Was wir in diesen Tagen in Deutschland erleben, sehen und hören, ist echter und harter Wahlkampf. Wahlkampf ist mehr und etwas anderes als Streit und Kontroverse. Ja, Kampf um die besseren Argumente, das auch, aber auch Meinungskampf um Deutungshoheit, mit Leidenschaft und Emotion, nicht herrschaftsfreier Diskurs. Die Emotionen werden im Allgemeinen unterschätzt.
Leidenschaft für die Sache und Kampf um Machtanteile und Machtverschiebungen nannte es der nüchterne Soziologe Max Weber (1919). Das gilt für Berufspolitiker genauso wie für (Berufs)-Bürger. Dies stärkt die Demokratie und schwächt sie nicht. Die Ergebnisse am 23. Februar und die Konsequenzen daraus werden wieder ein anderes Kapitel der aktuellen Demokratiegeschichte eröffnen. Demokratie ist primär verfahrensorientiert. Sie ist ein Risiko und zugleich gefährlich.
Der Wahlkampf wird zu wichtigen Entscheidungen führen, auch wenn einem die Aussicht auf ‚unmögliche‘ Koalitionen, eine schwache Regierung und einen schwachen Kanzler den Handlungsoptimismus wieder bremsen können. Gleichwohl spielt die Autosuggestion, durch Glauben und Handeln etwas erreichen zu können, eine ausschlaggebende Rolle. Ansonsten würden wir das Geschehen nur noch passiv erleben, das macht die Dichotomie von Erleben und Handeln aus.
Aber alles zu seiner Zeit! Politik und politische Theorie sind auf die Praxis bezogen. Ihre jeweilige Zeit (kairos) und die notwendigen Entscheidungen (’notwendig‘ nicht im Sinne von ‚gesetzmäßig‘) fordern konkrete Urteile heraus, die möglichst überlegt und klug sein sollten. So gesehen steht das Land Deutschland am 23. Februar tatsächlich vor einer Richtungsentscheidung, einer Entscheidung, die eine Klärung für das Land bedeutet, insbesondere in wirtschafts-, migrations- und außenpolitischer Hinsicht.
Sie ist auch überfällig angesichts der dramatischen europapolitischen und weltpolitischen Lage und Ereignisse der letzten Zeit. Ebenso ist sie geboten für eine Neudefinition des transatlantischen Verhältnisses von Deutschland, einschließlich eines neuen Freihandelsabkommens nach der weltbewegenden Wahl von Trump am 5. November 2024, der sogleich die Weltwirtschaft „anzündet“ (Spiegel, 4. Februar).
Bei seiner neuen Zoll-Schlacht könnte der Schuss für Trump allerdings auch nach hinten losgehen, selbst dem gossen Gewinner sind Grenzen gesetzt. Hybris und Polarisierung jedoch dominieren buchstäblich die Welt. Deutschland muss sich erneut oder erstmals vergewissern, was es heißt, eine „führende Mittelmacht“ zu sein und dabei die Sprache der Macht wieder lernen, und sei es nur für die eigene Verteidigungsfähigkeit.
So vieles auf einmal haben wir in der Woche vom 27. bis zum 31. Januar noch selten in Berlin und im Bundestag gesehen. Der 29. Januar war mehr als ein historischer Tag, so überladen war er. Der „Warntag der Wirtschaft“ war ein besonderer Tag. Dass die Wirtschaft auf die Straße geht und Demos veranstaltet, war ein historisches Novum. Zur selben Zeit präsentiert Wirtschaftsminister Habeck die neuesten Wirtschaftszahlen, die erneut die Stagnation belegen.
Habeck eilt an diesem historischen Tag des Auschwitz-Gedenkens, 80 Jahre nach der Befreiung durch die Sowjetarmee, mit einem Zeitzeugen aus Odessa, der „den Teufel gesehen hat“, zur Pressekonferenz über den Jahreswirtschaftsbericht, bei der gar keine Zeit mehr bleibt für kritisches Nachfragen. Danach folgt die Regierungserklärung von Kanzler Scholz und ein verbaler Schlagabtausch mit dem Oppositionsführer Merz, der als Novize selber Kanzler werden möchte. Wir sind mitten im Wahlkampf, der nach Aschaffenburg (am 23. Januar) – nach Mannheim, Magdeburg und Solingen – neu entfacht ist. Welch atemlose Zeit!
Mehrheit in der demokratischen Mitte?
