Nüchterne Wechselstimmung

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Am 26. September wird die Bundesregierung wechseln, soviel steht fest. Nach dem Abgang von Kanzlerin Merkel nach 16 Jahren, was heutzutage eine rekordverdächtig lange Regierungszeit in Europa ist, wird eine der beiden großen Koalitionsparteien – SPD oder CDU/CSU -, die staatstragend gewesen sind, auf Bundesebene nicht mehr weiterregieren und sich in der Opposition neu erfinden müssen. 

Nach einer Umfrage des Allensbacher Instituts Mitte Mai geht weit mehr als die Hälfte der Bevölkerung davon aus, dass die Menschen eine andere Politik wollen. Das mag auch dem Unmut über die bisherige Pandemiebekämpfung geschuldet sein und weniger klaren politischen Vorstellungen entspringen. Mit Abstand am meisten wünschen ‚AfD‘-Anhänger einen Regierungswechsel (89%); 77% der grünen Anhänger stimmen einem Regierungswechsel zu sowie 74% FDP und 74% Linke. 

Das sind Zahlen, die für sich sprechen. Sie belegen eine Wechselstimmung, denn sowohl die Grünen wie die FDP und die Linken wollen regieren. Ihre Grundsatz- wie Wahlprogramme sind entsprechend ausgerichtet, sie sind ambitioniert, ausführlich und detailliert. Die jeweiligen Schlüsselbegriffe, die deutlich unterscheidbar sind, fehlen nicht. Man kann vorab wissen, was die Parteien präferieren und was sie in jedem Fall in die Waagschale von Koalitionsverhandlungen einbringen werden. Entsprechend kalkulieren viele Wähler schon jetzt, wer mit wem wohl in die nächste Regierung gehen wird. 

Aufschlussreich an den Zahlen von Allensbach sind vor allem die Einschätzungen der SPD- und Unions-Anhänger: 67% der SPD-Anhänger stimmen einem offenbar einem Wechsel weg von der ungeliebten großen Koalition zu. Ob sie ein Linksbündnis oder eine Ampelkoalition bevorzugen, geht aus den Zahlen nicht hervor. Hingegen stimmen lediglich 28% der Unionsanhänger einem Regierungswechsel zu, so dass ihr Kanzlerkandidat den Aspekt der Kontinuität zur bisherigen Regierungsarbeit (Merkel ist noch immer die Politikerin mit dem größten Zuspruch!) auf jeden Fall berücksichtigen muss, auch wenn für ihn explizit eine „neue Zeit“ beginnt und es ein „Weiter so “ nicht geben soll. Diese Redeweise blieb bisher flach, man vermisst noch eine attraktive kohärente Argumentation, die sich von Merkel absetzt, bei allen Kontinuitäten, die bleiben. 

Von ihrer Überzeugungskraft wird viel abhängen, denn schon jetzt zeichnet sich ab, dass eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung eine von der CDU/CSU geführte Bundesregierung gegenüber einer von den Grünen geführten bevorzugt, und das unabhängig von den Resultaten für Laschet oder Baerbock als Kanzlerkandidaten (so nach dem ZDF-Politikbarometer vom 21. Mai). Darin spiegelt sich ein Vorrang des Bekannten vor dem Unbekannten und ein Votum für Sicherheit und Stabilität., was die Bundesrepublik bei allen großen gesellschaftlichen und politischen Veränderungen der letzten Jahrzehnte ausgezeichnet hat: „Dabeisein und Dagegensein“ (Luhmann), auf vergleichbar hohem Niveau. 

Der Umstand, dass die Große Koalition bei allen Handlungsbedarfen, die derzeit (und eigentlich immer) bestehen, nicht nur (mit Heil u.a.) erfolglos regiert hat, zwingt Olaf Scholz genauso wie Armin Laschet zu einer zwar leichter angreifbaren, aber sachlich triftigen Argumentation, auf die Grüne, FDP und Linke (sowie die ‚AfD‘ ohnehin mit rechtem Hass: „Merkel muss weg!“) nicht Rücksicht nehmen müssen. Dies betrifft insbesondere auch die Europapolitik mit ihren Folgen für Deutschland. Die EU-kritische AfD darf als politischer Faktor, vor allem auch in den neuen Bundesländern, weder gegenwärtig noch zukünftig unterschätzt werden. Ihr Potential als stärker konservativ-bürgerliche Partei ist noch nicht ausgeschöpft. Da aber keine der demokratischen Parteien derzeit mit ihr regieren will, obwohl es in Nachbarschaften punktuelle Kooperationen gab und gibt, nehmen wir sie bei der folgenden Koalitions-Analyse heraus. 

