Perspektiven und Wunder

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Zum letzten Blog zur Zeit des Krieges (12. Oktober) schrieb eine Leserin, dass sie nun endlich – nach 30 Blogs zum Thema – gerne so etwas wie eine „Perspektive“ oder ein „Wunder“ hätte. Von neuen Phasen und Wendungen des Krieges war seit dem 24. Februar schon mehrfach die Rede. 

Hat er Mitte Oktober eine neue Perspektive, etwa in Richtung einer diplomatischen Verhandlungslösung? Was heißt es, den Frieden zu gewinnen und nicht mehr den Krieg? Gibt es den gerechten Frieden als Handlungs- Perspektive überhaupt noch? Oder stecken wir noch immer mittendrin im „Krieg denken“ (Aron über Clausewitz, 1980)? Xi Jinping droht am Parteitag der chinesischen KP in Peking, der größten Organisation der Welt, erneut Taiwan und den USA mit einem Militäreinsatz (16.10.). Er will als neuer absoluter Herrscher eine Armee von Weltrang schaffen mit Flugzeugträgern. Taiwan wiederum lernt von der Ukraine. 

Russlands Kriegsziele bleiben dagegen weiterhin im Dunkeln. Putin „will die Ukraine nicht zerstören“ und er zerstört sie doch. Die Entschiedenheit, den Krieg weiterzuführen bis zum Sieg, wird auf beiden Seiten deutlich artikuliert. Die Ukraine will die besetzten Gebiete zurückerobern, Russland mobilisiert nach der Annexion neue Rekruten, die in die Schlacht geführt werden. Eine russische Mutter sagte, es sei, als ob Russland „seinen Feind mit Leichen bewerfe“(SZ, 17.10.). 

Seine größte Chance ist das Durchhalten bei großer Selbstzerstörung. Die USA wiederum erhöhen noch einmal ihre Militärhilfen, seit Kriegsbeginn sind es inzwischen 18 Milliarden Dollar. Ukrainische Soldaten werden zusätzlich auf neuen Waffen in Deutschland und Frankreich ausgebildet. Ein Kompromiss ist nicht nur nicht in Sicht, er scheint sogar unmöglich – ein Wort, das wir nur noch selten verwenden, aber zurzeit scheint es angemessen. In der Ostukraine vor allem um Bachmut sind weiterhin heftige Kämpfe im Gange. Selbst die Lage rund um das AKW Saporischschja bleibt trotz internationaler Vermittlung bedrohlich. 

Auch eine ‚Zeit des Krieges‘ und der ‚Krisen‘ ist jedoch unsere Zeit, wenngleich es bessere und schönere Zeiten geben kann. Das ist nicht nur existenziell gemeint, mithin für jeden Einzelnen in seinem konkreten Leben bestimmt. Nicht nur die Philosophie des Existenzialismus, bei der die Existenz der Essenz vorausgeht (Kierkegaard), ist eine Philosophie des Einzelnen, auch die Gedanken eines politischen Theoretikers richten sich an die politische Verantwortung zumindest vieler Einzelner. Es handelt sich hierbei um eine geteilte Verantwortung, worin die nicht einfache, oft zermürbende moralisch-politische Kunst und Kraft des notwendigen Zusammen–Handelns besteht. 

Wenn wir von der Politik im Kollektivsingular sprechen, legen wir heute den Fokus auf Krisenfestigkeit und Zukunftsfähigkeit eines Landes. Demokratie, gewählte Regierungen und funktionsfähiger Staat spielen dabei eine besondere Rolle. Reflexive Politik- und Staatsfähigkeit sind gefragt. Die demokratischen Parteien als geballte Kraft müssen in dieser Konstellation koalitions- und regierungsfähig sein, was zur Stabilisierung von Demokratien in Krisenphasen beiträgt. 

Philosophie des Handelns 

Der Glauben, Lösungen zu finden wie der dazugehörende Glauben in die eigene Handlungskraft, motivieren und tragen das politische Engagement. Das ist mehr als Existenzialismus, ohne diesen abzuwerten, indem es über die monologische Existenz hinausführt. Trotzdem wollen wir ihn hier an erster Stelle erwähnen als eine Philosophie der Freiheit, die nach der menschlichen Katastrophe des zweiten Weltkriegs das ‚Engagement‘ als philosophischen Terminus eingeführt hat (Sartre). Wir sind zur Freiheit ‚verdammt‘, jetzt in unserer begrenzten Lebenszeit (im Unterschied zur Weltzeit der Geschichtsphilosophie), unter nicht selbst gewählten Bedingungen, immer wieder etwas Sinnvolles entgegen allen Absurditäten (Camus) zu machen. 

Inzwischen hat sich das Engagement als beliebter und unumstrittener Wert von diesem existenzialistischen Kontext gelöst und ist im Deutschen breitenwirksam geworden. Bürgerschaftliches Engagement ist immer gut, auch politisches, es sei denn, es radikalisiert und ideologisiert sich. Die Parteiendemokratie ist auf politisch Engagierte im starken Sinne angewiesen, aus denen gute Politiker/innen hervorgehen. Sie können und müssen sich heute auch auf gänzlich veränderte Realitäten einstellen können. 

