Neoliberalismus und Disruption

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Wenn es um Liberalismus und aktuelle Liberalisierungsagenden geht, gehen die spitzen politisch-polemischen Begriffe aufeinander und durcheinander.

Die Wellen der Sprache schlagen hoch, sodass sie kaum noch zu bändigen sind.

Obwohl doch die wichtigsten öffentlichen Angelegenheiten buchstäblich für alle strittig sind sowie demokratisch entschieden und rechtlich durchgesetzt werden müssen:

Wirtschaftswachstum, Bürokratieabbau, Wettbewerbsfähigkeit, Arbeitsplätze.

Streit um Worte, den Aristoteles vermeiden wollte, ist zu wenig gesagt, geht es doch um grundsätzliche Sachen, die uns mindestens so verbinden, wenn sie gelingen, wie die viel beschworenen Werte!

Diese lebenswichtigen Themen für die meisten sind indes verwickelt und grundsätzlich zugleich. Der Streit, ja der Kampf, auch um Worte und Begriffe, ist deshalb unverzichtbar – Sein und Heißen sind ein wichtiges politisches Handlungsfeld, auch der politischen Theorie.

Es kommen dabei Begriffe ins Spiel, die aus unterschiedlichen Zeiten stammen. Sie gehören zu einer genealogischen Familie und überlagern sich in der politischen Auseinandersetzung.

Sie sind sowohl theoretische Konzepte als auch rhetorische Waffen.

Wir wollen uns im Folgenden auf

‚Neoliberalismus‘,

‚Marktradikalismus‘,

’schöpferische Zerstörung‘ und

‚Disruption‘ konzentrieren

und dabei zugleich die Blogs über die „Revolution von rechts“ weiterführen, präzisieren und aktualisieren.

1. Neoliberalismus

Ist der inhaltlich bedeutungsvollste Begriff, der zugleich ein polemischer Begriff geworden ist, vor allem in Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie und ihrem Wohlfahrtsstaat.

Wir müssen deshalb deutlich unterscheiden zwischen seiner ursprünglichen Bedeutung und der heutigen Konnotation, die im Gebrauch ist.

Herkunft: Das Konzept entsteht schon in den 30er Jahren und hat bedeutende geistige Väter wie

Walter Lippmann,

Alexander Rüstow,

Wilhelm Röpke und

Friedrich August von Hayek (1899–1992),

der auch enge Beziehungen zur Chicagoer Schule of Economics (Monetarismus vs. Keynesianismus, Milton Friedman u.a.) pflegte, und über seine wirtschaftswissenschaftlichen Beiträge hinaus (Nobelpreis 1974) ein bedeutender Sozialphilosoph und politischer Philosoph des Liberalismus war.

Siehe nur „Der Weg zur Knechtschaft“ (1944). In der Wirkung für die Philosophie des Liberalismus im 20. Jahrhundert ist dies nur vergleichbar mit der Wirkung von Karl Raimund Popper, der ebenfalls an der LSE lehrte. In der Wissens- und Erkenntnistheorie kommen sie zu überraschenden Übereinstimmungen. Der Liberalismus ist mehr eine Erkenntnis- als eine Heilslehre.

Er bietet kein utopisches Versprechen, sondern lediglich negative Tröstungen, Schlimmeres zu verhindern, durch dogmatische Antworten religiöser, nationaler oder identitärer Natur. Nach der totalitären Erfahrung wird diese Erkenntnis umso wichtiger. Freilich gibt es unterschiedliche Nuancen und Facetten des wirtschaftlichen und politischen Liberalismus.

Die ursprüngliche Bedeutung von Neoliberalismus besteht in nicht weniger als im Versuch, die große historische Krise des Laisser-faire-Liberalismus zu überwinden. Er soll „sozial“ in einen Markt „eingebettet“ werden, mit klaren staatlichen Rahmenbedingungen.