Die Wechselstimmung ist belegt und spürbar, gleichwohl kann von einer euphorischen Wechselstimmung nicht gesprochen werden, selbst bei den Linken nicht, außer bei den Grünen mit Aussicht auf das Kanzleramt, insbesondere bei der ‚Grünen Jugend‘ und den Aktivisten der Generation ‚Fridays for Future‘, ‚Ende Gelände‘ und ‚Seebrücke‘, welche die Partei und die künftige große Fraktion im Bundestag gehörig unter Erfolgsdruck setzen werden. Die Grünen selber setzen die Hürden hoch und sprechen geradezu von einer „neuen Epoche“ (Baerbock), die sie beginnen werden, was sich in Beziehung setzen lässt zum Pariser Klimaabkommen 2005 und zuvor der epochalen Rio-Konferenz von 1992, die den Weg für eine langwierige neue und internationale Nachhaltigkeitsrevolution eröffnete und bei der schon von Klimabündnissen in der Lokalen Agenda die Rede war. Grün wirkt schon länger und tiefer, die Staaten allein werden die nötigen Veränderungen nicht schaffen. Bei der Klimafrage als Menschheitsaufgabe ist man sich inzwischen unumstößlich sicher, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. 

Annalena Baerbock ist Berufspolitikerin (und sozusagen ‚Berufsgrüne‘) sowie ehemalige Leistungssportlerin, sie strebt den ersten Platz an und beflügelt so noch einmal die großen Ambitionen, die den Parteienwettbewerb in Deutschland beleben und den Hegemonieanspruch der ‚Partei für Deutschland‘, der CDU/CSU, gefährden. Die Kanzlerpartei sowie deren Landesverbände und die Bundestagsfraktion, die um ihre Mandate bangt, werden langsam nervös.

Aber auch die Grünen werden, selbst mit einem guten Resultat über 20%, mit einer Koalition regieren müssen, was schnell zu einem weniger euphorischen Realismus führt und in der Folge zu Enttäuschungen von Erwartungen, gerade, wenn der parteipolitische Zenit erreicht worden ist. Allerdings betreffen die ökologischen Fragen unsere Lebensgrundlagen und nicht bloß den jeweiligen Lebensstil. Ökologie bleibt somit ein Grundwert, nicht nur für die Grünen. Vielleicht besteht der Epochenbruch in der Moderne darin, dies erkannt zu haben. 

Von einer Wechselstimmung ähnlich wie Ende der 60er Jahre mit Willy Brandt hin zu einer sozialliberalen Koalition lässt sich meines Erachtens nicht reden, von einem Machtwechsel schon, wenn es zu einer grünen Kanzlerschaft kommen würde. EInen Politikwechsel wird es in jedem Fall geben und damit auch eine Richtungsentscheidung für die neuen 20er Jahre. Der grünen Kanzlerkandidatin wird vorgeworfen, dass sie noch nie regiert habe im Unterschied zu den erfahrenen Politikern Laschet und Scholz. Manche Analytiker (so Leggewie und Cohn-Bendit) haben das als einen Vorteil für die Kanzlerkandidatur von Robert Habeck gewertet. 

Baerbock versucht derweil diesen Nachteil in einen Vorteil umzumünzen: sie stehe eben für Veränderung und nicht für den Status quo. Nicht erst seit Niklas Luhmanns funktionaler Systemtheorie der Gesellschaft wissen wir indessen, dass Status quo ein komplexes Argument ist, zumal die breite Bevölkerung in einer unsicher gewordenen Welt tagtäglich genug Veränderungen erleben muss, die ihre Kräfte absorbiert. Wandel und Sicherheit ist deshalb das große Thema der Zeit, wenngleich ähnlich wie Ende 60er/anfangs 70er Jahre von einem neuerlichen Generationsaufbruch (‚Schulstreik für das Klima‘) gesprochen werden kann, von dem die Erfolgswelle der Grünen mitgetragen wird. Die jüngeren Wähler wünschen sich eine Regierung unter ihrer Führung, die Älteren, die die Mehrheit stellen, tendieren eher zur Union. 

