Normalität in der Krise – Krise als neue Normalität?

  1. Home
  2. /
  3. Blog
  4. /
  5. Normalität in der Krise – Krise als neue...

Den neuen Ausnahmezustand bewirkte das Coronavirus: In Analogie zum „schwarzen Freitag“ (1929) sprach man vom „schwarzen Montag“. Das ist der 9.März 2020, womit niemand gerechnet hatte.

Eine Pandemie lässt sich allerdings nur schwerlich mit dem „Ausnahmezustand“ des berühmt- berüchtigten Staatsrechtlers Carl Schmitt („Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“, Politische Theologie 1921) vergleichen, denn sie ist nur indirekt politisch. Normalität entsteht hier durch Testing und Tracking von Daten sowie täglicher Statistik.

Politisch ist eigentlich nur die Nutzung der Pandemie zu Propagandazwecken. Trump spricht vom “ chinesischen Virus“, und China zeigte auf allen Kanälen, wie es Hilfsmittel in sämtliche Länder, auch nach Europa, verschickt. Serbiens Präsident Vucic wendet sich von Europa ab: „Nur China kann uns helfen“ (2.April).

Experten und Statistiken bestimmen, wann wir in Richtung Seminormalität gehen.

Am 7. April nennt Kanzlerin Merkel noch kein Datum für Lockerungen. Auf einen zu frühen Exit folgen gigantische Schäden, auf einen zu späten auch. Die Politik hat Angst vor Fehlentscheidungen.

Überall wird der Notstand ausgerufen, eine Pressekonferenz jagt die andere: „Wir werden das Virus besiegen“. Ein umsichtiges Verhalten von jedem Einzelnen wird gefordert: a) um die Krankheit nicht weiter zu verbreiten, vor allem gegenüber Älteren und b) um das Gesundheitssystem nicht zu überlasten. Es soll Zeit gewonnen werden, um die Krankenhäuser auf die Pandemie vorzubereiten.

„Bleib gesund“ heißt fortan der neue Gruß, er hält sich noch immer. „Abstand halten“ (social distancing), selbst zuhause, ist das Verb dieser Tage.

„Deutschland macht dicht“: Es ist die Regierungspolitik, mit dem Staat, die solche drastischen Maßnahmen ergreift. Nicht alles ist juristisch überprüfbar. Das Robert-Koch- Institut warnt währenddessen vor der hohen Risikogefahr. Kliniken kommen an ihre Grenzen, weshalb die Intensivkapazitäten verdoppelt werden. Diese Situation wird sich weiter verschärfen. Der Staat übernimmt Kurzarbeitergeld, Notkredite und Kauffonds, er ist der große Held.

Die Helden im Hintergrund sind die Pfleger/innen, Verkäuferinnen, Kassiererinnen, Busfahrer u.v.a.m. Sie werden nun explizit als „systemrelevant“ eingestuft und beklatscht. Während der Coronakrise steigt die appellative Solidarität wieder zu einem der höchsten Güter auf, nicht nur rhetorisch wie meist in Krisen.

Mit der faktischen Ausgangssperre ab dem 20. März betritt die Regierung rechtliches Neuland. Es drohen Sanktionen, die Versammlungsfreiheit wird aufgehoben, schon mehr als 4 Personen gelten als Versammlung! Die Demokratie ist nicht mehr systemrelevant.

Eine erste notwendige Differenzierung, um die es hier geht, ist die zwischen Ausnahmezustand und Krise. Von Krisen, inzwischen auch von Mehrfachkrise (etwa in der EU: Eurokrise, Verfassungskrise, Migrationskrise), ja sogar von Krisensteigerung durch Klimawandel und Krieg sprechen wir laufend, so dass wir den Eindruck gewinnen, wir leben nur noch und allein in einer Krisenzeit. Ist also diese allgegenwärtige Krise die neue Normalität? Was gebietet dem Wahnsinn noch Einhalt?

Die verschiedenen Notstandsbegriffe, die im Umlauf sind, müssen geordnet werden: Klimanotstand, Notrecht, Notsituation, Ausnahmezustand, Staatsnotstand, kalter und heißer Bürgerkrieg, nationaler Gesundheitsnotstand, Energienotstand, Katastrophenfall, Naturkatastrophen u.a.

Was das Grundgesetz für die Bewältigung derart krisenhafter Situationen vorsieht, hat die Habilitationsschrift „Ausnahmeverfassungsrecht“ (Tübingen 2020) von Anna-Bettina Kaiser näher untersucht. Das Recht des Ausnahmezustands ist hier von Belang, während für Carl Schmitt dieser dann eintritt, „wenn erst die Situation geschaffen werden muss, in der Rechtssätze gelten können.“ Für ihn zählt nur die absolute Ausnahme als Ausnahme.