Die Staatsinterventionen werden fortan zum politischen Zankapfel. Sie stehen unter Sozialismus-Verdacht, wohlverstanden Sozialismus als System des politischen Gegners und Systemkonkurrenten.

Der neue Liberalismus ist ein Ordoliberalismus, kein libertärer Minimalstaat und keine Planwirtschaft.

In der öffentlichen Debatte seit den 80er Jahren, vor allem nach Thatcher und Reagan, ist Neoliberalismus sodann zum negativen Sammelbegriff für MARKTGLÄUBIGKEIT, Privatisierung, Deregulierung und Sozialabbau geworden.

Umgekehrt wurde die STAATSGLÄUBIGKEIT oder Dirigismus ebenso zum aggressiven Gegenbegriff, der sich gegen den keynesianischen Wohlfahrtsstaat richtet. Dahinter standen sowohl ökonomische Schulen als auch politische Projekte radikaler Reformen, diesmal von konservativ-neoliberaler Seite.

Der Kampfbegriff ‚Marktradikalismus‘ dient inzwischen dazu, nahezu jede Liberalisierungsagenda zu delegitimieren. Siehe dazu jüngst die französische Diskussion um Macrons Rentenreform oder die Agenda der deutschen Wirtschaftsministerin Reiche, wo die Sachverständigen auch auf das Vorbild Milei Bezug nehmen.

Die politischen Glaubenskämpfe um die Weltrettung nehmen zu, während sich die Krisen zuspitzen.

2. Marktradikalismus

Heißt keine ökonomische Schule, sondern ein reiner Kampfbegriff, um Liberalisierungsagenden erst gar nicht sachlich und differenziert diskutieren zu müssen. Er impliziert eine Marktlogik als ideologischen Selbstzweck, gegenüber dem soziale Rücksichtnahmen bedeutungslos geworden sind.

Als Beispiel gilt der Ökonom und Staatspräsident von Argentinien seit 2023 Javier Milei. Der Mann mit der Kettensäge hat Erfolg, nachdem Peronisten jahrzehntelang eine Karikatur von Wohlfahrtsstaat alimentiert haben. Musk und andere versuchen ihn ihrerseits für eine radikale ‚Staatsreform‘ unter Effizienzgesichtspunkten zu imitieren.

3. ‚Schöpferische Zerstörung‘ (Joseph Schumpeter 1942)

Schumpeters Begriff hingegen ist nicht polemisch gemeint, sondern beschreibt einen theoretischen Kernbegriff seiner wirtschaftlichen Entwicklungstheorie. Kapitalismus ist nicht krisenfrei, weshalb Krise und Kritik zusammengehören.

Oder liberal formuliert – ewig handlungsoptimistisch – Krisen sind Lernprozesse. Danach ist die ökonomische und politische Welt jeweils eine andere. Aber Krisenausgänge sind kontingent, und das hat viel mit Politik und der Lösung von Orientierungsproblemen, mithin auch mit strukturell antitotalitärer Philosophie, die auf Verfahren, Pluralität und Selbstkorrektur setzt, zu tun.

Schumpeter beschreibt in seinem wichtigen Werk „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“ (1942) schöpferische Zerstörung als inneren Mechanismus kapitalistischer Dynamik: Innovation zerstört alte Strukturen (Strukturwandel) und schafft neue Märkte, Technologien und Berufe. Ostdeutschland erlebt inzwischen schon den zweiten Strukturwandel.

Zerstörung ist hier funktional und nicht moralisch gemeint: Sie ist der Preis des Fortschritts, während die Empörten als „Bremsklötze des Fortschritts“ herabgesetzt werden können. In der medizinischen Krebsforschung spricht man sogar von „rasanten Fortschritten“. Der neuzeitliche wissenschaftlich-technische Fortschritt mit seinen Nebenfolgen und Steuerungsproblemen bleibt mithin das erste Orientierungsproblem.

