Neustart für Deutschland?

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Wahlkampf und Regierungsbildung sind zweierlei. Am 26. September ist gewählt worden nach einem programmatisch anspruchsvollen, langen und streckenweise intensiven Wahlkampf. Es gab ein hohes Maß an parteilich und staatlich organisierter Beteiligung in den verschiedensten Formaten. Die Stimmen sind abgegeben und gezählt, und die Parteien sind wieder am Zug, um eine neue Regierung zu bilden. Eine lange Strecke weiterer Spannung steht bevor, möglicherweise wird Angela Merkel noch Geschäftsführerin der Regierung bis Ende Jahr bleiben.

Die Bürger/innen hatten die Offenheit der Wahl unter Kandidaten von mehr als 40 Parteien, nun geht es um stabile Regierungsbündnisse unter Parteien, welche die 5% Hürde übersprungen haben. Die beiden erfolgreichsten Koalitionen – Ampel und Jamaika – erweisen sich als inhaltlich fast unmöglich wegen der verschiedenen Vorstellungen und Wünsche, die im Wahlkampf zum Ausdruck gekommen sind. Dieser Eindruck ist bei den Wählern noch frisch, ausgeschlossen ist aber unter demokratischen Parteien bekanntlich nichts, was wiederum zum populären Urteil führt, „die machen ohnehin, was ihnen passt“. 

Zwei Logiken treffen hier aufeinander: die Wahllogik und die Parteienlogik. Dazwischen tritt die Basis der Parteien: Parteitage und Mitgliederbefragungen. Sie vermitteln die Wahlversprechen, wofür die Parteien und ihre Spitzenpolitiker gekämpft haben, für die SPD zum Beispiel der Mindestlohn, für die FDP keine Steuererhöhungen. Außerdem ist mit der Aussicht auf mögliche Bündnisse, Wahlkampf gemacht worden, die Union war beispielsweise prononciert gegen ein Linksbündnis, welches für viele Linke einen „echten Politikwechsel“ bedeutet hätte, und rechnet sich dessen Verhinderung als Erfolg an.

Schon am Wahlabend beginnt die Interpretation der Resultate, die lange im Fluss blieben. Auf ein knappes Resultat war man vorbereitet. Obwohl die SPD ganz knapp vorne lag, preschte Generalsekretär Ziemiak als Erster vor und schlug eine neue Zukunftskoalition vor, die im Wahlkampf noch Jamaika-Koalition hieß. Dies war ein geschickter Schachzug und doch das letzte Zucken der hegemonialen CDU für Deutschland, zu der das Konzept ‚Zukunftskoalition‘ nicht mehr passt. Etwas später unterstrich Laschet noch einmal den Anspruch, auch als Zweitplatzierter, eine Regierung bilden und führen zu können, erforderlich ist dafür eine Mehrheit im Bundestag.

Olaf Scholz darf sich am meisten freuen. Scholz ging als Erster ins Rennen, der frühe Zeitpunkt überraschte, der Kandidat nicht. Oft wurde Scholz fehlendes Charisma vorgeworfen, nun ist er Sieger einer Wahl, bei der die SPD in der Schlussphase ganz und buchstäblich auf seinen Kopf gesetzt hat, zusammen mit einer guten Werbeagentur. Am späten Abend steht fest, dass die SPD die Wahl gewonnen hat, zwar knapp mit 25,7%, aber doch deutlich genug. Die CDU/CSU hat demgegenüber historische Verluste erlitten (24,1%), mehr als 8%. Sie ist die große Verliererin dieser Wahl. Man könnte die Wahlniederlage eingestehen, will aber doch als bürgerlicher Sieger gegen das Linksbündnis erscheinen.

Wahlsieger ist eindeutig Olaf Scholz. Er darf sich freuen, hat er doch sein Wahlziel, „deutlich über 20% zu kommen“, das er schon im August 2020 ausgegeben hat, erreicht. Niemand hat ihm dies zugetraut und allenthalben ist er als spröder Kandidat karikiert worden. Nach seinem frühen Start hat er eine lange Strecke hinter sich gebracht und die Partei mitgezogen, die nun auch die Partei von Olaf Scholz geworden ist. Dieses Momentum muss er nutzen. Auch in Potsdam, wo er als Direktkandidat antrat, hat er ein Spitzenresultat erzielt weit vor seiner grünen Konkurrentin Annalena Baerbock. Kompetenz und Sachlichkeit, Seriosität und Disziplin haben ihm ebenso geholfen wie die Schwäche seiner Konkurrenten, denen die große Mehrheit das Kanzleramt nicht zugetraut hat.

Laschet will auf den Regierungsauftrag nicht verzichten, er will für ein Jamaika-Bündnis verhandeln. Lindner hat sich im Wahlkampf eindeutig dafür ausgesprochen, und man darf annehmen, dass die FDP-Anhänger sich ebenfalls dafür aussprechen, während die Anhänger der Grünen wohl großmehrheitlich zur Ampel tendieren. Habeck hält sich auch für die Jamaika-Koalition aus strategischen Gründen offen. CDU/CSU umwerben währenddessen Grüne und FDP.