Kaiser zufolge gehört der Ausnahmezustand aber dem Rechtssystem an. Sie spricht deshalb von Inklusion. Im Unterschied zum vagen und multiplen Krisenbegriff muss der Begriff des Ausnahmezustandes begrifflich geschärft und verantwortungsvoll

verwendet werden. Die Inflationierung des Krisenbegriffs ist ohnehin nicht mehr aufzuhalten, da er geradezu zum Diskurs der Moderne gehört ebenso wie die mediale Ereignisinflation der heutigen globalen und vernetzten Welt.

Auch der italienische Philosoph Giorgio Agamben hat sich im Anschluss an Carl Schmitt ausführlich mit dem Ausnahmezustand beschäftigt (siehe das gleichnamige Buch,7.Auflage 2017). Für ihn ist der Ausnahmezustand gleichsam zum vorherrschenden Paradigma des Regierens in der Moderne geworden.

Der Ausnahmezustand hat wesentlich zur Transformation der demokratischen Regierungsform seit dem 1. Weltkrieg und im Kontext des „weltweiten Bürgerkrieges“ geführt. Die vorübergehende Abschaffung der Unterscheidung zwischen Legislative, Exekutive und Jurisdiktion ist seitdem zu einer gängigen Praxis des Regierens geworden. Die verfassungsmäßige Regierung muss so in Krisenzeiten den Normalzustand erst wiederherstellen.

In Krisen wie der Pandemie, die man sich so gar nicht vorstellen konnte, gibt es keine Blaupause des Regierens. Wenn auch keine Politik mit der Angst, so ist sie doch nicht demokratisch, nicht einmal parlamentarisch. Agamben geht in seiner Geschichte des Ausnahmezustandes viele Beispiele aus verschiedenen Ländern durch: „Das Paradigma des Ausnahmezustandes übte Druck aus, so dass das gesamte politisch-konzeptionelle Leben der westlichen Gesellschaften immer mehr eine neue Form anzunehmen begann., die sich vielleicht erst heute voll entfaltet“ (S.21). Das ist seine erste These.

Für Agamben kommen in der Moderne „politisch-militärischer Notzustand und ökonomische Krisen immer mehr zusammen“ (S.23). Seine zweite Hauptthese lautet deshalb, „dass die beispiellose Ausweitung des Sicherheitsparadigmas als normale Technik des Regierens“ zunehmend die Erklärung des Ausnahmezustands ersetzt“(S.22). Tatsächlich ist Sicherheit in ihren verschiedenen Dimensionen in Zeiten des hybriden Krieges zu einem beherrschenden Hauptthema der Politik geworden.

Demgegenüber plädiert die Juristin Kaiser für die Konstitutionalisierung des Ausnahmezustandes, was sich mit unserer politischen Theorie der verfassungsdemokratischen Bürgergesellschaft als komplexer Orientierungsfigur vereinbaren lässt (Kleger 2021, S.181ff). Auf Exklusion (statt Inklusion) zu setzen, würde nämlich bedeuten, „auf die steuernde Kraft der Verfassung gerade dann zu verzichten, wenn sie am dringendsten benötigt wird“ (S.123). Der Ausnahmezustand ist deswegen weitestgehend zu verrechtlichen, so lautet die konträre Position zu Schmitt und Agamben.

Für eine Philosophie des konkreten Lebens scheint allerdings die Ausnahme interessanter als der sogenannte Normalfall des bürgerlichen oder alltäglichen Lebens. Schmitt zitiert an dieser Stelle den dänischen Philosophen Sören Kierkegaard („Entweder-Oder“, München 1975), der den Begriff Existenz eingeführt hatte und der die Analyse extremer Phänomene im Gegenzug zu Hegels dialektischen Abstraktionen der Vermittlung empfohlen hatte. Die Romantisierung der Ausnahmesituation verführt sodann das extreme politische Denken von rechts und links zum außeralltäglichen Abenteuer, letztlich zum Terrorismus gegen jedwede Ordnung. Demokratischer Common sense sollte sich deshalb von charismatischer Legitimität nicht zu sehr beeindrucken lassen.