Der 29. Januar war ein historischer Tag, der aufwühlte. Endlich fanden echte Debatten im Parlament statt, die im Land, den Städten und Kommunen seit zehn Jahren mit großer Heftigkeit geführt werden. Entscheidungen in der Migrationspolitik werden schon lange parteiübergreifend dringlichst verlangt, von unten, von den Bürgermeistern her: „Wir schaffen es nicht mehr“. Demokratisches Vertrauen muss vor allem von hier aus und allerorten wieder aufgebaut werden. Das ist die wahre Demokratiekrise.
Wut, die sich in den letzten Jahren in den Kommunen angestaut hat, wovon die AfD profitierte und noch profitiert, darf nicht zur Enthemmung führen (falsche Moralisierung), und heftiger Streit in der Demokratie nicht zur Feindseligkeit (falsche Polarisierung). Dieser Konflikt mitten im Wahlkampf ist ein Stresstest für die parlamentarische (Parteien-) Demokratie, die aus mehreren Gründen in der Krise steckt.
Der Normalbürger kann es am Freitag, den 31. Januar, über viele Stunden live mitverfolgen. Um doch noch einen Kompromiss in der demokratischen Mitte zu erzielen, zieht man sich im Bundestag, der nationalen Bühne der Politik, immer wieder zu Gesprächen zurück. Sind es echte Gespräche oder lediglich Scheingespräche? Haben sich die Fronten und Lager verhärtet? Ist es eine Sternstunde des Parlamentarismus, ein richtiger Vorschlag mit Zustimmung der Falschen, eine unwürdige Blockade, ein Vorschlag zur falschen Zeit? Die moralisch-politischen Urteile divergieren stark. Moralisierung und Polarisierung gehen Hand in Hand.
Im Kern geht es vor allem darum, dass die CDU unter Führung von Merz entschlossen und bereit ist, einen Mehrheitsbeschluss mit den Stimmen der Rechtsaußenpartei AfD, die behauptet, die 5 Punkte, um die es inhaltlich geht, von ihr kopiert zu haben, im Parlament herbeizuführen. Eine inhaltliche Zusammenarbeit fand vor Einreichung des Antrags jedoch nicht statt. Am Tag des Auschwitz-Gedenkens findet ausgerechnet diese Abstimmung statt. Ein Holocaust-Überlebender gibt sein Bundesverdienstkreuz zurück. Die AfD jubelt und spricht von einer „neuen Epoche“, sie verwechselt sich in ihrem Zerstörungsrausch schon mit Trump. Man muss diese Szenen nebeneinander sehen, um zu verstehen, was im Land los ist.
Am Mittwoch, wo es lediglich um Entschließungsanträge ging, und die CDU sogar eine deutliche Abgrenzung, ja Verurteilung der AfD hineingeschrieben hatte, war der „Sündenfall“ (Mützenich). Am Freitag folgt der Ernstfall, wo es um Gesetze geht, was die Aufgabe des Parlaments als Legislative ist. Die CDU scheitert knapp, nicht zuletzt aufgrund von Abweichlern in den eigenen Reihen (12), vor allem aber bei der FDP (23). Das Merkelsche Gift hat gewirkt, aber nicht sehr stark. Betroffene Gesichter bei den Verlierern. Alice Weidel höhnt: „Merz ist als Tiger gesprungen und als Bettvorleger gelandet“.
Kubicki spricht von einem „blamablen Abstimmungsverhalten“ der FDP. Die bürgerliche Wunschkoalition, für die Armin Laschet (CDU) und Johannes Vogel (FDP) gemeinsam im Wahlkampf geworben haben, scheitert am Block von SPD und Grünen, die sich keinen Zentimeter bewegen, sich vielmehr erpresst fühlen und bei diesem „Tabubruch“ nicht mitziehen wollen. Scholz spricht davon, dass sich Merz „verzockt habe“; Weidel spricht von der „Implosion einer konservativen Volkspartei“, was viel bedenklicher ist.
Das hat Auswirkungen auf den weiteren Wahlkampf, in dem es zu neuen Polarisierungen kommt. Es wird spannend zu verfolgen sein, was dies für Merz persönlich und die CDU als Partei sowie die FDP bedeutet, die für einen Mehrheitsentscheid in der demokratischen Mitte zu vermitteln versuchte. Der lange Christian Dürr, Fraktionschef der Liberalen, wurde noch einmal größer an diesem langen parlamentarischen Tag.
Als Liberaler konnte man mit guten Gründen den fünf Punkten einer verschärften Migrationspolitik zustimmen. So auch der ehemalige Justizminister Marco Buschmann, der aus Krankheitsgründen fehlte (tagesspiegel.de, 2. Februar). Er setzte sich schon lange für mehr Kompetenzen der Bundespolizei und die Aussetzung des Familiennachzugs für subsidiär Schutzberechtigte ein.