Die diesjährigen Nobelpreisträger für Wirtschaft haben für die weitere Erforschung des Schumpeterschen Mechanismus ihren Preis erhalten. Wachstum und die dafür nötige

Wettbewerbsfähigkeit stehen zuoberst auf der Agenda auch der deutschen Bundesregierung. Daran will sie ihre Regierbarkeit messen lassen.

In der politischen Rhetorik wurde daraus freilich auch ein Euphemismus für Arbeitsplatzabbau und Globalisierungsfolgen („disruption before it’s cool“).

Ursprünglich ein analytischer Begriff, wird schöpferische Zerstörung so ein wirtschaftspolitisch ideologisch aufgeladener Begriff, der vom nächsten neuen Schlagwort, das gängig wird, noch überholt wird. Das demonstriert die enorme Dynamik, der heute standzuhalten ist.

Aus Chaos entsteht Ordnung, aus Angst Fortschritt.

Die Botschaften des Liberalismus sind wenig tröstlich, man muss ihn aushalten können.

4. Disruption

Kommt ideengeschichtlich aus der Management- und Technologientheorie (Clayton Christensen, The Innovation’s Dilemma 1997).

Gemeint war damit, dass kleine Akteure große verdrängen, weil sie billiger, flexibler und technologiesmarter sind.

Disruption wurde dadurch zum Mythos der digitalen Moderne.

Alles, was stört, gilt als fortschrittlich – das sind die kreativen Störenfriede.

Der neue kulturelle Code lautet: Fortschritt ist Regelbruch und die moralische Entschuldigung für soziale Nebenfolgen, die ebensowenig interessieren wie die Techniknebenfolgen. Dafür gibt es die neue Religion der Technologieoffenheit. Technik und Religion haben ihre Plätze vertauscht, siehe den Blog vom 18. Oktober.

Diese Zerstörung ist allerdings nicht immer kreativ, doch sie wird zur Tugend verklärt.

Als der „große Disruptor“ wird Milei gefeiert (‚Cicero‘), von dem die braven Liberalen hierzulande, die seit dreißig Jahren von schlankem Staat und Bürokratieabbau reden, sich gerne eine Scheibe abschneiden möchten.

Nach Trump war er der zweite Mann des Jahres 2024, auf den dritten Plätzen folgen Musk und Thiel – Veränderung genug auf einmal, würde man meinen!

Veränderung allein kann vor diesem aktuellen Vordergrund nicht mehr überzeugen, also entsteht zunehmend eine Sinnleere von Freiheit und Fortschritt.

5. Dynamik der Kampfbegriffe

Neoliberalismus und Marktradikalismus sind linke Kritikbegriffe, die Machtverhältnisse problematisieren.

Disruption und schöpferische Zerstörung sind rechte oder technokratische Selbstbeschreibungen, die abrupten schnellen Wandel bezeichnen.

Sie begegnen sich heute wie Spiegelbilder, indem es die einen als Innovation feiern und die anderen als Zerstörung des Sozialen erleben. Aktiv Handelnde und passiv Erlebende sind ungleich verteilt.

Alle Begriffe stammen aus dem Zusammenhang von Markt und moralischer Ordnung.

Oder anders gesagt: Schöpferische Zerstörung und Disruption beschreiben den Prozess, Neoliberalismus und Marktradikalismus die Bewertung desselben, und kreative Zerstörung ist das umstrittene ökonomische Scharnier zwischen beidem.

6. Ideenpolitische Linien

Seit „Revolution von rechts“ (Freyer) haben wir neue Revolutionsbegriffe kennengelernt, siehe die Blogs vom 12. und 22. September.

Unter anderem die ‚konservative Revolution‘, die eigentlich als Begriffsverbindung ein Paradoxon ist, da sich Konservative nicht als Revolutionäre verstehen, im Gegenteil. Ihre Leitbegriffe sind Tradition und Bewahrung des Bewährten.