Laschet macht weiter und hält das Resultat beider Volksparteien für zu schlecht (unter 30%!), um daraus allein einen Regierungsanspruch ableiten zu können. Er relativiert die 1,5% Vorsprung der SPD (am 27.9.). Für Jamaika-Gespräche ist er bereit, während der unionsinterne Machtkampf offen im Gange ist. Inzwischen ist nur noch von Angebot und nicht mehr von Anspruch die Rede.

Scholz ist schon am 26.9. durch die Bundestagswahl faktisch zum Kanzler gewählt worden, obwohl mit einer historisch niedrigen Zahl an Zustimmung. Auch aus diesem Grund erwächst den regierungsbildenden Parteien eine besondere staatspolitische Verantwortung, welche die nachlassende Aura der Kanzlerdemokratie kompensieren muss. Umgekehrt kann nun Scholz auch gegenüber seiner eigenen Partei eine selbst erarbeitete Autorität geltend machen, die ihm hilft, inhaltlich für eine wirkliche Zukunftskoalition zu vermitteln, die solid ist. Es handelt sich um eine Gewinner- und keine Verliererkoalition, was schon einmal ein gelungener Auftakt ist.

Allein die prozeduralen Fragen für eine neue Dreierkoalition sind neu und interessant:

– zunächst geht es um die Deutungshoheit des Wahlresultats, sodann um die Frage,

– wie sondiert wird, und schließlich um die Frage,

– wie über den Koalitionsvertrag entschieden wird.

Bisher hat sich Scholz zurückgehalten und lediglich auf das SPD-Programm verwiesen. Dies wird sich als künftiger Kanzler schnell ändern, und er wird stärker aus sich herausgehen müssen, wenn er eine sozial-ökologisch-liberale Koalition mit Habeck und Lindner anführen will. Hier kommt der Führungsanspruch der SPD und ihres Kanzlers ins Spiel. Scholz wird letztlich die maßgeblichen Gespräche führen und als starker Vermittler und Entscheider auftreten müssen.

Königsmacher sind die kleinen Parteien: Grüne und FDP, wobei die Grünen deutlich mehr einbringen als die Liberalen, die aufpassen müssen, nicht zu überdehnen. Hinter den Grünen steht eine breite Aufbruchsbewegung in der aktiven Gesellschaft. Die Versöhnung zwischen Ökologie und Ökonomie ist vordringlich und gehört an die erste Stelle, aber nicht nur als schöne Formel, sondern sehr konkret in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen und unter zeitlichen Vorgaben, die feststehen.

Habeck und Lindner, die beide erfahren sind in Koalitionsverhandlungen, sollten nun, wie von beiden richtigerweise vorgeschlagen worden ist, zuerst miteinander verhandeln und wichtige Eckpunkte gemeinsam entwickeln. Sie sprechen von Vor-Sondierungen, die schon am ersten Tag nach der Wahl begonnen haben. Die Fehler der gescheiterten Jamaika-Verhandlungen von 2017 sollen nicht wiederholt werden, was den guten Willen zur persönlichen Verständigung ohne Indiskretionen diesmal verstärkt.

Danach geht es in weitere Runden, wo Wahlversprechen, die Olaf Scholz gegeben hat, wie der Mindestlohn und sichere Renten, hinzukommen. Die Schnittmengen zwischen Rot-Grün sind gerade in sozialpolitischer Hinsicht groß, wie dies von beiden Seiten schon vielfach geäußert worden ist. Viel schwieriger sind die Finanzierungsfragen, auf diesem Feld werden auch die Ambitionen von Lindner und Habeck aufeinandertreffen, die schon während des Wahlkampfs eine Rolle gespielt haben. Die Finanzlage des Bundes ist desolat.

Ordnungspolitik für soziale Medien, Digitalsteuer für Facebook und Co., soziales und nachhaltiges Bauen, Mietmoratorium, modernes Einwanderungsrecht, Bürgerrechte, Digitalisierung, Verbesserung des Planungsrechts, Bildungsförderung auch über den Bund, Midlife-Bafög, Aktienrente könnten weitere gemeinsame Vorhaben werden. Bei all diesen Verhandlungen geht es nicht um das kleinste gemeinsame Minimum, sondern um das gemeinsam Beste, was vertrauensvolle Kooperationen ohne Öffentlichkeit voraussetzt. 

Ein neuer grüner sozialliberaler Aufbruch ist möglich, der Kräfte freisetzt und zugleich die nötigen Aufgaben angeht. Scholz hat den großen industriepolitischen Umbau mit seiner sozialdemokratischen Fortschrittserzählung des Respekts und Zusammenhalts im Visier. Zentral dafür ist die klimaneutrale Stromversorgung der Industrie. Wenn die kreativen Kräfte bei den Grünen, den Liberalen und Sozialdemokraten aufeinander zugehen können, sind zahlreiche Innovationen möglich. Gegensätze lassen sich verbinden.

Bildnachweis: Die Fotocollage steht unter CC BY-SA 4.0, Fotos von Sandro Halank, Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=87139429; Michael Lucan, Lizenz: CC-BY-SA 3.0 de, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=109516469, Michael Brandtner