Dürrs Hauptargument, dass eine liberale Demokratie, die frei und ergebnisoffen ist, nur dann legitimiert bleibt, wenn sie handlungsfähig ist, trifft zu. Das erwartet auch eine große Mehrheit der Bürger ganz dringlich auf den Feldern der Wirtschaft, Migration und inneren Sicherheit. Unbestritten gehören zu den Kernaufgaben des Staates Sicherheit und Infrastruktur. Der Parteienstaat als Staat im Staate ist in einer Krise. Das wiederum ist die Chance des Staates, der wenigstens funktioniert.
Am 23. Februar können Wähler sich mächtiger fühlen als sonst und ihre Ohnmachtsgefühle für einmal abstreifen. Die neue Regierung und ihr Kanzler indessen müssen stark werden angesichts der historischen Herausforderungen für das Land, eines Landes „im Niedergang“ (Weidel, Wagenknecht). Es ist ein Nachteil, dass die Gesichter einer eben erst gescheiterten Regierung (Scholz, Habeck, Lindner) den neuen intensiven Wahlkampf vor allem bestreiten sowie die medial omnipräsenten Weidel und Wagenknecht, die den „Altparteien“ (AfD) und „alten Parteien“ (BSW) das denkbar schlechteste Zeugnis ausstellen. Die Lösung durch Volksabstimmungen bei grundlegenden existenziellen Fragen steht auf der Bundesebene nicht zur Verfügung.
Der Wahlkampf ist verbunden mit einer kaum zu überbietenden Polemik gegen die CDU (AfD) und die SPD (BSW) sowie die Grünen (die „gefährlichste Partei“, Wagenknecht). Die Ränder werden dadurch stärker und die Position einer handlungsfähigen demokratischen Mitte wird zunehmend schwächer. Diese wiederum kann den erstarkenden Populismus und Extremismus, die sich, bei allen Unterschieden, die genau zu berücksichtigen sind, teils neu überlappen, nur dadurch schwächen, dass sie die Probleme löst, die den Menschen auf den Nägeln brennen. Proteste allein können das nicht, vielmehr müssen, primär nicht gesinnungsethisch, Wähler in der demokratischen Breite überzeugt werden.
Die fatale Tendenz verstärkt sich mit einer schwachen demokratischen Regierung, wobei hier viele Emotionen von Wutbürgern im Spiel sind sowie objektive Schwierigkeiten, heute überhaupt noch regieren zu können. Beides hat mehrere Gründe. Das Hauptproblem der demokratischen Regierbarkeit wird der politischen Theorie erhalten bleiben. Die ‚unmöglichen‘ Regierungs-Koalitionen von heute spielen ebenso eine Rolle wie die komplexen Problemlösungen, die Zeit brauchen und in europäischen Zusammenhängen (Asyl, Migration, Verteidigung, Technologie und Forschung usw.) mehrere Ebenen umfassen (Mehrebenenpolitik und Mehrebenendemokratie).
Denken wir etwa an die Reform des europäischen Asylsystems, die acht Jahre gedauert hat und erst 2026 wirksam werden wird, oder an eine moderne Wirtschafts- und Technologiepolitik, die mit der Entwicklung von Hochschulen und Forschung einhergeht, gerade in Ostdeutschland. Man muss warten können, was die Ergebnisse betrifft, und darf gleichwohl nicht einschlafen, weil die internationale Konkurrenz und der Innovationsdruck größer geworden sind und zur Anschlussfähigkeit und Schnelligkeit zwingen. Was muss Deutschland tun, um nicht abgehängt zu werden, lautet allenthalben die bange Frage, nicht nur bei der KI-Entwicklung.
Das Experiment der notwendigen Fortschrittskoalition ist bei allen Fehlern und Defiziten nicht an den außergewöhnlichen äußeren Umständen (Ukraine-Krieg, Energiekrise) – Deutschland ist vielmehr relativ glimpflich davongekommen-, sondern an inneren Widersprüchen gescheitert. Das kann einer neuen Koalition, und sei es eine Große Koalition, die sich offenbar viele wieder wünschen, genauso passieren. Auch bei einer Groko mit der SPD wachsen ’naturgemäß‘ die politischen Ränder. Wie aber hält man sie parteipolitisch klein bei allem Unmut, der mit den überwältigend schnellen Entwicklungen einhergeht?
