„Demokratie ist anstrengend“

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Interview in den Potsdamer Neueste Nachrichten, 3. Juli 2020

Herr Kleger, der Beteiligungsrat hat nun die neue Broschüre „Potsdam aktiv mitgestalten“ herausgebracht, um über die Angebote der Bürgerbeteiligung in Potsdam zu informieren. Warum ist Aufklärung darüber so wichtig?

Die neue Broschüre gibt einen verständlichen Überblick über die Beteiligungsangebote der Stadt. Diese sind in den letzten zehn Jahren nicht nur zahlreicher, sondern auch vielfältiger geworden. Aber kaum jemand kennt sie alle. Aus demokratischer Sicht ist es aber wichtig, alle Kanäle zu kennen, wie Einwohnerinnen und Einwohner ihren Anliegen Gehör und Beachtung verschaffen können.

Wie werden die Angebote der Bürgerbeteiligung bisher angenommen?

Der Bürgerhaushalt ist mittlerweile stadtbekannt. Daran beteiligen sich inzwischen mehr als 17 000 Einwohnerinnen und Einwohner. Das ist eine beachtliche Zahl. Der Beteiligungsrat ist öffentlich noch nicht so bekannt. Erst seit der Coronakrise ist er bekannter geworden, vor allem über die digitalen Angebote. Auch das Stadt Forum Potsdam ist eine wichtige Institution. Dort wurde schon über viele wichtige Themen gesprochen. Als es zum Beispiel um das Stadtschloss ging, war der Saal voll. Am 18. Juni wurde in der 67. Sitzung über die Folgen der Coronakrise für die Stadtentwicklung diskutiert. Es war eine Premiere, dass die Veranstaltung online übertragen wurde. Alles hat funktioniert, das hat mich sehr beeindruckt.

Wie ist der Beteiligungsrat entstanden?

Seit 2010 habe ich zusammen mit Jann Jakobs und vielen anderen ein Konzept zur Bürgerbeteiligung entwickelt. In der Bevölkerung wurde der Wunsch nach mehr Beteiligung immer stärker. 2013 hat dann das Modellprojekt „strukturierte Bürgerbeteiligung“ begonnen, zusammen mit der Verwaltung, der zivilgesellschaftlichen Werkstatt für Beteiligung und dem Beteiligungsrat. In dem Zuge sind auch die Beteiligungsgrundsätze entstanden. Es geht vor allem um eine verbesserte Zusammenarbeit zwischen Politik, Verwaltung und Bürgerschaft. Alle Seiten können voneinander lernen. Die mehrheitlich ehrenamtlichen Bürgerinnen und Bürger im Beteiligungsrat haben das Projekt mitaufgebaut und in mehr als 70 Sitzungen mit professioneller Moderation viele Impulse gegeben. Der Beteiligungsrat ist dadurch ein Ort für konstruktive Debatten geworden.

Bei welchen Themen ist der Wunsch nach Beteiligung besonders groß?

Wenn es um die Gestaltung des eigenen Stadtteils geht – ob Potsdam-West, Babelsberg oder Bornstedt. Auch beim ökologischen Umbau von Drewitz hat die Einbeziehung der Bewohner eine wichtige Rolle gespielt. In Potsdam sind die Stadtteile sehr aktiv. Deshalb gibt es jetzt auch die Stadtteilspaziergänge mit dem Oberbürgermeister und die dazugehörigen Stadtteildialoge, die ausgewertet werden. Mike Schubert ist Bürgerbeteiligung wichtig, was die angekündigten Bürgerdialoge zum Stadtkanal und dem Staudenhof erneut unterstreichen.

Bei welchen Projekten hatten Bürgerinnen und Bürger einen maßgeblichen Einfluss?

Das Bürgerbegehren für faire und gerechte Löhne für die Mitarbeiter des Bergmann-Klinikums war erfolgreich. Das war ein enormer Aufwand, aber die Stadt hat das Bürgerbegehren angenommen. In den einzelnen Stadtteilen läuft viel Neues. Zum Beispiel die Einbeziehung der Jugendlichen bei einem Schulhausneubau im Potsdamer Norden. Das finde ich toll. Oder das Demokratiedenkmal, das zur Erinnerung an die große Demonstration 1989 auf dem Luisenplatz errichtet werden soll. Die Bürger sind aktuell dazu eingeladen, im Kunsthaus sans titre zu partizipieren, mitzudiskutieren und mitzugestalten. Es soll eine Installation mit Schuhabdrücken entstehen.

Hat es auch Nachteile, wenn Bürgerinnen und Bürger viel Mitspracherecht haben?

Demokratie ist anstrengend, vielstimmig und konfliktreich. Darauf muss man sich einlassen, wenn man mehr Beteiligung haben möchte. Das braucht viel Zeit und Geduld. Das unterschätzen auch viele Menschen, die etwas fordern, aber sich nicht entsprechend dafür einsetzen wollen. Wenn es zum Beispiel darum geht, Unterschriften zu sammeln. Und es bringt nicht immer das, was man sich erhofft hat. Letztendlich müssen die Bürger auch selbst einschätzen, was sie sich zutrauen und was sie besser delegieren.

Gibt es solche Konzepte der Bürgerbeteiligung auch in anderen Städten?

Die Idee des Bürgerhaushalts stammt ursprünglich aus der südbrasilianischen Millionenstadt Porto Alegre und weckte weltweit Hoffnungen. Das Stadtforum wiederum hatte seine große Zeit in Berlin nach der Wende. In Deutschland kenne ich keine andere Stadt, die all das zu bieten hat.

Den Originalbeitrag in den Potsdamer Neuesten Nachrichten (PNN) finden Sie unter diesem Link: https://www.pnn.de/potsdam/interview-politologe-heinz-kleger-demokratie-ist-anstrengend-vielstimmig-und-konfliktreich/25974846.html