellschaftliche Wirkungen hat?


Solidarität

Solidarität ist ein ebenso unstrittiger wie umstrittener Wert, der in unterschiedlichen Traditionen steht (katholisch, republikanisch, sozialistisch). Er ist zum einen ein Grundwert der modernen Sozialdemokratie geworden (Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität) und steht zum anderen wie Menschenwürde in der europäischen Grundrechtecharta (Art.4), was eine Innovation – über Freiheit und Gleichheit hinaus – in der Verfassungsgeschichte ist. Nicht umsonst war er im Grundrechtekonvent am meisten umstritten. Frau Merkels Rede vor dem EU-Parlament am 8.7.2020 war deshalb inhaltlich meisterhaft, weil sie die Grundrechte ebenso beschworen hat wie eine außergewöhnliche europäische Solidarität in der großen Krise, womit sie die nationale Kraftanstrengung in Deutschland mit einer einzigartigen transnationalen Solidarität verknüpfte, die jetzt notwendig wurde. Vor allem Italien und Spanien brauchten sie dringend. Am 21. Juli hiess es dann: We did it, die EU kann noch gemeinsam handeln; zufrieden sind auch die sparsamen Vier. Der Ministerrat billigt den gemeinsamen Haushalt und Coronahilfen in Milliardenhöhe. Nicht nur Deutschland und Frankreich können gemeinsam etwas bewirken, auch die sogenannten Kleinen (wie Österreich) können etwas erreichen, wenn sie abgestimmt handeln. Die EU ist nicht zerbrochen, aber sie hat sich gespalten. Nach dem Austritt Grossbritanniens hat sich die Machtarithmetik verschoben hin zu einer Nordallianz.

Dass Solidarität keine Grenzen kennt, ist richtig und falsch zugleich. Solidarität kann ansteckend wirken über alle Grenzen hinweg; Solidarität muss man aber auch können, sie geht weder in Philanthropie noch Großzügigkeit auf, so wünschenswert diese Einstellungen sind. Wenn oft und viel an Solidarität appelliert wird, so müssen Ressourcen dafür vorhanden sein. Ressourcen wofür? Für das bessere Einstehen füreinander, das geweckt und ermuntert werden kann. Die Motivation dazu hat wiederum mit Einsicht und Gründen zu tun. Und wie gesagt, man muss es können, am besten gemeinsam mit anderen im Kleinen wie im Großen. Großzügige Hilfskredite des Staates sind möglich, wenn alle solidarisch sind. Im politischen Ernstfall und gesellschaftlichen Ausnahmezustand kommt es auf gemeinsames Handeln und jeden Einzelnen an, das heißt auf alle. Dabei geht es auch, aber nicht nur, um die aufopferungsvolle Solidarität vieler Berufe, die vorher im Schatten der Aufmerksamkeit standen( wie Pflegepersonal, Kassiererinnen, Busfahrer, Erzieherinnen und viele andere). Sie leisten immer eine wichtige ‚Hintergrunderfüllung‘ (Gehlen) in der arbeitsteiligen, differenzierten Leistungsgesellschaft und werden erst in der grössten Krise ’systemrelevant‘ und öffentlich beklatscht. Solidarischer wäre es, sie hätten bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne. 

Es gibt eine große verrechtlichte Solidarität in der Gesellschaft, die politisch über den starken, demokratisch legitimierten Rechts- und Sozialstaat läuft. Zum Beispiel das Kurzarbeitergeld ist eine Leistung dieses Sozialstaats – Kurzarbeit statt Entlassungen, was ein Segen für die Arbeiter wie die Unternehmen ist. Der deutsche Sozialstaat steht im internationalen Vergleich gut da, er kompensiert das, was in Amerika der (enttäuschte) Traum von den unbegrenzten Möglichkeiten bedeutet. Inzwischen ist die soziale Mobilität in Europa grösser als in den USA, als Alexis de Tocqueville in seinen Büchern (1835 und184o ) die Demokratie in Amerika als Labor eines neuen Gesellschaftszustandes beschrieb, für den die Gleichheit der Bedingungen( im Unterschied zum damaligen aristokratischen Europa ) grundlegend ist, obwohl schon damals die Unterdrückung der indigenen Völker, der Rassismus (in den Südstaaten), neue Klassen (die Industriellen) und neue Aristokraten oder Eliten (die Juristen) erkennbar waren. Hier wie dort fragt man sich gegenwärtig, was die Angebote für Aufsteiger sind und zunehmend, welche Lebenschancen die Mittelschichten haben.