In den Debatten am Mittwoch und Freitag stand mehr die AfD im Mittelpunkt als die Probleme der Migrationspolitik. Hier hätte man sich schon viel früher eine ehrliche, faktenbezogene Aussprache gewünscht. Die Fixierung auf die AfD stärkt diese, zumal wenn der Kampf gegen sie mit alten historischen Mustern des ‚Antifaschismus‘ geführt wird. Gleichzeitig wird zum falschen Zeitpunkt im Bundestag über ein Parteiverbot diskutiert. So gelingt es nicht, die AfD zu verkleinern, sie wird im Gegenteil immer stärker, ohne selbst viel tun zu müssen.
Das ist eine Kapitulation der demokratischen politischen Auseinandersetzung, obwohl man von der Wirtschaftsseite her sachlich kompetente Unterstützung erhält, die in diesem Ausmaß selten ist und sich eigentlich breit auswirken müsste, denn es geht ja um den Wohlstand und das Wohlergehen von allen. Die Wirtschaft ist dafür nicht nur für Marxisten, sondern auch und vor allem für die Sozialliberalen die Basis, denn auch der Sozialstaat als Bedingung der Demokratie muss finanziert werden. Es geht mittlerweile tatsächlich um den Standort Deutschland, gleich in mehrerer Hinsicht.
Die AfD will die bürgerlich-konservative CDU „zerstören“. Zum ersten Mal habe ich das von Andreas Kalbitz gehört, der in Brandenburg ein Zögling von Alexander Gauland war. Gauland gehörte schon zur AfD als eurokritische Professorenpartei, die nach Bernd Lucke, die wegen des Bruchs von europäischem Recht durch Angela Merkel gegründet worden ist (FAZ, 3.2.2025, S.12). Ihre Kanzlerschaft trägt mithin eine zweifache Mitverantwortung für den Aufstieg der AfD.
Nach der Politik der offenen Grenzen 2015 radikalisierte sich der bürgerlich-konservative Gauland und mit ihm die Partei, deren Integrationsfigur er blieb. So begann seine erfolgreiche politische Rache an der Partei, in der er 40 Jahre Mitglied war. Daraus ist inzwischen die schärfste politische Polarisierung in der deutschen Politik geworden, welche sogar die demokratische Stabilität der Bundesrepublik bedrohen könnte, die vor Kurzem noch von Historikern als „ultrastabil“ beschrieben worden ist. Es geht also um viel am 23. Februar.
Ein anderer Rachefeldzug, der politisch überraschend schnell, vor allem in Ostdeutschland, erfolgreich geworden ist, kommt von Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht. Das BSW, gegründet im Januar 2024 gegen ‚Die Linke‘, das organisatorisch noch kaum eine richtige demokratische Partei ist, sitzt bereits in der Regierung in Brandenburg und Thüringen. Aus dem Stand hat sie diesen großen Sprung im Dezember 2024 geschafft, was bemerkenswert ist und zugleich bezeichnend für den Zustand der realen Parteiendemokratie in Ostdeutschland.
Ob das BSW, das bald umbenannt werden muss, auch auf der Bundesebene erfolgreich wird, ist noch offen, jedenfalls gibt es dort wieder eine Konkurrenz mit der Linken, die mit den respektablen „Silberlocken“ Gysi, Ramelow und Bartsch über Direktmandate in den Bundestag kommen will. „Linke Argumente“ sollen im Bundestag bleiben, lautet die Begründung.
Die neue Kompromissfähigkeit nach dem 23. Februar wird von den Abständen bei der Wahl abhängen. Jedenfalls hält Merz am 3. Februar schon wieder, nach den harschen persönlichen Vorwürfen im Parlament, in der Öffentlichkeit und auf den Straßen („Herz statt Merz“) eine klare und starke Rede, die seine Vorstellungen einer neuen „gerechten Leistungsgesellschaft“, mit denen er seinen Wahlkampf begonnen hatte (am 6.1., zum 149. Geburtstag von Konrad Adenauer) noch einmal erläutern. Er bleibt standhaft und kämpferisch. Der Parteitag der CDU in Berlin steht vor allem im Zeichen der Wirtschaft.
Die Gästeliste zeigt es. Der Gottesdienst am Morgen zeigt zudem etwas Zweites, nach den Angriffen der Kirchen auf die Merzsche Asylpolitik, die unter Christen umstritten ist. Im neuen Grundsatzprogramm 2024 wurde wieder das ‚christliche Menschenbild‘ ins Zentrum gerückt. Auf die neue Parteibezeichnung ‚Die Mitte‘ wurde bewusst verzichtet. Bloß surfen auf den Wellen des sogenannten Zeitgeistes wollte und will man nicht. Das war, richtig! Auch nicht die herausragende Eigenschaft von Adenauer, Erhard und Kohl, welche die entscheidenden Weichen der neuen Bundesrepublik gestellt haben auf ihrem Weg nach Westen. In dieser Reihe möchte sich Merz gerne sehen.
