2020 ist Kamala Harris auf dem gemeinsamen Ticket mit Joe Biden von 81 Millionen Amerikanern gewählt worden. Der Vizepräsident oder in diesem Falle die erste schwarze Vizepräsidentin Amerikas mit einem jamaikanischen Vater und einer indischen Mutter muss jederzeit in der Lage sein, den Präsidenten zu ersetzen.
Wir erinnern uns daran, wie der texanische Lyndon B. Johnson noch auf dem Rückflug nach dem Attentat auf John F. Kennedy in Dallas im Flugzeug vereidigt worden ist. Der gewiefte Kongresspolitiker aus dem Süden hatte den Vietnamkrieg fortzuführen und ist daran fast zerbrochen.
Der wiederum sehr erfahrene Kongresspolitiker Biden aus Delaware, seinerseits Vizepräsident von Barack Obama, hat selbst in einer Wahlkampfrede in Las Vegas kürzlich geäußert, dass er sich Kamala Harris als Präsidentin der Vereinigten Staaten sehr wohl vorstellen könne. Damit hat er der Demokratische Partei für ihren Parteitag in Chicago vom 19. bis 22. August einen demokratischen Ausweg gewiesen.
Die 59-jährige Staatsanwältin und Senatorin aus Kalifornien hat inzwischen bundespolitische Erfahrungen und ist landesweit bekannt. Die Gouverneure Shapiro, Wittmer und Newsome, die von Insidern zuerst als Präsidentschaftskandidaten genannt werden, sind weniger bekannt.
Dabei blieb Harris weitgehend unscheinbar, da sie dem Präsidenten in der Rolle der Vizepräsidentin loyal zur Seite stehen muss. Das kann und darf kein Vorwurf sein. Das hat der Außenpolitiker Biden für Obama ebenso getan und hinter den Kulissen mehr bewegt, als man gemeinhin weiß.
Als einer der letzten wuchs auch in Obama in letzter Zeit die Überzeugung – „gealtert und desorientiert“ –, dass Biden, den er schätzt, die Kandidatur noch einmal überdenken und sich zurückziehen soll. Auch Harris verteidigte Biden bis zuletzt als „Kämpfer“ und beruhigte Großspender: „Wir werden gewinnen“ (20. Juli, ORF.at).
Beide sind alles andere als „Königsmörder“. Harris selbst ist als Juristin und schwarze Bürgerrechtlerin eine ‚toughe‘ Kämpferin, die in der Debatte sehr scharf werden kann. Selbst Biden hatte sie in einer innerparteilichen Auseinandersetzung einmal vorgeworfen, „ein Rassist“ zu sein. Als Vizepräsidentin hatte sie ihre Ambitionen und progressiven Ansichten jedoch stets zurückgehalten.
Der krankheitsbedingte Rückzug von Biden in die Corona-Quarantäne, weswegen er wichtige Wahlkampftermine absagen musste, bot ihm eine Chance, den Weg selbst für einen Neuanfang freizumachen, mit Anstand und Würde. Indessen: Bietet er zugleich die Chance für Harris, die erste weibliche Präsidentin Amerikas zu werden, nachdem der aussichtsreiche Anlauf von Hillary Clinton unter zum Teil dubiosen Umständen gescheitert ist?
Am Sonntagabend, dem 21. Juni, kündigt Präsident Biden auf X, ehemals Twitter, seinen Rückzug aus dem Rennen im Interesse der „Partei und des Landes“ an. Er unterstützt Kamala Harris und will sich am Mittwoch ausführlicher erklären. Am Samstag noch gab es kleine Demonstrationen von Demokraten „Pass the Torch“ in Washington und am Sonntag von Unterstützern für die Vizepräsidentin. Eine Mischung aus externem Druck, eigener Einsicht und einer Sicht auf die Umfragewerte gab schließlich den Ausschlag zur Beendigung eines persönlichen Dramas, das politisch noch nicht beendet ist.
Schon jetzt versuchen die Republikaner, Harris als „zu links“ zu brandmarken, als „DIE vice president“, wobei D für Diversity steht, I für Inclusion und E für Equity (Gleichheit, nicht Freiheit!). Mithin als eine blasse Präsidentin der Minderheiten und nicht die starke Präsidentin einer neuen nationalen Einheit.