Für eine verfassungsdemokratische Bürgergesellschaft trotz ökonomischer und sozialer Ungleichheiten und ihre lernfähige Demokratie ist die Kritik von Hermann Heller von Belang. Er wirft Schmitts Dezisionismus ein „konstitutionelles Unverständnis für das normative Element der Staatsverfassung“ vor (Staatslehre 1934,1983, S.299). Die Arbeit an einer Verfassung und die Verfassungsinterpretation ist Normierung und nicht nur Entscheidung über die Art und Form der politischen Einheit. Die Verfassung navigiert uns durch die normativ unübersichtliche Welt.

Welches Recht gilt nun in der Not?

Die Corona-Notsituation ist kein Ausnahmezustand im politiktheoretischen und rechtswissenschaftlichen Sinne: “ Zwar sind unsere Grundrechte in einem unter der Geltung des Grundgesetzes nie gekannten Ausmaß eingeschränkt. Und über die Reichweite der Einschränkungen, denen wir unterworfen sind, haben größtenteils nicht unmittelbar die Parlamente in Bund und Ländern entschieden, sondern Landesregierungen im Verordnungswege. Weitreichende Kontaktbeschränkungen wurden anfangs per Ministerialerlass verhängt. Das alles spielte und spielt sich aber, jedenfalls dem Anspruch nach, in dem ganz normalen Rahmen ab, den die Verfassung für verordnungsrechtliche und für Grundrechtseinschränkungen auf gesetzlicher Grundlage vorsieht“, so die ehemalige Verfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff (FAZ, 27.Mai. S.9).

Am 18. März hält die Kanzlerin eine Ansprache unter dem Titel „Die Lage ist ernst“. Seit Ende des 2.Weltkrieges war die Lage nicht mehr so ernst. Der politische Ernstfall ist eingetreten, der ansonsten meist mit Ausnahmesituationen als drohendem Bürgerkrieg assoziiert wird.

Es kommt jetzt auf „gemeinsames solidarisches Handeln“ und auf „den Einzelnen“ an, das heißt auf alle. Die Kanzlerin bedankt sich für das disziplinierte Verhalten der Bevölkerung aus Einsicht und Umsicht. Davon darf und soll man sich beeindrucken lassen.

„Wir schaffen das“, heißt es wieder wie 2015. „Yes, we can“, immer in Bezug auf „nationale Kraftanstrengungen“, was man nicht übersehen sollte.

Die grundlegende gesellschaftliche Solidarität obsiegt über die sogenannte Spaltung und die politisch geschürte Polarisierung. Wir können an dieser Stelle folgende Normalitätsbegriffe festhalten:

– Normalität der Zuversicht trotz Krisen

– Normalität des Alltags trotz Anomalien

– Normalität der Legalität trotz Protesten und Widerständen

– Normalität als „Bestie“. Dazu kommen wir noch.

Auch Ende 2021/ Anfang 2022 heißt es wieder: „Wir schaffen das!“ trotz heftiger, teils übergriffiger delegitimierender Montagsdemonstrationen von Impfgegnern, Corona-Leugnern und Verschwörungstheoretikern, welche von den Rechten ausgenutzt werden. Ihr Widerstand richtet sich gegen die „Corona-Diktatur“ und die „Politiker als Volksverräter“.

Sie sind zwar besonders aggressiv und lautstark und dominieren die Medien, aber nicht die Mehrheit der ’normalen‘ Leute, die ihre Normalität zum Glück ebenfalls öffentlich ausdrücken: zum Beispiel „Brandenburg zeigt Haltung“ (2022). 

Die Haltung einer robusten zivilen Normalität ist für eine wehrfähige Demokratie entscheidend, auf allen Ebenen und an verschiedenen Orten. Das heterogene ‚Wir sind mehr!‘, das selbstbewusst und aktiv bleibt im ‚Aufstand der Anständigen‘, gegen Pegida und andere gewalttätige Bewegungen gehört inzwischen auch zu den Kontinuitäten, an die politische Theorie anknüpfen kann.

Am 14. Februar 2022 beginnt der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, was ganz Europa schlagartig verändert mit Folgen für eine neue militarisierte ‚Weltordnung‘. In militärische Verteidigung muss wieder investiert werden. Krieg und Hunger (ein Problem, das die Menschheit lösen kann) sind schlimmer als alle Krisen. Diese nehmen indessen noch einmal zu infolge des Krieges (Preisanstiege, Inflation und drohende Rezession) und steigern das allgegenwärtige und allgemeine Krisenbewusstsein noch einmal.

Der Wirtschafts- und insbesondere der Gaskrieg zieht auch die wohlstandsverwöhnten Länder in Mitleidenschaft. Wohlstandsverluste und damit Freiheitsverluste für viele drohen. Transnationale Solidarität wird absehbar teurer und schwieriger werden. Die rechten Strippenzieher drohen deswegen schon neue Proteste für den Herbst an. Die Corona-Krise wird dann ebenfalls noch nicht ausgestanden sein. Die Politik der Lockdowns soll jedoch aufhören, so die Ankündigung der Regierung.