Aus „Nie wieder Krieg“ als hauptsächlicher deutscher Erinnerungskultur sieht man sich heute mit einem großen Krieg konfrontiert, in den auch Deutschland involviert ist, und die Energiekrise zwingt zudem dazu, den singulären historischen Atomausstieg zu überdenken. Das waren bisher zwei Prämissen der Grünen Partei, die handlungsoptimistisch, in eine sozialdemokratische Fortschrittsregierung unter Kanzler Scholz, der viel liberaler Fortschrittsoptimismus beigemischt wurde, eingetreten ist, um eine Klimaregierung zu bilden. Vor einem Jahr noch waren Waffenlieferungen in Krisengebiete undenkbar, heute ist nur noch der Kohleausstieg umstritten (Parteitag der Grünen 12.-14. Oktober in Bonn). 

Obwohl sich die Prioritäten und Perspektiven damit grundlegend verändert haben, macht der Klimawandel keine Pause, und die moderne urbane Zivilisation, deren Blackout befürchtet wird, läuft weiter „energetisch verfettet“ (Lesch) wie bisher – ohne merkliche Korrekturen. Der Krieg sorgt zusätzlich für Krisen und Katastrophen. Er bannt unsere Aufmerksamkeit und verengt das Denken unter Handlungsdruck, der ebenso zu knallharten wie riskanten Entweder-oder-Entscheidungen führt. 

Perspektiven hingegen öffnen das Handlungsfeld, das nicht auf ein militärisches Gefechtsfeld eingeengt ist. Sie bleiben aber unter Zeitdruck und forcieren gleichzeitig die gebündelte Handlungskraft stark und notwendigerweise. Politik ist auf Perspektiven angewiesen, die in modernen Zeiten verzeitlicht und befristet sind: kurz-, mittel- und langfristig. Entsprechend hat das Dringliche und Prioritäre Vorrang und führt strukturell zu überforderten Betrieben. Die Gegenwartspräferenz überwiegt. 

Wenn Anschlusszwänge im System herrschen, wird es schwer vorstellbar, die Macht des Faktischen noch durchbrechen zu können. Die Vietnamesen, Afghanen und Ukrainer konnten und können es selbst gegenüber Großmächten im Krieg. Auch politische Perspektiven in weiter Ferne, zum Beispiel ein EU-Beitritt, können indes motivierend wirken, solange sie glaubwürdig und aussichtsreich bleiben. 

Auch Wunder sind diesseitige Möglichkeiten, die nichts Übersinnliches an sich haben, obwohl sie quasi aus der dominierenden Geschichtszeit flexibler Anpassung herausfallen und entgegen allen Prognosen und Erwartungen eintreten. Das Handeln aus Freiheit kann Unwahrscheinliches zustandebringen. Das deutsche Wirtschaftswunder schreibt man heute ohne Anführungszeichen. Aber auch ausgerechnet in der Politik soll man mit „Wundern rechnen“, sagt Hannah Arendt (Was ist Politik?) überraschenderweise. 

Sie spricht elementare „politische Erfahrungen“ aus, die in der abendländischen Tradition politischer Philosophie nur selten ernst genommen und begrifflich geklärt worden sind. Mitten in ihrem philosophischen Hauptwerk „Vita activa oder Vom tätigen Leben“ (1958/1981) ist zu lesen, “ dass es in dieser Welt eine durchaus diesseitige Fähigkeit gibt, ‚Wunder‘ zu vollbringen, und dass diese wunderwirkende Fähigkeit nichts anderes ist als das Handeln, dies hat Jesus von Nazareth (dessen Einsicht in das Wesen des Handelns so unvergleichlich tief und ursprünglich war wie sonst nur noch Sokrates‘ Einsichten in die Möglichkeiten des Denkens) nicht nur gewusst, sondern ausgesprochen, wenn er die Kraft zu verzeihen mit der Machtbefugnis dessen verglich, der Wunder vollbringt, wobei er beides auf die gleiche Stufe stellte und als Möglichkeiten verstand, die dem Menschen als einem diesseitigen Wesen zukommen“ (S.243).

„Das Wunder, das den Lauf der Welt und den Gang menschlicher Dinge immer wieder unterbricht und von dem Verderben rettet, das als Keim in ihm sitzt und als ‚Gesetz‘ seine Bewegung bestimmt, ist schließlich die Tatsache der Natalität, (…). A.a.O.

„Das ‚Wunder‘ besteht darin, dass überhaupt Menschen geboren werden, und mit ihnen der Neuanfang, den sie handelnd verwirklichen können kraft ihres Geborenseins.“ A.a.O.

Von „Wundern in der Ukraine“ statt von „Wunderwaffen“, von denen deutsche Politiker schwafeln, die weder Krieg noch Pazifismus können, ist ebenfalls zurecht die Rede (FAZ, 17.10.,S.1).