Beim ersten gemeinsamen Wahlkampfauftritt von Trump und Vance in Grand Rapids im Bundesstaat Michigan nach der republikanischen Convention machen sie sich lustig über die (innerparteiliche) Demokratie der Demokraten (21.7.) Trump meint, Harris sei leichter zu schlagen als Biden (CNN, 21.7.). Da könnte er sich täuschen, wenn man an die TV-Duelle denkt.
Im Unterschied zum vermittelnden pragmatischen Biden war Harris eine linke Demokratin, das ist keine Frage. Kann sie die Nation so einen wie der versöhnlich ‚weich wirkende‘ Landesvater Biden, der es freilich auch nicht vermochte gegen die radikale Bewegung der Trumpisten, die durch seine ‚Schwäche‘ – „sleepy Joe‘ – ihre vermeintliche ‚Stärke‘ bezogen. Der Wahlkampf wird sich inhaltlich – weg von Gesundheits- und Altersproblemen! – sicherlich noch einmal beleben.
Große Themen, die noch kaum kontrovers beackert worden sind, wie die Wirtschaftspolitik, bei der Trump auf Zölle und Erdöl setzt, oder die Außenpolitik gibt es. Könnte sich der Wahlkampf bis zum bitteren Ende noch einmal radikalisieren, zumal sich Trump als „Märtyrer der Demokratie“, der “ für die Demokratie eine Kugel eingefangen hat“, gegen die Demokraten – was für eine Verkehrung! – inszeniert. Unterläuft er damit die eigene Autokratietendenz.
Auf entscheidende Themen wie Abortion, Einwanderung, Rassismus, Kriminalität und Sicherheit ist Harris bestens vorbereitet. Bei den Frauen, Afroamerikanern, Hispanics, den Liberalen und Linken könnte sie punkten. Sie steht genauso für den ‚amerikanischen Traum‘ wie Vance, wenngleich mit einem anderen Hintergrund, aus dem andere Narrative und Affekte für und gegen bestimmte sogenannte ‚Eliten‘ folgen.
Die Swing States Michigan, Wisconsin und Pennsylvania bleiben besonders heftig umstritten. Harris wie Vance können hier Stimmen sammeln für eine Wahl, die zweifellos knapp werden wird. Für die Wahlkampfstrategen eröffnen sich damit ebenso neue Chancen wie neue Risiken. Von Umfragen und Analysen werden wir jetzt täglich hören, auch sie werden untereinander konkurrieren und sich jagen.
Vieles, aber nicht alles lässt sich ausrechnen, wenn es um die entscheidenden Staaten geht. Dafür jedoch müssten die Democrats im August zunächst erstmal so geschlossen und kämpferisch als Partei auftreten wie die Republikaner im Juli als Trump-Partei. Das allein ist ein schwieriger und komplexer Prozess unter enormem Zeitdruck, zumal die Briefwahl früher beginnt.
Wenn die entscheidende Personalfrage geklärt ist, mit welchen Themen können dann die Demokraten noch punkten? Mit Job-Programmen, Kampf gegen die illegale Migration und dem Kampf für die Demokratie. Oft geht es um die kleinen Themen vor Ort und die vertrauensvollen Personen: Infrastrukturprojekte, Stipendienprogramme, Renovation von Schulgebäuden u.v.a., ja um ganze abgehängte und prosperierende Regionen.
Es geht am 5. November, dem letzten Wahltag, aber in erster Linie um den mächtigsten Mann/ Frau des mächtigsten Landes, die unter dem Stichwort ‚Führung‘ behandelt wird – verdrängt es alle anderen Themen? –, sowie die vielen Abgeordneten, Senatoren und Repräsentanten, über die mächtige Parteien und ihre Granden mitentscheiden.
Das sind die zwei Ebenen der modernen Parteipolitik, die darüber hinaus vom Geld als Schmiermittel und dem medialen Support immer stärker abhängig geworden ist.
Am 22. August wissen wir mehr.
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