Derweil versucht die neue Fortschrittsregierung als Krisenmanager alles, um soziale Verwerfungen aufgrund von Preissteigerungen und Inflation zu verhindern. Die Grünen sind staatstragend geworden, und der Staat ist geradezu in die Rolle eines ‚Wundertäters‘ (mit skeptischem Blick auf die Staatsschulden) gerückt mit seinen Entlastungs- und Rettungspaketen. Schon im 1.Kapitel des neuen Koalitionsvertrages 2021 nimmt er nicht zufällig eine tragende Rolle ein.

Normalität als Bestie

Die Aufklärung kommt einmal mehr an ihre Grenzen: „Wie kann es sein, dass wir fast alles über die Klimakrise wissen und trotzdem nur wenig dagegen unternehmen?“ (Engel/ Ulrich in: Die Zeit, 15.6. 2022, S.17).

Die Autoren beginnen ihre Argumentation mit dem Satz: „Nichts hat eine solche Macht über uns wie die Normalität.“ Dem können wir uns nur anschließen, umso wichtiger ist es daher, sie genauer und produktiver thematisieren zu können. Wir setzen sie meist wie selbstverständlich voraus. Man muss sie aber auch in Anspruch nehmen können.

„In den reichsten Ländern der Welt hat sich etwas als Alltag herausgebildet – keineswegs konfliktfrei und automatisch (Ergänzung H.K.) -, das nicht nur harmlos das eben ‚Übliche‘ des neokonservativen Skeptizismus (à la Marquard, H.K.) bezeichnet, sondern vielmehr einen Anspruch formuliert: auf einen für viele geradezu fantastischen Luxus an Konsum, an Sicherheit, aber auch an Mobilität…(usw.)“. Das ist geradezu die vollendete Einlösung von Thomas Hobbes Staatsversprechen des Leviathan, sozialdemokratisch modernisiert: Sicherheit und Komfort.

Diese Normalität, deren Garant letztlich der Staat ist, artikuliert „ein zutiefst widersprüchliches expandierendes Steigerungsprogramm und zugleich ein Stabilitätsversprechen“ (a.a.O.), womit der Nagel auf den Kopf getroffen wird. Es bietet Schutz gegenüber den falschen Versprechen der Extreme, die an dieser Normalität auch politisch scheitern. Sie repräsentiert den Common sense/Konsens des realen Fortschritts, der demokratisch ist.

Der Fortschritt, vor allem der wissenschaftlich-technische Fortschritt, ist ihre Orientierungsphilosophie auch gegenüber seinen negativen Folgen. Er weist ein großes soziales Befriedigungspotential auf, steht aber auf Kriegsfuß mit der Natur. Die Rede von seinen Nebenfolgen ist mittlerweile zu harmlos geworden.

Die Normalität ist nicht mehr in der Lage, einen Schutzraum vor den Extremen der Katastrophen zu bieten. Das ist diesen Sommer der Brände und Wasserknappheit wieder für alle augenscheinlich geworden. Es kann nicht mehr so weitergehen. Fünf Regionen in Italien haben deswegen den Ausnahmezustand ausgerufen. Zudem ist der Exterminismus der modernen Zivilisation wieder gegenwärtiger geworden, auch weil die Atomkriegsgefahr wiedergekehrt ist. Gravierender noch: „Die Normalität erzeugt aus sich heraus das Extreme, Ungeplante und Katastrophale.“ (a.a.O.).

Mit anderen Worten: Die Normalität ist die Krise! So die These.

Die zivile robuste Normalität, die selbst an einem veränderten Fortschritt der Gesellschaft arbeitet, muss aber auch ein Teil der Lösung bleiben. Ohne diese breit abgestützte Normalität wird man an der historisch ungewöhnlichen europäischen Solidarität beim Corona-Fonds, der Solidarität gegenüber der kämpfenden Ukraine sowie der Klimaneutralität nicht festhalten können. Sie darf nicht passiv und phantasielos bleiben, sondern muss sich weiterhin über hartnäckigen Meinungsstreit und seriöse demokratische Beschlüsse einmischen und stärken. Auch der zivile Ungehorsam der Letzten Generation muss aufpassen, dass er statt zu einer Kultivierung des demokratischen Streits nicht zu seiner Dekultivierung beiträgt. Wir alle tragen Verantwortung.

Bild von Valter Cirillo auf Pixabay