Sozialstaatliche Mittel sind mit hohen Kosten verbunden beispielsweise für Kurzarbeitergeld, höheren Mindestlohn und existenzsicherndes Kindergeld. Leistungsträger dieser Versicherungen auf Gegenseitigkeit sind die Mittelschichten. Sozialdemokratie bedeutet in der Corona-Krise Ausbau und nicht Rückbau des Sozialstaates, freilch mit der Problematik höherer Schulden und der Aussetzung der verfassungsmässig vorgesehenen Schuldenbremse, die für die Generationengerechtigkeit wichtig ist. Solidarität hat mehrere Dimensionen und sie ist keine Einbahnstrasse. Trotzdem wächst das Armutsrisiko und erreicht in Deutschland mittlerweile einen Höchststand, was eine erneuerte Wahrnehmung und Zuwendung zu den benachteiligten Gruppen erfordert. Kinder- und Altersarmut darf es in einer reichen Gesellschaft nicht geben. Und die Eltern müssen flexibel sein, wo die Schule ausfällt und die Kitas schließen.

Nicht alle sind dafür gleich gut gerüstet. Am meisten leiden die alleinerziehenden Frauen und die Kinder, insbesondere armer Familien in beengten Verhältnissen. Die häusliche Gewalt nimmt zu. Die Kinder aus belasteten Familien bleiben unsichtbar und fallen selbst durch das Raster der Schulen. Sie verlieren auf dieser wichtigen Wegstrecke, was sie später nicht mehr aufholen können. Auch Studenten mit Nebenjobs benötigen Hilfefonds. Die soziale Ungleichheit muss deshalb Teil der Pandemiebekämpfung werden. Familien als innere Heimat und Nationalstaaten, in welche die Weltreisenden zu Beginn der Pandemie heimgeholt worden sind, fangen gerade viel auf, sie können aber nicht allen und in allem helfen und geraten an Belastungsgrenzen. Die menschliche und rechtliche ‚Solidarität unter Fremden'(Brunkhorst) bleibt unerlässlich. Wir müssen jeweils den Kontext erkennen und sehen, wo und wie wir in einem Boot sitzen. Dann sind auch Verzichte und Kompromisse möglich, die bisher unwahrscheinlich schienen.

Ebenso existiert eine spontane, vielfältige zivilgesellschaftliche Solidarität im Kleinen. Auch diese Solidarität wird in der Krise erfinderisch, nachbarschaftlich, lokal und regional, was erhebliche wirtschaftliche und soziale Auswirkungen haben kann. Bei aller Bedrücktheit in der Pandemie, an Einfallsreichtum fehlt es nicht. Täglich gibt es neue Menschenketten am Radio, Spendenaktionen, originelle HelpTo-Portale usw.. Es wird damit noch einmal deutlich, was Solidarität ausmacht: gemeinsame Solidarität füreinander, verrechtlicht und spontan, das, was man einander schuldet, breite Unterstützung allenthalben, Vernetzung und Synergie, starker Staat sowie die zuverlässige Regierung als Krisenmanager und die grosse Bedeutung von Infrastruktur, für die man vorsorgen muss, z.B. für ein funktionierendes Gesundheitssystem, das nicht krank gespart werden darf. Soviel zumindest kann man aus dem Notstand lernen. Die Rationen für die Zukunft sind jedoch nicht nur Notvorräte, sondern lebendige Systeme, denn es ist ebenso erkennbar, “ dass alle Menschen und ihre Institutionen ihre Funktionen im Rahmen eines umfassenden Systems ausüben. Wenn das auf Grenzüberziehung strukturiert ist, tragen alle Mitspieler im System gewollt oder ungewollt zum Überziehen von Grenzen bei“( Meadows/Randers, Die neuen Grenzen des Wachstums, 1992, S.273). Die angestaute Kreativität lässt sich nutzen.

Gleichheit

Solidarität bedeutet nicht Gleichheit, sondern Ausgleich und gemeinsame Hilfe. Gleichheit scheint ein einfacher Begriff zu sein, dessen Philosophie selten thematisiert wird. Sieht man genauer hin, wIrd es kompliziert. Tocqueville interessierte sich für das Verhältnis von Gleichheit und Freiheit in der Demokratie, die er als neuen Gesellschaftszustand und nicht nur als Regierungsform untersuchte, als er 1831 seine neunmonatige Reise in die Vereinigten Staaten von Amerika unternahm. Als charakteristisch für diesen Gesellschaftszustand bezeichnete er die ‚Gleichheit der Bedingungen‘. Die Gleichheit ist für den Aristokraten Tocquville zwar weniger erhaben, dafür aber umso gerechter, weil sie zum Wohlstand aller führt. Sie ist nicht bloß ein Kennzeichen der neuen Gesellschaft (Demokratie) unter anderen, sondern ihre wirkende Ursache und das neue Prinzip.