Die CDU beschließt am 3. Februar ein Sofortprogramm für die ersten hundert Tage, um drei Wochen vor der Wahl geschlossen-entschlossen Regierungsfähigkeit zu demonstrieren. Der persönliche Beifall für Merz ist groß. Generalsekretär Carsten Linnemann verweist stolz auf das neue Grundsatzprogramm und nennt die letzte Regierung „die schlechteste in der Geschichte der Bundesrepublik“. Söder greift in seiner Gastrede Scholz und Habeck persönlich scharf an und hält es für falsch, nach einem solchen Scheitern noch einmal anzutreten: „Sie sollen abtreten“. Er sieht Merz gestärkt aus der letzten Januarwoche hervorgehen, was ihm abzunehmen ist. Sein Verhältnis zu Merz ist ein anderes als zu Laschet bei der letzten verlorenen Wahl.
Die Hauptdifferenz sieht Merz in seiner Rede grundsätzlich zwischen der Staatsgläubigkeit von SPD und den Grünen und den Rahmenbedingungen für eine freie Marktwirtschaft. Auch in der Klimapolitik sieht er planwirtschaftliche Vorstellungen. Das europäische und nationale „Bürokratiemonster“, von dem er explizit spricht, will er in den Griff bekommen und ein eigenes Digitalministerium einrichten. Die EU soll bei den großen Themen stark sein und nicht bei der kleinteiligen Überregulierung. Auch das treibt europaweit viele Bürger mit guten Gründen zu den Rechten.
Die Partei hat Merz für die letzten drei Wochen „Wirtschaft first“ begeistert hinter sich versammeln können. Schon im Sommer soll wieder Zuversicht aufkommen im Land. „Zuversicht“ wollen auch die Grünen verbreiten: Zuversicht und Zusammen heißt es auf ihren großen Plakaten. Habeck präsentiert am selben Tag (3.2.) seinen Asylplan mit kleinen Verschärfungen („Sicherheitsoffensive“) und bietet der CDU schon wieder die Koalitionsmöglichkeit an, während vorerst das Tischtuch zwischen SPD und CDU zerschnitten scheint. Sie führen immer noch das Kanzlerduell, in dem Scholz und Esken Merz die Kanzlerfähigkeit absprechen.
Die Sozialdemokratie als Partei verblasst dahinter etwas. Scholz agiert zwar noch als seriöser, schwacher Kanzler, aber womit punktet die Partei? Mit dem Versprechen für stabile Renten, wobei die Drohung der Altersarmut gerade akut ansteigt? Und das zusammen mit den steigenden Mietpreisen. Das sind soziale Themen, die allen auf den Nägeln brennen. Gewinnt die SPD mit einer verlässlichen Außenpolitik? Ihrer Industriepolitik? Ist sie nur noch für ältere Menschen überzeugend? Veraltet die historische Sozialdemokratie endgültig, nachdem schon lange, vielleicht etwas vorschnell, das „Ende des sozialdemokratischen Zeitalters“ (Dahrendorf 1983) ausgerufen worden ist.
Es kann sein, dass die Sozialdemokratie eine historische Schlappe erleidet, was ich ihr nicht wünsche, und die Christdemokratie einen Pyrrhussieg erringt, bei dem die AfD erneut gestärkt hervorgeht, ähnlich wie Woidkes SPD in Brandenburg. Das Regieren in Koalitionen wird ohnehin schwierig werden. Eine Minderheitsregierung unter Duldung der AfD und eine Volksabstimmung wird es in Deutschland jedoch nicht geben, da bin ich mir ausnahmsweise ziemlich sicher.
Merz-Projekt ist und bleibt aber fragil. Außerdem nimmt sich die FDP mit Lindner derzeit selbst aus dem Rennen. Das ist schade, denn die Liberalen haben wie immer ein paar kluge Köpfe, welche viele andere Berufspolitiker übertreffen. Christian Lindner gönne ich die Elternzeit, in die er sich jetzt verabschieden sollte: Es ist die schönste Zeit im Leben!
Am 23. Februar hat der Wähler wieder einmal das Wort und kann seine Ohnmacht für einen Moment abstreifen, das ist ebenso positiv wie der Wahlkampf, der Fahrt aufgenommen hat.
Bildnachweis: Heinz Kleger