Die Beweislastverteilungsregel lautet zugunsten des vernünftig Bewährten und steht nicht von vornherein modisch und modern für das Neue, was im Schwange ist. Die funktionale Systemtheorie spricht heute vom Konservativismus aus Komplexität.

Dennoch gibt es die Konservative Revolution von rechts, und zwar (A) in Gestalt der alten Rechten (Mohler) und (B) der Nouvelle Droite (Benoist). Der Faschismus sah sich immer auch als junge revolutionäre Bewegung, siehe den Blog vom 14.September. Er entstand in Reaktion auf die Erfahrung des Ersten Weltkrieges, dieser Urkatastrophe der Moderne.

Wir haben hier in diesem Blog auch von der konservativen Revolution von Thatcher und Reagan gesprochen, beides Leader von etablierten konservativen Parteien ihrer führenden westlichen Länder, deren erfolgreiche Präsidenten sie wurden. Vor allem im Nachhinein, aus zeitlicher Distanz, wird dies immer stärker so gesehen. Zeitlebens hatten sie nicht nur vehemente Gegner und Kritiker zuhauf, sondern auch Feinde. Attentate haben sie überlebt.

Die NZZ spricht in einem historisch fundierten Artikel (14. Oktober, S. 14/15) von Maggie Thatcher bezeichnenderweise als einer „konservativen Revolutionärin“ (C), aber nicht im Sinne von (A) und (B).

Großbritannien galt als „kranker Mann“ in Europa.

Bei Thatcher handelt es sich um „radikale Reformen“ (mit dem Besen, noch nicht mit der

Kettensäge), die allerdings mit großer Härte und Standfestigkeit (autoritärer Populismus) bis hin zum sozialen Krieg gegen die Macht der Gewerkschaften und die IRA durchgesetzt werden. Der Falklandkrieg kommt hinzu.

Thatcher und Reagan waren glühende Antikommunisten und Kalte Krieger, die zusammen mit dem wundersamen Aufstieg von Gorbatschow mit Glasnost und Perestroika in der gerontokratischen Sowjetunion die Epoche des kalten Krieges, von zugefrorener Geschichte, beendet haben. Die Geschichte beginnt wieder.

Innenpolitisch spricht Reagan davon, Amerika wieder größer zu machen, lange vor Trump auf seine Weise. Für Thatcher ist (mit Hayek) der Markt nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine moralische Instanz. Der Individualist wird zum Kapitalisten.

Die Wirkung der eisernen Lady geht gesellschaftlich so weit und so tief, dass von „New Labour“ (Blair) als „Thatcherismus mit menschlichem Angesicht“ die Rede war (so vom Historiker Timothy Ash).

Das Verhältnis von Staat und Wirtschaft hatte sich geändert und bleibt bis heute, mehr denn je, wo der Staat in Bezug auf Verteidigung und Infrastruktur wieder eine größere Rolle bekommt, der graduelle politische Hauptstreitpunkt zwischen den Parteien.

Trumps MAGA-Bewegung wiederum geht weiter, ebenso mit innen- wie weltpolitischen Auswirkungen: Sie spricht von einer „Revolution des Common Sense“ (D). Die entgrenzte präsidiale Macht setzt dabei ihre im Wahlkampf angekündigten Ziele hart und kompromisslos um, im permanenten Kampf mit den Gerichten.

Das historische Comeback hat ökonomische, politische und kulturelle Gründe.

Die Demokraten werden viel zu tun haben.

Beim argentinischen Staatspräsidenten Javier Milei (E), der neulich mit seiner libertären Partei wieder einen überraschenden Wahlsieg errungen hat, spricht man vom „großen Disruptor“ (‚Cicero‘). Er will jetzt erst recht, mit amerikanischer Rückendeckung, mit seiner radikalen Reformpolitik loslegen.

Aus ‚libertär‘ und ‚disruptiv‘ ist das neue ‚revolutionär‘ geworden, das uns in Atem hält.

Bildnachweis: Agentur Medienlabor, KI-Generierung.