Gleichheit geht dabei über äußerliche und messbare Merkmale hinaus, sie hat vielmehr eine zentrale zivilreligiöse und imaginäre Bedeutung, welche das Verhältnis der Menschen zueinander verändert und die demokratische Dynamik beflügelt. Die „eingebildete Gleichheit“(Tocqueville) schafft – gestützt durch die öffentliche Meinung- Gleichheit ungeachtet der tatsächlichen Ungleichheiten. Neben diesen Geist der Gleichheit tritt die Realität der Gleichheit, in der sich die Menschen tatsächlich in einer breiter werdenden Mittelschicht angleichen. Diese Mittelschicht oder Mittelklasse, die bei Aristoteles noch als Ideal von Mitte und Maß gegen die Extreme durchleuchtet, pocht ebenso fiktional auf Gleichheit und Einebnung (Konformismus), wie sie sich faktisch im Wohlstand angleicht, womit wir bei der modernen Wohlstands- bzw. Konsumgesellschaft, dem Hedonismus auf Erden für die meisten sind. Wohlstand ist in der massenbürgerlichen Demokratie nicht nur ein Lebenszweck, sondern eine Lebensweise. Das gilt auch für den klassenlosen Postmaterialismus der Lebensstilfragen, der auf ökonomischen, sozialen und politischen Voraussetzungen des Materialismus aufruht.

Schließlich ergibt sich daraus das Bild einer zusammenhangslosen dynamisierten Masse von Individuen (Individualismus), die durch keine Gemeinsamkeit mehr verbunden sind. Es herrscht ein dauerndes Fieber:“angestrengter könnte man nicht arbeiten, um das Glück zu erringen“, kommentiert Tocqueville mit aristokratischer Distanz.

Diese zusammenwirkende Dynamik hat niemand im Griff, auch der abgetrennte Staat nicht, auf den in Krisensituationen als zuverlässige Machtinstanz immer stärker gebaut wird. Die Regierungszentralisation des Staates wird insofern von Tocqueville als unausweichlich, wenngleich als problematisch registriert. Diese Skepsis teilt er mit dem Liberalen Benjamin Constant (1767-1830) und dem Sozialliberalen John Stuart Mill (1806-1873). In Beziehung zur besagten demokratischen Dynamik und der Wohlstandsgesellschaft als Daseinszweck werden sich die Menschen nicht nur ähnlicher, was die „sittliche Macht des Mehrheitswillens“ erhöht, sie werden auch abhängiger. Demokratischer Individualismus (oder Konformismus) meint eben auch, dass die Menschen auf kleinere und bekanntere Maße zurückgeführt werden. Der Individualismus geht in die Breite, aber er ist kein Ausdruck weder für übertriebene Selbstsucht noch für aristokratische Größe. Tocqueville schreibt: Nachdem der Mensch sich “ eine kleine Gesellschaft für seinen Bedarf geschaffen hat, überlässt er die grosse Gesellschaft gern sich selbst“ (2/147). Mit der Weltgesellschaft der Soziologen beschäftigt er sich schon gar nicht.

Wohlfahrts- und Wohlstandsgesellschaft sind jedoch nicht dasselbe. Letztere gewann in den letzten Jahrzehnten immer mehr an Macht und mit ihr eine politische Ökonomie, die sich vor allem mit der Größe und Verteilung des Bruttoinlandprodukts befasst. Mit ihr geht eine konsumorientierte Vorstellung des Gemeinwohls aus Sicht des Verbrauchers – das ‚Virus Reichtum‘ – einher, welche das zivilgesellschaftliche Leben verarmt und die Würde der Arbeit zersetzt. David Goodharts neues Buch (2020) “ Head, Hand, Heart“, The Struggle for Dignity and Status in the 21st Century, so der Untertitel, ergänzt die Befunde von Sandel. Die Geringschätzung von ‚Hand‘ und ‚Herz‘ sowie der Fokus auf ‚Head‘ führt zum Thema Würde und Status. Das Arbeitsethos der Arbeiter- und Mittelschicht wird nicht genügend respektiert, während der Höhepunkt der Massenakademisierung erreicht ist. Sandels moralisch- politische Kritik setzt deshalb beim Beitragsapekt der Gerechtigkeit (und nicht bei der Verteilungsgerechtigkeit) an, der am Produzenten und nicht am Konsumenten orientiert ist. Die Diskrepanz zwischen dem, was der Markt entlohnt, und dem, was tatsächlich zum Gemeinwohl beiträgt, wird immer grösser, was in der Zeit der neoliberalen Globalisierung und des Finanzmarkt-Kapitalismus in der Wirtschaft deutlich wird.