Die grüne Kanzlerkandidatur fällt nicht vom Himmel, sie baut sich von den Kommunen und Ländern her auf, wo die Grünen noch immer fast überall auf der Erfolgsspur sind (etwa auch in Mecklenburg-Vorpommern) und sehr wohl über langjährige schwierige und vielfältige Basis- und Regierungserfahrungen verfügen und somit auch über entsprechendes Personal, das selbstverständlich Minister- und Staatssekretärposten auf Bundesebene wahrnehmen kann. Das ist ihr kleinstes Problem. Dazu kommt möglicherweise eine kluge Personalpolitik der Kanzlerin, die für die notwendige administrative Basis in Berlin sorgen wird. Ein künftiger Kanzleramtsminister wie ehedem Ehmke oder Steinmeier, der die Arbeit zwischen den Ministerien und dem inzwischen nicht nur baulich groß gewordenen Kanzleramt koordiniert, ist dafür die Voraussetzung. 

Bleiben wir aber bei der Wechselstimmung von heute, die komplexer ist. Sie ist zweifellos vorhanden, wird aber bei den Wählern im Allgemeinen durchaus realistisch und nüchern betrachtet. Man könnte auch sagen: aufgeklärter, denn man weiß, dass heute in schwierigen und fragilen Koalitionen regiert werden muss. Man hat es gerade wieder vor Augen geführt bekommen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz und wird es am 6. Juni bei den Wahlen in Sachsen-Anhalt erneut erleben, nach dem überaus schwierigen Balanceakt der Kenia-Koalition unter Führung der CDU von Reiner Haseloff in den letzten Jahren. 

Die Feststellung: „Wechselstimmung im Jahr 2021 ist etwas anderes als früher“ (Tagesspiegel, 18.Mai 2021, S.4), ist zutreffend. Ebenso gilt:“ Wer Wechsel tatsächlich will, muss Opposition wählen.“ Und:“ Was dann herauskommt, ist weniger sicher als einst.“ Die Bürger und Bürgerinnen sind deshalb aufgeklärter und realistischer, weil sie sich bereits jetzt darauf einstellen. Das heißt nicht, dass sie von der Politik nichts erwarten, im Gegenteil: sie erwarten viel von der Politik (vielleicht zu viel) und sie erwarten bessere Politik in ganz bestimmten Hinsichten. Darauf wird es ankommen. 

Das wäre im und durch den Wahlkampf (auch als Recherche) noch genauer herauszufinden, Zeit und Gelegenheiten dafür gibt es genug. Die Bürger und Bürgerinnen wissen, dass viel davon abhängt, wer mit wem in welchen Koalitionen regiert; sie erfahren bald auch, wovon das abhängt und treffen die entsprechenden Entscheidungen. Auf die genauen empirischen Auswertungen hinsichtlich Alter, Sozialstruktur, Politikfelder u.a. nach der Wahl darf man gespannt sein. 

Die Oppositionsparteien kommen derzeit auf mehr als die Hälfte der Stimmen, gleichzeitig ist die große Koalition von CDU und SPD abgewählt (mit 39%). Für Scholz wird es fast aussichtslos, mit dem derzeitigen Umfrageergebnis der SPD bei 15% noch Kanzler zu werden, zumal er als Zugpferd seiner Partei – nach dem Ausscheiden der populären Familienministerin Giffey – allein auf Bundesebene unterwegs ist. Ein starkes Team ist bisher nicht sichtbar geworden, ebenso wenig bei Laschet, wo die Personalie Friedrich Merz, eventuell als Wirtschaftsminister, weiterhin für Unruhe sorgt und Söder für die CSU ordentlich querschießt. 

Folgende Koalitionen sind möglich, wenn wir die große Koalition (auch Kenia) und Koalitionen mit der AfD ausschließen: 

Schwarz-Grün (danach sah es lange aus, vor dem Absturz der CDU 2021) 

Grün-Schwarz (gibt es in Baden- Württemberg, ist weiterhin möglich, mit Laschet, ohne Söder?) 

Schwarz-Gelb (gibt es in NRW, ist möglich und von beiden Parteien erwünscht, wird aber rechnerisch auf Bundesebene kaum zustande kommen) 

Linksbündnis/Rot-Grün-Rot (gibt es in Thüringen) 

Jamaika /Schwarz-Grün-Gelb oder Grün-Schwarz-Gelb 

Ampel/Rot-Grün-Gelb (gibt es in Rheinland-Pfalz) 


Während ein Rechtsbündnis ‚ Rechts von der Mitte‘ im gegenwärtigen deutschen Parteiensystem ausscheidet, ist ein Linksbündnis sowohl inhaltlich als auch rechnerisch durchaus möglich, sofern die SPD deutlich über 20% kommt. Habeck und Baerbock haben bisher signalisiert, dass sie für ein solches Bündnis prinzipiell offen sind trotz Vorbehalten gegenüber der Linkspartei. Der neualte Realist Joschka Fischer, der die Grünen in Hessen 1985 zum ersten Mal auf Landesebene und 1998 auf Bundesebene an die Regierung brachte, hält dagegen ‚Die Linke‘ für „nicht regierungsfähig“, wohl nicht nur aus außenpolitischen Gründen. 