Sandel kritisiert vor allem die überhebliche und herablassende Art der Gewinner dieser Projekte gegenüber den Verlierern in der Arbeiter- und Mittelklasse und erklärt deren Unmut als verletzte Anerkennung, einen Beitrag zum Gemeinwohl zu leisten. Gegenüber den meritokratischen Eliten wie dem populistischen Protest skizziert er ein alternatives politisches Projekt, welches die Würde der Arbeit zum Ausgangspunkt einer öffentlichen Diskussion über eine Beitragstheorie der Gerechtigkeit machen soll. Dies betrifft oft verdeckte moralische Fragen der Wirtschaftsordnung, z.B. bezüglich Steuern, Wachstum, sinnvolle Tätigkeiten, Löhne, Boni, Haftung. Sandel argumentiert gegen die Verwechslung von eingenommenem Geld mit dem Wert unseres Beitrags zum Gemeinwohl, was den fortdauernden Reiz der Meritokratie ausmacht.

Demokratie

Liberale Forschrittsfreunde setzen auf Chancen, und Ralf Dahrendorf hat sogar versucht, eine politische Theorie der Lebenschancen aus einer Kombination von Optionen und Ligaturen zu konstruieren (1979). In der modernen Sozialdemokratie rangieren Chancengleichheit und Bildung als Chancenverteiler an vorderster Stelle der politischen Agenda. Der sogenannte zweite Bildungsweg war sozusagen eine Leiter unter vielen für den gesellschaftlichen Aufstieg. Die soziologische Kritik an den Illusionen der Chancengleichheit (Bourdieu) setzte freilich schon früh ein. Der Sozialhistoriker Hans-Ulrich Wehler bilanzierte sodann in seiner ‚Deutschen Gesellschaftsgeschichte‘ (2008), dass das sozialdemokratische Ideal der Chancengleichheit gescheitert sei, man könne höchstens von Chancengerechtigkeit sprechen. 

Was eine Fairnesstheorie der Gerechtigkeit bewirken kann, wenn faire Chancen messbar schwinden, ist fraglich. Bleibt es also bei Gewinnern und Verlierern wie im Sport, die sich wenigstens fair behandeln? Zum sportlichen Wettbewerb gehört auch der Satz: „Du hast keine Chance, nutze sie!“ Die ‚verwilderte Selbstbehauptung‘ (Adorno) greift in verschiedenen Kreisen und Parallelgesellschaften um sich. Ist somit die Meritokratie die beste Antwort auf die Ungleichheit und also auch Demokratie lediglich als kompetitive Auslese der Besten (Elitendemokratie) realistisch möglich? Die Akademiker-Parlamente in den USA und Deutschland scheinen das zu bestätigen; die soziale Mobilität ist auch hier, im sogenannten Herzen der Demokratie, zurückgegangen.

Die Alternative zur Chancengleichheit ist nicht die Gleichheit der Ergebnisse. Sandel argumentiert für eine „breite Gleichheit der Voraussetzungen“, die allen ermöglicht, „ihre Fähigkeiten in einer Tätigkeit zu entwickeln und auszuüben, die soziale Wertschätzung erhält.

Es sollte ihnen möglich sein, an einer weit verbreiteten Kultur des Lernens teilzuhaben und gemeinsam mit ihren Mitbürgern über relevante Themen von öffentlichem Interesse nachzudenken.“(357). Dafür muss es Orte, Gelegenheiten und Mitbestimmungsmöglichkeiten geben. Die Gleichheit der Voraussetzungen breit zu schaffen, ist selber Aufgabe einer lernfähigen Demokratie und ihrer Demokratiepolitik, die Technokratie und Populismus, welche sich wechselseitig stärken, zu verhindern versucht.

Februar 2021

Bild von clareich auf Pixabay