Die Parteiführung der SPD (Esken/Walter-Borjans und Kevin Kühnert) sieht das Linksbündnis als gesellschaftliche Mehrheit und als politisch gewünschte linke oder progressive Mehrheit, was nicht ganz dasselbe ist. Für die Linken in allen drei Parteien ist das Linksbündnis fraglos die theoretische Wunschkoalition (siehe Kipping, Neue linke Mehrheiten, Hamburg 2020). Scholz hat in seiner großen Rede am 9. Mai allerdings nicht ein einziges Mal von einer linken oder progressiven Mehrheit gesprochen, die er strategisch anstrebt. Nur so könnte er noch einmal in die Offensive kommen, die er persönlich riskieren muss. Die Kondition, die Kompetenz und die Nerven dafür hat der Marathon-Mann, allein, es fehlt das Charisma. Dies gilt indes für die Sozialdemokratie insgesamt, die nicht die Wechselstimmung des neuen Zeitgeistes verkörpert. 

Mit den Grünen gibt es inzwischen breite inhaltliche Überschneidungen, nicht nur in der Sozialpolitik. SPD und Grün geht gut zusammen trotz Differenzen in der Klimapolitik, weniger über die Ziele als über die Wege und Mittel dahin. Dann sind wir aber schon am Ende unseres Koalitions- Lateins. Denn was geht noch darüber hinaus? An dieser Stelle werden weitere, schwierig abzuschätzende Faktoren neben den schließlich ausschlaggebenden konkreten Zahlen am 26. September, die sehr knapp werden können, wichtig. Vor allem wenn in einer Dreierkoalition regiert werden muss. 

Laschet und die CDU/ CSU kommen auf andere Weise in die Offensive, die spätestens nach dem Parteitag im Juni Fahrt aufnehmen wird. Dann hat man endlich ein Parteiprogramm, und Laschet wird inthronisiert. Ob es ihm allerdings gelingen wird, wieder aufzuholen, ist ebenso eine spannende offene Frage des bevorstehenden Wahlkampfs im Sommer wie in Bezug auf den sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten Scholz. 

Dass Baerbock ein gutes Resultat für die Grünen erzielen wird, gilt im Moment als sicher, nicht jedoch, dass sie auch Kanzlerin werden wird. Wenn nicht, so wird eine Jamaika-Koalition wahrscheinlich, vorausgesetzt die FDP wird gut zweistellig und Laschet erweist sich als starker Vermittler zwischen grün und gelb, ganz anders als seinerzeit Angela Merkel im September 2017. 

Viel hängt in den nächsten Monaten tatsächlich davon ab, wie stark der notorisch unterschätzte Laschet als Integrator wird: in der eigenen Partei, in der Union, zwischen den Parteien, für Deutschland und Europa, für das er Frankreich-Beauftragter ist. Das ist fürwahr ein riesiges Pensum. Laschet, der wenigstens noch vom christlichen Menschenbild spricht, will ausdrücklich einen fairen Wahlkampf führen, findet das grüne Spitzenpersonal sympathisch und verteidigt den Bundestagskandidaten der thüringischen CDU Maaßen öffentlich gegen Antisemitismus-Vorwürfe. Er ist kein Mann der starken Sprüche. 

Gleichzeitig erfolgt die Attacke aus dem Adenauer-Haus gegen den Hauptkonkurrenten um das Kanzleramt mit der polemischen Unterstellung, die Grünen würden, wenn sie könnten, Deutschland mit einem Linksbündnis in eine andere grüne und linke Republik führen, die ein „Staat ist, der bevormundet“ (Ziemiak). So lautet die entscheidende fundamentale Konfrontationslinie im kommenden Wahlkampf, mit der die Kanzlerpartei punkten will und wird. 

Wir wissen noch nicht, wie sich der Unmut über das Pandemie – und Impfmanagement auf die Wahlen auswirken wird. Es schadet offenbar auch Laschet in NRW deutlich und selbst Söder in Bayern, der sich gerne als Möchtegern-Kanzler sieht, der „Krise kann“. Deren Bäume wachsen ebenso wenig in den Himmel wie bei den Grünen, die im Aufwind sind. FDP und AfD scheinen von ihrer prinzipiellen Regierungskritik zu profitieren, aber nicht übermäßig. All das dämpft die Wechselstimmung.

Bildnachweis: Photo by CardMapr.nl on Unsplash / Collage mit Screenshot Twitter